Skizzen aus deutschen Parlamentssälen/1. Einleitung: Die parlamentarische Maschinerie

Textdaten
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Autor: Max Albert Klausner
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Titel: Skizzen aus deutschen Parlamentssälen/1. Einleitung: Die parlamentarische Maschinerie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 752–754
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Skizzen aus deutschen Parlamentssälen.
1. Einleitung: Die parlamentarische Maschinerie.
Von M. A. Klausner.


Eine Versammlung von mehreren Hundert Personen, mit der Erledigung der wichtigsten und schwierigsten Geschäfte beauftragt, bildet einen Mechanismus, der bis in’s Kleinste geordnet sein muß, wenn die Lösung der gestellten Aufgaben nicht aussichtslos erscheinen soll. Die Nothwendigkeit einer solchen Ordnung ist in noch höherem Grade vorhanden bei einer parlamentarischen Körperschaft, deren Mitglieder nicht nach ihrem Werthe gewogen, sondern nur gezählt werden. Innerhalb der vier Mauern des Parlamentes giebt es keinen anderen Rang, als den eines Abgeordneten, und neben dem zu gänzlicher Bedeutungslosigkeit herabgesunken Doctortitel hat der Parlamentarier als solcher keinen Anspruch auf irgend ein im bürgerlichen Leben ihm zustehendes Prädicat. Der Minister und der Amtsrichter, der fürstliche und der bäuerliche Grundbesitzer, der Commerzienrath und der Cigarrenarbeiter, sie Alle sind in ihrem volksvertreterischen Berufe nichts als „Abgeordnete“. Auf diese Weise bildet die gesetzgebende „Elite der Nation“, unbeschadet der Berechtigung zur Führung dieses Ehrentitels, eine Gesellschaft, wie sie gleich „gemischt“ in keiner anderen öffentlichen Versammlung zu finden ist.

Und doch könnte diese gemischte Gesellschaft als eine Verwirklichung des socialistischen Gleichmacherei-Ideals gelten; denn so bereitwillig auch das bessere Wissen, das größere Geschick und das höhere Verdienst einzelner Koryphäen anerkannt wird, würde es doch nie und nimmermehr Jemandem einfallen, irgend einem Abgeordneten auf Grund der eben genannten Vorzüge mehr einräumen zu wollen, als eine einzige Stimme. Bei den Abstimmungen wird eben nur gezählt, und wer in der Minderheit geblieben ist, schätzt darum das Gewicht seiner Stimme um nichts geringer, als eine Stimme aus dem obsiegenden Theile. Der Stahl’sche Ausspruch „Autorität, nicht Majorität“ ist aus dem bewußten Gegensatz zum Parlamentarismus hervorgegangen und kann keinen schärferen Gegensatz als den Parlamentarismus jemals finden. Gleichwohl sind gesetzgebende Körperschaften nicht in der Lage, der Autorität im Stahl’schen Sinne gänzlich entbehren zu können; denn die Majoritäten schwanken, und wer heute in der Mehrheit ist, muß doch darauf bedacht sein, auch der Minderheit Rechte einzuräumen, schon weil er selbst sehr bald die bittere Frucht der Rechtlosigkeit zu kosten bekommen könnte.

Es liegt im Wesen des Parlamentarismus, daß die Mehrheit immer Recht haben muß und daß sie bestimmen darf, was Rechtens sein soll. Hier ist ein gewisses Gegengewicht einzuschalten, wenn man nicht haben will, daß von heute zu morgen mit den Majoritäten auch das Recht wechsele. Dieses Gegengewicht bietet die Geschäftsordnung, welche zu einem Theile dazu dienen soll, die äußeren Formen des Berathungsverfahrens festzustellen, zum anderen, wesentlicheren Theile aber den Zweck hat, die Minoritäten zu schützen. Dem Schutze der Minoritäten dient auch eine gewisse Tradition, welche ungeschrieben die Geschäftsordnung ergänzt. Allerdings giebt es auch eine Tradition, welche ungeschrieben die Geschäftsordnung durchbricht, und hierin ebenso wie in dem leidigen, unvermeidlichen Umstande, daß es doch immer die Mehrheit ist, welche die Geschäftsordnung handhabt, liegt die gar nicht abzuweisende Gefahr, es möchte in erregten Zeiten der Schutz der Minorität sich als wirkungslos erweisen.

Im Großen und Ganzen aber hat in den Parlamenten Deutschlands und Preußens noch immer ein guter Sinn für Gerechtigkeit geherrscht, und hier wäre die Klage nicht berechtigt, welche einmal in trüber Zeit im österreichischen Abgeordnetenhause laut wurde: daß Billigkeit nur noch vom Zufall des Looses erwartet werden dürfe.

Dieser trübe Gedanke schwebte wohl den ersten Schöpfern der modernen parlamentarischen Ordnung vor; denn das ganze System der vorberathenden Commissionen baut sich auf den sieben Abtheilungen auf, deren Zusammensetzung einzig das Loos bestimmt. Am ersten Tage einer Session würfelt die unbestechliche Urne die Namen sämmtlicher als anwesend gemeldeten Abgeordneten durch einander und theilt sie möglichst gleichmäßig den sieben Abtheilungen zu, welche nach dem Buchstaben der Geschäftsordnung die engeren Wahlkörperschaften des Parlamentes bilden. Schon bei der Constituirung der Abtheilungen selbst zeigt sich jedoch, daß über der scheinbaren Souveränetät der letzteren eine geheimnißvoll dirigirende Macht steht; denn seltsamer Weise trifft es sich stets, daß die vierzehn Männer, welche als Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende an der Spitze der sieben Abtheilungen stehen, in reducirtem Maßstabe genau das Stärkeverhältniß der parlamentarischen Parteien ebensowohl im Reichstage wie auch im preußischen Abgeordnetenhause wiedergeben, und daß die schwächsten parlamentarischen Gruppen bei den vierzehn Schriftführerposten der Abtheilungen einen Ersatz finden für ihre Ausschließung von den bevorzugteren Ehrenstellen. Wie viele Abtheilungsschriftführer dazu gehören, um einen Abtheilungsvorsitzenden aufzuwiegen, und in welchem Werthverhältnisse die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter zu einander stehen – das ist ein Capitel aus der Lehre von den Imponderabilien, zu dessen Ergründung Niemand berufen ist, der nicht den culturhistorischen Arbeiten des Senioren-Convents einmal beigewohnt und daran Theil genommen hat.

Der Senioren-Convent ist nämlich jene geheimnißvoll dirigirende Macht, die sich in unverbrüchlicher Tradition das Amt angemaßt hat, über die parlamentarischen Ehrenstellen zu verfügen. Kein Paragraph der Geschäftsordnung kennt den Namen des Senioren-Convents; es fehlt ihm jeder officielle Charakter, und doch entscheidet er inappellabel über alle Einrichtungen, welche der tägliche Bedarf der gesetzgebenden Körperschaften erfordert. Er besteht aus je zwei bis drei Vertretern jeder Fraction, und zwar nicht, wie der Name vermuthen lassen könnte, aus den ältesten, sondern vielmehr aus den erfahrensten und schneidigsten Mitgliedern der Fractionen. [753] Ihre Vollmacht ist eine unbegrenzte, Bündnisse und Cartellverträge abzuschließen; ihre Instruction beschränkt sich einzig auf die Weisung, der eigenen Fraction möglichst große Vortheile zuzuwenden. Der Senioren-Convent faßt keine Mehrheitsbeschlüsse, sondern ist bestrebt, Einhelligkeit zu erzielen. Das gelingt freilich nicht immer, und nach Erschöpfung der freien Ueberredungskünste kommt es dann zum Stimmkampfe im Plenum, bei welchem allein die brutale Zahl entscheidet.

Die calculatorische Arbeit des Senioren-Convents bezüglich der Vertheilung der Commissionsmitgliedschaft an die einzelnen Fraktionen und Gruppen ist namentlich deshalb eine schwierige, weil Rücksichten der Billigkeit nicht ganz außer Acht gelassen werden dürfen. Es giebt „Wilde“, das heißt außer jedem Fractionsverbande stehende Abgeordnete, welche sich für bestimmte Specialitäten ausgebildet haben und daraus den Anspruch auf einen Sitz in der betreffenden Commission herleiten. Es giebt ferner Gruppen von politisch nicht genau zu rubricirender Farbe, welche der Zahl nach zu schwach sind, um für sich allein in Action treten zu können, und welche deshalb Anschluß an eine befreundete Gruppe nehmen.

Die Mitgliederzahl der beiden Gruppen wird alsdann summirt, und ein besonderes Abkommen zwischen ihnen regelt den Antheil, welcher auf die schutzsuchende Gruppe entfallen soll. Es ist schon vorgekommen, daß solche Schutzgruppen, wie wir sie nennen möchten, zwei Patrone zugleich suchten und fanden, und daß im Senioren-Convent demzufolge zwei Parteien mit dem Anspruche auftraten, im Namen und Interesse derselben dritten zu agitiren. Die reichsländischen Autonomisten beispielsweise wurden seiner Zeit vom Fortschritt ebenso wie von den Nationalliberalen mit Beschlag belegt.

Bei der Fülle der Partei-Unterschiede, deren wir uns erfreuen, ist es natürlich, daß das Divisionsexempel nur in den seltensten Fällen „rein aufgeht“. Hier wird der Ausweg beliebt, einen Turnus eintreten zu lassen, so zwar, daß in vorher bestimmter Reihenfolge eine Commissionsstelle erst einer, dann einer zweiten, einer dritten Fraction und so weiter zur Verfügung gehalten wird. Dabei tritt die Laune des Zufalls wieder in ihr volles Recht; denn der Zufall fügt es, ob das Mehrgewicht einer einzelnen Commissionsstimme in bedeutungsvoller oder in gleichgültiger Angelegenheit in die Wagschale fällt; denn wenn auch zuletzt das Plenum an die Vorschläge der Commissionen nicht gebunden ist, so ist doch das Plenum oft ebenso bequem wie souverain, und die Vorentscheidung der Commissionen bleibt meistens maßgebend. Sind es doch gerade die wichtigsten Details, die eingehendsten Aufschlüsse seitens der Regierungsvertreter, die einzig in den Commissionen zur Sprache kommen können.

Hat nun der Senioren-Convent seines schwierigen Amtes gewaltet, so ist für die ganze Dauer der Session der Antheil stimmlichen Einflusses geregelt, welchen die einzelnen Fractionen bei den Vorberathungen zu üben haben. Die Abtheilungen, welche dem Namen nach die Wahlkörperschaften für die Commissionen bilden, handeln nun nach dem Geheiß der Fractionen; sie „wählen“ diejenigen Mitglieder, welche von diesen bezeichnet worden sind. Die eigentliche Wahl geht in den Fractionen vor sich, die von Fall zu Fall ihre Special-Autoritäten delegiren. Handelt es sich um provinzielle Angelegenheiten, so darf man sicher sein, daß jede Fraction diejenigen Mitglieder entsendet, welche in der betreffenden Provinz ihren Wahlkreis haben, und oft genug kommt es dann vor, daß eine solche Commission ein förmliches Provinzial-Parlament bildet, in welchem die Partei-Unterschiede vor der Rücksichtnahme auf locale Interessen verschwinden. So präsentirte sich in der letzten Session des preußischen Abgeordnetenhauses die Commission, welche über einen Gesetzentwurf wegen der vormals kurhessischen Waldnutzungen die Vorentscheidung hatte, dem Plenum als ein einig Volk von Brüdern, deren sonst so getheiltes politisches Glaubensbekenntniß sich hier zu einem rein hessischen verschmolzen hatte.

Es liegt auf der Hand, daß ein derartiges Verhältniß arge Schattenseiten hat, und es mag als ein Zeichen für den gesunden Sinn und für die Gewissenhaftigkeit unserer Parlamente aufgefaßt werden, daß das Plenum meist Correctur zu üben wußte. Immerhin kann es unter Umständen bedenklich werden, wenn die Vorprüfung wichtiger Fragen stets den Männern überlassen wird, welche, zuweilen auf ziemlich uncontrollirbare Weise, bei ihren näheren politischen Freunden in den Ruf eines Fachverständnisses gekommen sind und diesen Ruf manchmal nur durch ihren eigenen treuherzigen Glauben an dessen innere Begründung aufrecht erhalten. Das muß aber mit in den Kauf genommen werden, da unsere Abgeordneten nicht alle universelle Köpfe sein können, und die meisten von ihnen, nach einem Bismarck’schen Aussprache, gezwungen sind, in Fachfragen sich nach der Autorität eines politisch gesinnungsverwandten Fachmannes zu richten.

Einmal ist es vorgekommen, daß eine Abtheilung dem Senioren-Convent Trotz bot, vor zwei Jahren, bei der Wahl der Commission zur Vorberathung des Socialistengesetzentwurfes. Eine von den einundzwanzig Mitgliedstellen war vom Senioren-Convent Herrn Bebel zugedacht worden, damit ein Vertreter der socialdemokratischen Abgeordneten in der Commission Sitz und Stimme habe. Die betreffende Abtheilung aber, überwiegend aus conservativen Herren bestehend, machte von ihrem geschäftsordnungsmäßig ganz unbestreitbaren, einzig durch die Tradition außer Uebung gekommenen Wahlrecht Gebrauch und schickte an Stelle des Herrn Bebel Einen der Ihren. Dieser Vorfall machte in parlamentarischen Kreisen um so peinlicheres Aufsehen, als die eine Stimme wohl hätte entscheidend sein können, und als man sich sagen mußte, daß die Correctur des Zufalls, an dessen Stelle die Verabredungen des Senioren-Convents die Regeln der Gerechtigkeit und Billigkeit setzten, nur dann sich rechtfertigen lasse, wenn diese Verabredungen unbedingt respectirt würden.

Da, wie bereits erwähnt, die sieben Abtheilungen wenigstens der Form nach die Wählkörperschaften für die Commissionen bilden und selbstredend jede Abtheilung eine gleiche Anzahl Mitglieder zu benennen hat, so ergiebt sich, daß die Commissionen sämmtlich eine durch sieben theilbare Mitgliederzahl haben. Je nach der Schwierigkeit und der Menge der Arbeit, welche einer Commission zugetheilt wird, steigt ihre Zahl von sieben auf vierzehn, einundzwanzig und – für die complicirtesten Arbeiten – auf achtundzwanzig. Darüber hinaus geht man nicht, weil sonst die Commission selbst wieder ein Parlament und schwerfällig wie ein solches werden würde. Schon bei achtundzwanzig Mitgliedern stellt sich oft die Nothwendigkeit heraus, Subcommissionen – beispielsweise zur Redaction der Beschlüsse– zu ernennen.

Man unterscheidet Fach- und Specialcommissionen, von denen erstere, auch ständige Commissionen genannt, bei Beginn jeder Session zur Vorberathung der regelmäßig wiederkehrenden Aufgaben, letztere von Fall zu Fall aus besonderen Anlässen, für bestimmte Gesetzesvorlagen gewählt werden. Zu ersterer Kategorie gehören die Commissionen für Petitionen, Unterrichtswesen, communale Angelegenheiten, landwirthschaftliche Dinge, Budget, Rechnungslegung, Justizwesen, Wahlprüfungen und Geschäftsordnung.

Die Wahlprüfungscommission hat die Gültigkeit derjenigen Abgeordnetenmandate zu untersuchen, gegen deren Wahlen Proteste eingelaufen sind. Ob solche Proteste vorliegen und wenigstens formal begründet sind, darüber befinden in erster Reihe die Abtheilungen selbst, von denen zu diesem Zweck die erste sich die Wahlacten der zweiten, die zweite diejenigen der dritten vorlegen läßt, und so fort bis zur siebenten Abtheilung, welche die Wahlacten der ersten nachsieht. Ist gegen die Gültigkeit einer Wahl Protest erhoben, so gehen die betreffenden Wahlacten an die Wahlprüfungscommission, welche ihrerseits an das Plenum Bericht erstattet und entweder Gültigkeitserklärung oder Beanstandung oder Ungültigkeitserklärung des Mandats beantragt. Die Beanstandung einer Wahl läßt dem betreffenden Abgeordneten Sitz und Stimme im Parlamente, bis weitere amtliche Erhebungen eine definitive Entscheidung nach der einen oder anderen Richtung hin ermöglichen. Selten nur wartet ein Abgeordneter, dessen Mandat die Wahlprüfungscommission für ungültig zu erklären beantragt hat, den Spruch des Parlaments ab; er kommt gewöhnlich der Ausschließung durch freiwillige Niederlegung des Mandats zuvor. Dagegen geschieht es sehr häufig, daß die Vorschläge der Wahlprüfungscommission erst spät an das Plenum gelangen, und so ist es bereits wiederholt vorgekommen, daß „freiwillige“ Mandatsniederlegungen der erwähnten Art am vorletzten oder gar am letzten Tage einer Session erfolgten, während deren ganzer Dauer der Inhaber des ungültigen Mandats mitberathen und mitgestimmt hatte.

Die Geschäftsordnungs-Commission ist die wenigst beschäftigte unter Allen. Jahre vergehen, ehe sie nöthig hat, eine andere als die constituirende Sitzung zu halten. Ihre Mitglieder sind [754] zumeist sehr würdige Herren, welchen man nur eine sehr leichte Arbeitsbürde zuweisen will, und lustig genug war es, als diese Idylle durch die Vorlage des vielberufenen „Maulkorbgesetzes“ gestört wurde. Die Geschäftsordnungs-Commission war nicht wohl zu umgehen; man mußte ihr den Entwurf zur Prüfung überweisen. Als vorzugsweise sachverständig wurden die drei Reichstagspräsidenten zu außerordentlichen Mitgliedern ad hoc der Geschäftsordnungs-Commission gemacht, den älteren Mitgliedern der letzteren aber wurde es einigermaßen unheimlich in den veränderten Umständen, welche an Stelle des würdevollen far niente eine verantwortungsreiche und schwierige Arbeit gesetzt hatten, und die Mehrheit schied aus, um rüstigeren Parlamentariern Platz zu machen. Das wäre im Grunde nicht einmal nöthig gewesen; denn die „Maulkorbvorlage“ blieb begraben.

Die Thätigkeit der Rechnungs-Commission ist eine unscheinbare, aber ihre Bedeutung ist nicht gering. Auf ihrer Gewissenhaftigkeit beruht die Sicherheit, daß die Finanzverwaltung auch streng budgetmäßig verfährt. Dank der Mustergültigkeit unserer Finanzverwaltung, dank der sprüchwörtlichen Aufmerksamkeit der Oberrechnungs-Commission zu Potsdam, haben die Rechnungs-Commissionen im deutschen Reichstage und im Preußischen Abgeordnetenhause nur selten Monita vorzubringen.

Der mühseligste Theil und das am meisten gehäufte Maß der Arbeiten gehört der Petitions-Commission. Die Tausende alle, welche, mühselig und beladen, an die Volksvertretung als an die vierte Instanz sich wenden, finden hier sorgsame Prüfung ihrer Beschwerden und Wünsche. Wären die Mitglieder der Petitions-Commission weniger sorgsam, als sie es der großen Mehrheit nach sind, das verfassungsmäßige Recht der Petition an die Volksvertretung würde ein todter Buchstabe sein; denn die Petitions-Commission hat der Natur der Sache nach die weitestgehenden discretionären Befugnisse, welche sie übrigens nur dem Herkommen und nicht einer formulirten Vorschrift verdankt. „Nicht geeignet zur Erörterung im Plenum“ – dies ist das häufigste Verdict, und noch nie ist es vorgekommen, daß ein Abgeordneter von dem Rechte Gebrauch gemacht hätte, Widerspruch zu erheben.

Die wichtigste Commission in jedem Parlamente ist die Budget-Commission. Ihr liegt es ob, die für den Laien unübersehbaren Zifferncolonnen des Etats zu sichten und jede einzelne der zehntausend Positionen auf ihre Nothwendigkeit sowie auf ihr billiges Ausmaß zu prüfen. Die Etatsberathung hat Virchow einmal „die Inventur aller starken und schwachen Stellen der Regierung“ genannt, und diese Bezeichnung ist für die Bedeutung der Budget-Commission sehr zutreffend.

Ist die Zahl der ständigen Commissionen umgrenzt, so giebt es für die Special-Commissionen kein anderes Maß als dasjenige, welches jeweilig dem Parlamente beliebt, unter Berücksichtigung natürlich der Fülle von Vorlagen, welche die Regierung der Volksvertretung unterbreitet. Ein Gesetzentwurf muß sehr einfach und klar sein, wenn das Parlament es übernehmen soll, auf seine Vorprüfung zu verzichten. Es geschieht zuweilen, daß das Plenum in der zweiten Lesung solches Unterfangen bereut und eine Vorlage nachträglich in eine Special-Commission verweist.

Die Commissionsverhandlungen finden unter Ausschluß der Oeffentlichkeit statt, das heißt: es dürfen nur Abgeordnete denselben beiwohnen. Doch ist es wohl noch nie vorgekommen, daß es an sachgemäßen Berichten über jeden einzelnen Vorgang innerhalb der Commissionen gefehlt hätte, es sei denn, daß Personalien zur Sprache kamen. Die Abgeordneten selbst arbeiten hier im Dienste der Oeffentlichkeit, indem sie die bezüglichen Mittheilungen in dankenswertster Weise den Vertretern der Presse zustellen.

Die drei Präsidenten, die acht Schriftführer, die beiden Quästoren und die sieben Abtheilungs-Vorsitzenden bilden den Gesammtvorstand des Parlamentes; die Präsidenten mit den Schriftführern werden das Bureau genannt.

Die Wahl der drei Präsidenten erfolgt unter Leitung eines Altersvorsitzenden und einer Anzahl Jugend-Schriftführer in drei gesonderten Wahlgängen. Weniger umständlich ist die Wahl der Schriftführer. Ein einziger Wahlgang bezeichnet die acht Gehülfen des Präsidiums, und zwar gemäß den Verabredungen des Senioren-Convents, dessen Einfluß hier wieder beginnt, und welcher auch dem Präsidenten die Namen derjenigen Abgeordneten suppeditirt, die er zu Quästoren beruft.

Soweit wir bis zu der Präsidentenwahl von den parlamentarischen Einrichtungen gesprochen, soweit existiren bestimmte Vorschriften oder eine feste Tradition. In Bezug auf den ersten und wichtigsten Act parlamentarischer Selbstregierung aber hat sich ein sicheres Herkommen, welches die Kraft der Selbstverständlichkeit besäße, noch nicht gebildet. Von einer Legislaturperiode zur anderen entbrennt der Streit um die höchsten Ehrenstellen auf’s Neue, und immer giebt es Parteien, welche grollend meinen, ihnen sei Unrecht geschehen. In parlamentarisch naiven Zeiten, als die Parteien noch nicht durch persönliche Verbitterungen geschieden waren, hielt man die Stelle des ersten Präsidenten für einen Ehrenposten, der dem Geschicktesten gebührte. Eine conservative Mehrheit gab einem liberalen Manne ihre Stimmen, weil dieser Mann sich in der Leitung der Geschäfte bewährt hatte. Doch diese Naivetät ist längst dahin, und der Präsidenten-Wahlkampf ist die erste Probe, bei der die Parteien sich messen. Es ist thatsächlich ein Kampf; denn man ist noch nicht zu einem leitenden Principe gekommen, so oft man auch versucht hat, ein solches aufzustellen. Viele Anhänger fand die Idee, den Präsidenten der numerisch stärksten Fraction zu entnehmen, die beiden Vicepräsidenten aber von den nächst zahlreichen Fractionen präsentiren zu lassen. Wäre jemals eine Fraction für sich allein im Besitze der Stimmenmehrheit gewesen, so hätte sie ganz selbstverständlich die vornehmsten Ehrenstellen für sich in Anspruch genommen. Noch sind wir aber in Deutschland nie in solcher Lage gewesen; es mußten stets mehrere Parteien sich zu gemeinsamem Vorgehen einigen. Natürlich war eine solche Einigung immer unter denjenigen Parteien am leichtesten zu erzielen, welche auch in politisch-gesetzgeberischer Beziehung einander zur Majorität ergänzten. In der Blüthezeit des Liberalismus besetzten deshalb Nationalliberale und Fortschrittler allein das Präsidium; den Rückgang des Liberalismus bezeichnete die Zulassung der (frei-conservativen) Reichspartei in das Präsidium; dann beherrschte im Reichs- und Landtage die clerical-conservative Vereinigung die Situation, bis das Centrum in der preußischen Abgeordnetenkammer vor Kurzem die Ehrenstelle eines Vicepräsidenten einbüßte, und nunmehr wenigstens in dem Präsidium diese Körperschaft dieselbe „würdige Zurückhaltung“ beobachten kann, welcher sich seine Führer bei den jüngsten nationalen Festtagen befleißigten.

Die Stellung eines Parlamentspräsidenten gehört zu den schwierigsten, weil sie die exponirteste ist. Abgesehen von dem durch Routine erreichbaren Geschick in der äußeren Leitung der Geschäfte, abgesehen von einer unbeirrbaren Unparteilichkeit, welche füglich nicht mehr ist als eine Pflicht, die jeder Richter tagtäglich zu erfüllen hat, liegt dem Präsidenten noch ob, in seiner Person die Würde der Volksvertretung selbst zu jeder Zeit zu wahren, eifersüchtig über die Rechte derselben zu wachen und trotzdem im Verkehr mit den Regierenden ein versöhnliches Wesen zu zeigen. „Bis an die Mauern des Hauses“ unbeschränkter Gebieter – nicht „bis an die Schranken des Ministertisches“, wie Kriegsminister von Roon einmal im preußischen Abgeordnetenhause bemerkte und wodurch er Herrn von Bockum-Dolffs zwang, die Sitzung zu vertagen – hat der Präsident doch genau die nur für scharfe Augen erkennbare Grenzlinie innezuhalten, welche die Befugnisse des höchsten Ehrenbeamten der Volksvertretung von denen des leitenden Staatsmannes innerhalb des Parlamentes trennt. Dem Einen gebührt ganz unbedingt das Recht, die Ordnung des Hauses als vornehmste Instanz zu wahren, von welcher keine Appellation als an die souveraine Versammlung möglich ist; dem Anderen gebührt ebenso unbedingt das Recht, zu jeder Zeit das Wort zu ergreifen. Hier liegt die Möglichkeit vor, daß das Recht zu Unterbrechungen sich mit dem Rechte kreuzt, zu reden, und in erregten Zeiten gehört in gleich hohem Maße Tact und Festigkeit dazu, die Grenzlinie innezuhalten, welche die selbstbewußte Würde von der Rechthaberei scheidet.

Dies ist das Räderwerk des Parlamentarismus. Unentbehrlich haben wir den äußerlichen Mechanismus bereits in den einleitenden Worten genannt; fügen wir zum Schluß hinzu, daß er für sich allein nicht genügt, um ein gedeihliches Wirken zu veranlassen. Hierzu gehört noch der belebende Geist, der begeisterte Wille und die willige Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen des großen Ganzen. Mögen diese Vorzüge dem deutschen Parlamente niemals fehlen!