Textdaten
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Autor: Ernst Ziel
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Titel: Zwischen Fels und Klippen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46–49, S. 745–748, 765–771, 781–784, 808–811
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[745]
Zwischen Fels und Klippen.
Eine Strandromanze von Ernst Ziel.
1.

„Mutter Hedda, er regt sich – er lebt.“

„Wird leben, mein Kind, wenn die Sterne es wollen.“

Die Zwei, welche so sprachen, saßen niedergebückt in dem Winkel eines engen, schmucklosen Gemachs. Alles ringsum trug einen seemännischen Charakter. War es die Kajüte eines Schiffes? War es das Innere einer ärmlichen Strandhütte? Karten und Segel, Tauwerk und Ruder bedeckten in buntem Durcheinander die rohen hölzernen Wände; ein umgekehrtes kleines Boot war mit Hülfe von alten Brettern und seegrasgepolsterten Kissen zu einer Art Ruhebank umgeformt, und Fernrohre und Compasse, Wettergläser und Nebelleuchten vervollständigten die Geräthschaften dieser sonderbaren Wohnstätte.

Sonderbar war auch die Gruppe, welche der brennende Kienspan beleuchtete, der statt einer Lampe sein flackerndes Licht von der Decke herabsandte. Das wettergebräunte, runzelvolle Gesicht eines kauernden alten Mütterleins neigte sich tief nieder, so tief, daß ihm die langen grauen Haare über die Stirn bis auf die Augen fielen; diese Augen waren von einem seltsam mystischen Feuer durchglüht, unirdisch fast, aber nicht unheimlich; sie schienen einen Gegenstand besorgt zu prüfen, dessen Formen sich in dem Halbdunkel des engen Raumes in unbestimmten Umrissen vom Boden abhoben. Und dieselbe Sorge, dieselbe Unruhe lebte und bebte in den kraftvoll herben, aber eigenartig schönen Zügen eines Mädchenangesichts, das mit großen Abenteuer-Augen dicht neben der Alten aus der kienqualmigen Atmosphäre aufblickte.

„Schnell noch mehr vom heißen Branntwein, Karin!“ sagte die Alte, „und thu' auch etwas von den wunderwirkenden Kräutern hinein, Höhlenmoos und Klippengras und ein Bischen Teufelszwirn! Ich wußte längst, daß ein Unglück kommen mußte. Der Hundsstern hat schon wieder seit lange den verhängnißvollen Nebelschweif, und die Möven gurgeln jeden Abend hohl und dumpf in ihren Felsnestern.“

Ein grelles Licht glitt flüchtig über das Gesicht der Redenden hin; denn der Wind, der jetzt heftig durch die Esse pfiff, blies die Flamme des Kienspans heller auf, und für den Augenblick wurde das kleine Gemach licht bis in den verborgensten Winkel hinein. Auf einer breiten, groben Strohdecke lag vor den beiden Frauen, lang hingestreckt und in wollene Tücher eingehüllt, eine schlanke Jünglingsgestalt, blassen Angesichts und mit geschlossenen Augen, wie es schien, ohne Athem und Leben. Eine vornehme, bleiche Hand ruhte auf einer hochgewölbten Brust, und die langen blonden Locken, welche über den entblößten Hals und auf die Schultern herabhingen, trieften von Wasser; auch von der edel gebildeten Stirn tropfte es auf die blutlosen Wangen herab, und an dem leichten Reise-Anzuge des jungen Mannes schien kein trockener Faden zu sein.

Es war eine bange Stille, welche die drei Menschen umgab. Nichts regte und bewegte sich; nur die Schatten der beiden Frauen huschten in verschwommenen Zeichnungen an der Wand hin, und von draußen tönte das gleichmäßige Nieseln eines leisen Tropfenfalles herein. Mitunter freilich wich die Stille einem lauten Tosen; denn der Herbststurm tobte durch die Nacht; stoßweise trug er das Brausen der Brandung daher, die ein nahes Felsengestade zu peitschen schien, als wollten die grollenden Meergeister das Ufer stürmen und es hinabspülen in ihr wogendes Reich.

Plötzlich erscholl gellendes Gebell; nahende Männerschritte ließen sich draußen vernehmen; die Thür wurde schnell geöffnet, und ein prächtiger schneeweißer Hund von ungewöhnlich großem Körperbau, mit breiter muskulöser Brust und langen zottigen Haaren sprang in großen Sätzen in das Gemach; er umkreiste mehrmals die beiden Frauen, leckte dem Mädchen die Hand und schmiegte sich auf ein gebietendes „Kusch, Rustan!“ zu ihren Füßen nieder.

„Nichts als Trümmer wirft die See an's Land,“ sagte die Stimme eines kräftigen Greises, der dem flinken Thier gefolgt war. Hastig eingetreten, hemmte er auf der Schwelle den Schritt und überschaute mit prüfendem Blick die Scene; er stand wohl sechs Fuß hoch in seinen derben Krempstiefeln, eine frische, breitschulterige Gestalt, das Haupt voll Kraft und Energie.

„Nichts als Trümmer! Der ist der einzige Glückliche,“ fügte er hinzu, indem er auf den Jüngling am Boden zeigte. „Die Andern liegen am Meeresgrunde. Glücklich oder nicht – wer weiß? Vielleicht ist schlafen besser als wachen. Aber wie steht's mit unserm Gaste?“ Er trat näher an die Frauen hinan und warf einen theilnehmenden Blick auf ihren Pflegling. „Ei, das lob' ich, Karin, meine Tochter,“ wandte er sich dem noch immer am Boden kauernden Mädchen zu. „Sie nennen Dich eine Träumerin, eine Gauklerin, aber Du kannst mehr als auf Felsen tanzen und singen und mit dem Sturme um die Wette segeln. Bist auch eine gute Pflegerin, Du wildes Kind. Meiner Treu – sieh doch! seine Wangen färben sich unter Deinen Händen. Gottlob! 's ist keine Leiche, die wir beherbergen. Er wird die Augen aufschlagen – –“

„Wenn es in den Sternen so geschrieben steht,“ ergänzte Mutter Hedda ernst. [746] „Immer Deine abgeschmackten Sterne! Sagen wir lieber: wenn Jugend und Natur kräftig genug sind,“ berichtigte der Alte.

„Aber nun, Vater Claus,“ bat dazwischen das Mädchen mit Ungeduld, und in ihren Augen glänzte es lebhaft wie heimlich glimmendes Feuer, „aber nun erzähl' uns, wie das Alles gekommen! Karin ist traurig.“

„Ja, wie das Alles gekommen! – Der greise Seemann warf sich nachlässig in einen groben hölzernen Lehnsessel und schwenkte das Wasser aus seinem Südwester, daß Rustan, dem die Tropfen in's Gesicht flogen, aufnieste und sich die Augen mit den Pfoten wischte. „Potz Anker und Segeltuch! ist das ein Wetter! Seit mich das Schicksal aus meiner deutschen Heimath in die nordische Einöde verschlagen und zum Strandwächter auf dieser finnischen Schäreninsel gemacht, erlebte ich solchen Sturm nicht, und das will sagen: seit dreißig Jahren. Wißt ja, die See hatte schon den ganzen Tag über rumort und getobt, und als die Sonne unter war, schlugen die Wasser eine Höllenmusik an, als sollte die Welt in Stücke gehen. Hatte wie allabendlich die Signallampe auf dem Leuchtthurme aufgehißt und lugte von da oben über die schwarze Tiefe und die gewaltig tanzenden weißen Wellenhäupter hin – bei der rabenfinsteren Nacht freilich eine müßige Arbeit. Plötzlich seh' ich gar nicht weit von dem vermaledeiten Klippenkranze unserer Küste eine Nothleuchte. 'Gerechter Gott, bei dem Wetter!' – denk' ich. 'Hoiho!' ruf' ich, und meine Jungens, Axel, Olaf und Daniel, sind flugs wie der Wind oben bei mir auf dem Leuchtthurme. Aber der Kukuk kann bei solcher Stockfinsterniß trotz aller Ferngläser einen schimmernden Wellenrücken von einer schweifenden Möve unterscheiden, viel weniger ein Schiff von den am Himmel hin- und hersegelnden schwarzen Wolkenbündeln. Die Jungens waren kaum oben – da kracht ein Nothschuß – also richtig ein Schiff! Hui, wie der Blitz waren wir im Boot und zwei Minuten darauf mit Stricken und Leitern mitten in der brandenden See. Mir schlug das alte Herz an die Rippen; denn hier galt's zu retten und zu helfen. Mußte wohl ein deutscher Passagierdampfer sein, der auf der Fahrt von Stockholm nordwärts in die Alandsinseln getrieben und dann in unsere Klippen gerathen war; denn der Sturm blies aus Südwest – und daß es ein Dampfer war, hörten wir von weither an der gewaltig ächzenden und stöhnenden Maschine. Aber wenn die See wie eine Mauer vor Einem steht, die Wellen sich centnerschwer Einem entgegenwerfen und die Finger vor Kälte und Nässe an den Rudern schier erstarren – ja, da helfe einmal Einer, und wär' er ein Kerl von Eisen! Verdammt! Sahen das Schiff vor unseren Augen scheitern; denn so nahe waren wir ihm doch gekommen. Sag' Euch, 's war ein grausiger Augenblick, selbst für eine in Wind und Wetter verhärtete alte Theerjacke, wie ich. Das krachte, das barst – Menschen wimmerten; Balken zersplitterten. Die Glocke läutete noch einmal, wie wehklagend, auf dem Deck – dann war Alles still; nur die Wellen klatschten an einander, und der Sturm heulte, wie eine vielstimmige Gesellschaft von Teufeln. Eine Sturzwelle überschüttete uns mit einem wüsten Durcheinander von zerschmettertem Schiffsgebälk und Leichen. Himmel und Hölle – mußten unser Segel kappen, und mit Blitzesschnelle warf uns die Fluth zurück in die sichere Bucht unserer Felseninsel.“

Der Alte erhob sich. „Den da“ – er zeigte auf den Bewußtlosen zu seinen Füßen – „fischten wir zwischen den schwimmenden Trümmern auf – und das ist Alles. 'Mein Weib,' rief er, als wir ihn im Boot sicher gebettet hatten, 'rettet mein Weib!' Dann sank er in eine tiefe Ohnmacht.“

„Ach Gott,“ seufzte Karin, „es ist ein so schöner, junger Herr.“

„Und ein gar vornehmer dazu,“ ergänzte Mutter Hedda.

„Potz Anker und Segeltuch!“ fuhr Vater Claus dazwischen, „schön oder häßlich, vornehm oder gering – Mensch ist Mensch. Keine müßigen Seufzer! Reibt ihm Stirn und Schläfen mit dem heißen Branntwein – hurtig!“ Er beugte sich zu dem Ohnmächtigen nieder und legte das Ohr an seine Brust. „Wahrhaftig, er athmet schon hörbar und schneller. Armer Bursche, magst Dir auch nichts haben träumen lassen von dem kalten Salzwasserbade und dem pudelnassen Besuch hier in unserer finnischen Strandhütte. Wie lustig magst Du im Heimathhafen auf's Schiff gesprungen sein!“

„Lustig?“ redete Karin darein und sah den Alten mit ihren großen Augen fragend an, mit Augen, die so geheimnißvoll wie der Himmel des Nordens, so feuchtglänzend und unergründlich waren, wie das Meer, in dem er sich spiegelt – „lustig? Nein, Vater Claus, auf diesem Gesicht steht von ganz anderen, Karin weiß nicht, von welch ernsten Dingen geschrieben.“

„Unsinn!“ fuhr der Graukopf auf. „Was Du wohl von Menschengesichtern weißt!“ Aber dann stieß er sein Weib an: „Hedda,“ sagte er leise, „kann das Mädel sehen! Weiß wohl, den See-Adler erspäht sie, wenn er in den Wolken hängt; ihr Blick folgt ihm bis zum Horst, wo er die Beute niederlegt – aber daß sie den Leuten die Seele vom Gesicht abliest – meiner Treu wer hätte das gedacht! Recht hat sie: er sieht verteufelt ernsthaft aus, unser stummer Gast. Und –“

Vater Claus brach plötzlich ab. Ein heftiger Windstoß erschütterte die Hütte, und von der Felsenhöhe draußen stürzte ein entwurzelter Baum herab und schlug krachend auf das Gestein. Rustan bellte erschrocken auf.

„Potz Anker und Segeltuch!“ fluchte der Alte und ging der Thüre zu. „Muß hinaus auf meinen Posten. Verdammte Nacht heut'! Das Wetter kommt wieder auf. Adjes denn! Aber ich mag Euch nicht allein lassen, will Euch den Olaf schicken.“

„Nein, den Olaf nicht!“ rief Karin mit einer jähen, leidenschaftlichen Bewegung, „den nicht!“

„Gut, so bleibt Ihr allein,“ entgegnete der Alte. „Den Axel und den Daniel kann ich bei dem Wetter nicht entbehren da draußen. Die Jungens sollen den Strand absuchen, ob der Sturm nicht Trümmer oder Todte an's Gestade spült – vielleicht auch die Leiche des jungen Weibes.“

Damit ging er hastigen Schrittes hinaus.

„Karin,“ begann Mutter Hedda, nachdem die Thür lärmend in's Schloß gefallen, „warum wieder diesen Auftritt? Gieb endlich nach und nimm den Olaf! Er ist ein guter Junge, tüchtig und brav und fromm. Was kann Dir Axel, was kann Dir Daniel sein? Ich weiß, Du kannst sie beide nicht leiden. Der Eine ist jähzornig; der Andere ist einfältig. Wenn der Apfel aber reif ist, soll er gepflückt werden – und Du bist siebenzehnjährig. Die Drei sind die einzigen Buben auf der Insel, und die Insel ist unsere Welt. Nimm den Olaf, Karin! Siehst Du denn nicht, wie er sich härmt um Deinetweilen? Und ich sage Dir: er ist Dir bestimmt – ich hab's in den Sternen gelesen.“

„Ich will ihn nicht, weil ich ihn nicht mag.“ – Das Mädchen hatte sich erhoben und stampfte trotzig mit dem Fuße auf. „Ihr könnt der Föhre am Strand die knorrigen Aeste beugen; Ihr könnt den Fels in der Schlucht aushöhlen mit Müh' und Noth, aber Karin's Herz könnt Ihr nicht zwingen. Seht zu, was härter ist, der Fels oder mein Wille!“

„Trotzkopf!“ murrte die Alte, „bist noch immer die nämliche wie damals, als Du in kindischer Neugier durchaus das alte Buch haben wolltest, das der Vater im Schrein hatte – denn Lesen war von je Deine Lust – das prächtige Bilderbuch von der Edda und den alten Seefahrern. 'Wenn Ihr mir das Buch nicht gebt,' eifertest Du und liefst an den Strand und tratst dicht an die jäh abfallende Felskante hinan, 'so springe ich hinab in die See.' Und richtig – wir glaubten, das Herz solle uns still stehen im Leibe – als der Vater bei seiner Weigerung blieb, da sprangst Du – Herr des Himmels! – hinab in die Tiefe und schwammst lustig um die Klippen und lachtest dazu.“

„Und ich erreichte meinen Zweck,“ sagte Karin ruhig und warf den Kopf in den Nacken.

„Freilich,“ seufzte Mutter Hedda, „nur das Versprechen, Du solltest das Buch haben, lockte Dich aus dem Wasser. Starrkopf damals wie heute!“

Die Alte that einige hastige Schritte durch den engen Raum.

„Ist das ein Wetter!“ fuhr sie fort; denn der Sturm umbrauste in diesem Augenblicke die Hütte mit erneueter Gewalt; er faßte sie so heftig, daß sie in allen Fugen knarrte und ächzte. „Ich will hinaus und sehen, wie die Wolken jagen und die Sturmvögel im Zickzackfluge flattern; die Zukunft webt darin – und was Dich betrifft und den Olaf, ich will's überlegen, Tochter – überlegen beim Windessausen –“

Sie ging, aber auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um. „Thu' Kräuter in den Branntwein, hab Acht und wärme unserm Pflegling Puls und Schläfen!“ Draußen verhallte ihr Schritt auf dem steinigen Boden der Insel. –

Karin war allein mit dem Fremdling. Es war ein reizendes [747] Bild, das die hölzernen Wände der Hütte umrahmten, ein Bild zum Malen. Das Haupt gedankenvoll gesenkt, saß das Mädchen in graciöser Lässigkeit wie träumend da. Eine Fülle üppigen Goldhaars fiel ihr frei und ungebunden in langen Wellenlinien auf die Schultern herab und wob um das leichte, knapp anschließende Mieder, welches volle und doch zarte Formen verrieth, aus tausend Fäden einen glitzernden, goldigen Schleier. Wie die Sonne aus ihrem eigenen Strahlenkranze, blickte Karin aus dem leuchtenden Rahmen ihres metallisch schimmernden Haares hervor – aber sie blickte nicht sonnenhaft; denn wie Wehmuth und Sorge lagerte es ihr über Stirn und Wangen; sie hatte die Hand dem erprobten Cameraden, dem treuen Rustan, der nicht von ihrer Seite gewichen, auf’s Haupt gelegt, und das kluge Thier blickte sie mit klaren schwarzen Augen verständnißvoll an, als trüge es in der Brust eine fühlende Menschenseele. Aber Karin’s Blick begegnete nicht dem des treuen Gefährten; bange und unruhvoll lag er auf dem stummen Schläfer zu ihren Füßen, dessen Athem sich mehr und mehr belebte. Heimlich zuckte es ihr dann und wann um den kraftvoll schwellenden kleinen Mund, und ihr sinnendes Auge, in dem sich Unschuld und bewußtes Denken, Schwärmerei und prüfender Verstand wunderbar mischten, schien unter den langen, dichten Wimpern müde nach innen zu schauen. Wo waren die Gedanken des Mädchens?

Wenn ein Ungeahntes plötzlich in unsern Kreis tritt, fremd und neu, wie ein Gebild aus einer andern Welt, für das uns jedes Maß und jede Norm fehlt, dann wissen wir nicht, wie es empfangen, wie es begrüßen? Wird es uns Heil bringen oder Unheil? Karin waren die Tage bisher in wechsellosem Gleichmaß dahingeflossen. Auf der öden Klippeninsel, allein mit den Eltern und den drei Burschen, die in des Vaters Sold standen, hatte sie die Jahre hindurch ihr Leben getheilt zwischen dem steten Kampf mit der rauhen Natur des Nordens und stiller Arbeit, zwischen selbstgeschaffenen lustigen Abenteuern und weltverlorenen Träumereien, je nachdem das gewaltige Nebeneinander von See und Fels ihr bewegliches Gemüth heute in kindischer Thatenlust in’s Weite gelockt, morgen verschüchtert und scheu in sich selbst zurückgedrängt. In der Hütte hatte sie gewirkt und geschafft, Segel genäht und Netze geflickt und die beiden Alten gehegt und gepflegt. Draußen aber in der frischen, weiten Natur, da war es ihr stets gewesen, als wäre sie hier in ihrem eigentlichen Elemente. Im Sommer war sie rastlos durch die Tiefen und über die Höhen der kleinen Insel geschweift; bald hatte sie dem Echo der Felsen gelauscht; bald war sie unwegsame Abhänge wagelustig hinangeklettert zu den Klippenhorsten der Seevögel, hatte die bunten Eier grausam geraubt und die nackte, zappelnde Brut heimgetragen. Oder sie hatte beim Fischfang geholfen, war mit den Männern hinausgesegelt in die offene schäumende See, hatte das Ruder geführt, das Netz geworfen und gejubelt und gejauchzt, wenn über ihr in der reinen blauen Luft die Möve weithinschweifend ihre langen Schwingen ausbreitete und niedertauchte und die Brust in der kühlen Salzfluth badete und dann wieder emporschoß und in großen Kreisen aufstieg und im Aether verschwand. Wenn nun aber die stille, laue Nacht kam mit Sternenschimmer und Mondesglanz, dann war sie, da Alles schlief, leise an den Strand hinabgestiegen, hatte die Kleider abgeworfen – und das blaugrüne Meer küßte die alabasternen Glieder der einsamen Schwimmerin. Fernab vom Lande, auf der hohen See, da leuchtete silberbetropft ihr goldenes Haar, wie das Haupt einer Meerjungfrau, und dann hub sie zu singen an, und es tönte ihr Lied weit herüber, lockend und bestrickend wie Sirenengesang. – Aber auch im Winter, im langen, düsteren Winter, wenn die Hütte unter dem grau behangenen Himmel tief in Schnee und Eis gebettet lag und der letzte Halm auf den Felsen erstarrt war, auch dann immer war die Natur Karin’s liebste Vertraute gewesen. Auf den blanken Schlittschuhen, den treuen Rustan als flinken Cameraden zur Seite, war sie hinausgeglitten auf die glitzernde, unabsehbare Eisfläche und hatte die junge Stirn gekühlt in dem frischen, kräftigen Seewind. Wenn dann am frühen Abend im fernen Westen die Sonne sank und im röthlich blendenden Lichte, weit ausgreifend, unzählige Strahlen über die weiße schimmernde Fläche ausgoß, dann, in der schweigenden Oede, war es oft heimlich über sie gekommen wie ein unbegreifliches Sehnen, ein Sehnen ohne Gegenstand und Ziel. Dort hinten, wo der feurige Ball versank, sah sie eine ihr unbekannte Welt erstehen, jene Welt, von der nur dunkle Kunde, wie zerrissene Klänge, die der Wind daherträgt, in ihre Einsamkeit gedrungen war. Häuser malte sich ihre dichtende Phantasie, Häuser und Straßen und ganze Städte und viele, viele Menschen darin, und sie selbst wandelte unter diesen Menschen, und sie waren gut mit ihr, und sie hatte sie lieb. Dann aber, schnell wie es gekommen, versank das Bild wieder, das sie sich erträumt, ohne das Urbild zu kennen. Es blieben nur Nebel und Schatten. Aber was wir geschaut mit den Augen des Herzens, das kann uns niemals auf immer verblassen. Ob sie am winterlichen Feuer saß und das Holz auf dem Herde knistern hörte, ob sie hoch auf dem Uferfelsen stand und hinausblickte auf die märchenhafte Linie des Horizonts, wo Himmel und Wasser sich begegnen, immer wieder, in Augenblicken des Sinnens wie der Erhebung, schauete Karin im Abglanze einer purpurn versinkenden Sonne dasselbe lockende Bild, die ferne, ferne Menschenwelt jenseits des Wassers.

Und nun, als hätte ein Zauber den Traum zur Wirklichkeit gemacht, sah sie in Fleisch und Blut einen Abgesandten jener Welt vor sich, deren Bild ihre Träume erfüllt hatte. Wunderbar – sie war seine Pflegerin, seine Hüterin. Und was war es nur, das ihren Blick so mächtig, so unwiderstehlich an die Züge des Schlafenden fesselte? Was war ihr der Fremdling – ihr? Vor wenigen Stunden erst, in dunkler Nacht, hatte der Sturm ihn an diesen Strand geworfen, und schon sprach es zu ihr aus seinen Mienen, wie ein Verwandtes, längst Gekanntes. Wie sollte sie das Gefühl nennen, das sie so geheimnißvoll beschlich? Mitleid mit dem Schicksal des Fremden war es nicht – das fühlte sie. Auch nicht unedle Neugier, den Schleier zu lüften, der über seiner Person lag. So war es leise Regung des Herzens, unergründlich, unfaßbar? Fast war es etwas – seltsam genug! – wie die Zärtlichkeit einer Schwester für den Bruder. Und doch war es wieder etwas ganz Anderes. Dieser Mund, diese Stirn, wo war sie ihnen schon zuvor begegnet?

Karin stützte das Haupt in die Hand und sann in sich hinein. Draußen wuchs das Unwetter; ein dicht fallender Regen trieb in den Pfützen des Gesteins flüchtige Blasen und schlug mit großen Tropfen an das Gebälk der Hütte. Drinnen war Alles still. Nur Rustan knurrte manchmal leise, wenn am Gestade ein Felsstück sich polternd löste und klatschend in die See hinabfiel. Dazwischen klang es mitunter, wie wenn der Schlafende schwer aufseufzte. Karin ließ den Blick nicht von ihm; sie sann und sann und fuhr sich über die Augen, als wollte sie ein Schleiergewebe von Gedanken davor hinwegthun.

„Ich hab’ es,“ sagte sie plötzlich und griff hastig an ihr Mieder. Sie zog ein goldenes Medaillon hervor, das einen seltsamen Contrast bildete zu der ärmlichen Kleidung des Mädchens; in reicher Perlenfassung zeigte es das Bild eines älteren Mannes. Nun blickte sie von dem Bilde auf den Schläfer zu ihren Füßen und wieder von ihm auf das Bild. Dieselbe edel gewölbte Stirn hier wie dort, nur daß hier weiße Locken sie umrahmten, während dort volles Blondhaar auf sie herabfiel. Der Mund hier glich dem Munde dort, aber was ihn hier als Friede und Ruhe des Alters umspielte, das prägte sich dort als ein tiefes Ungenügen am Leben, als eine räthselhaft unbestimmte Sehnsucht aus, untermischt mit dem herben Zuge jugendlichen Trotzes.

„Ich hab’ es, und doch – wie find’ ich den Zusammenhang? Dieses Bild, ich trag’ es, so lang’ ich denken kann. Wie kommt es nur an meinen Hals? 'Trag’ es, und frage nicht!' sagt Vater Claus, so oft ich forsche. Wie soll Karin das deuten und fassen?“

Wieder umflorte sich ihr Auge, und wieder versank sie in das alte Träumen. Auf einmal fuhr sie zusammen; eine Bewegung des Schlafenden hatte sie aufgeschreckt. Er regte die Lippen, als wollte er sprechen, und ein leises Zucken ging durch seine Züge. Nun öffnete er wirklich den Mund.

„Ha, wie die wüthenden Wogen die Schiffsplanken peitschen!“ rief er, die Augen noch immer geschlossen, angstvoll und wie im Fiebertraum.

„Es ist der Regen, der an’s Fenster prasselt,“ beschwichtigte ihn Karin mit zitternder Stimme. Sie hatte sich dicht zu ihm niedergebeugt.

„Dumpf ächzt das Gebälk,“ stöhnte er. „Mein Weib, schmiege Dich fest an mich! Das ganze Fahrzeug bebt.“

„Das ist der Wind, der die Hütte erschüttert.“

[748] „Siehst Du nicht die riesige Welle kommen? Schwarz und gähnend wälzt sie sich daher. Sie wird uns verschlingen – schwarz, ganz schwarz.“

„Ihr träumt. Der Kienspan qualmt im Zugwind, wie schwarze, flatternde Wolken.“

„Weib, ich muß Dich retten.“

Er zog Karin mit einem gewaltigen Ruck fest an sich.

„O Gott!“ seufzte sie leise.

„Wunderbar!“ flüsterte er, „wie ganz anders, wie sanft auf einmal Deine Stimme klingt!“ – er preßte sie fester an sich. „Und nun hinab!“ rief er, „hinab in die Fluth!“

Nur noch eine heftige, wie stürzende Bewegung des Träumenden, dann ein furchtbares Beben und Schütteln, das seinen Leib durchfuhr – und klar und groß schlug er die Augen auf.

„Wo bin ich? – Du bist nicht Du,“ sagte er nach kurzem Besinnen und ließ das Mädchen aus den Armen. „O, wie schön Du bist!“

Mit klopfendem Busen, mit flammenden Wangen, verwirrt und bestürzt, eilte Karin hinaus. Sie flog mehr als sie ging.

„Mutter Hedda, Vater Claus, er ist erwacht – er lebt.“

Draußen im brausenden Sturm, im fallenden Regen blieb sie einen Augenblick aufathmend stehen. Rustan, der ihr nachgeeilt war, schmiegte das schöne kräftige Haupt in die Falten ihres wehenden Kleides. Vom Himmel schoß ein Stern herab, und es war ihr, als wäre er ihr in den Schooß gefallen, als wäre sie auf einmal reich geworden, unendlich reich, und als müßten alle ihre Wünsche verblassen vor dem einen leuchtenden Besitz.

„Leben! O, wie schön ist es, zu leben!“ flüsterte sie in sich hinein.

Fernab im Osten, inmitten der ziehenden Wetterwolken, glomm es röthlich, das einzig Feststehende im jagenden Getümmel des Sturmhimmels. Karin schauete in das wachsende Roth der Ferne ahnungsvoll hinüber – hinüber – –

Es war der anbrechende Morgen.

[765]
2.

Die Sonne war herauf. Aber was sich mit naßkalten Dünsten fahl und traurig über die breiten Felsrücken legte, das war nicht Tag – es war die leb- und farblose, unsagbar öde Dämmerung eines nordischen Octobermorgens. Ein todtes Licht schwebte über Nebel und Wasser, gerade scharf genug, um die abenteuerliche Schlagschatten der rings emporragenden Steinriesen über die Insel zu werfen. Die Meer- und Felswelt lag wüst und phantastisch da, wie das Traumgebild eines Hünen der Vorzeit. Sie glich einem leeren Abgrund, in dem Alles erstarrt ist – erstarrt bis auf einen Klang, dieser eine Klang aber war das dumpfe Brausen und Rollen der noch immer stürmenden Wellen, welche in den Höhlungen und Buchten des Ufers hallten und wiederhallten und den schäumenden Gischt weit über die scharfgezackten Kanten des Gestades schleuderten.

Die Musik der Elemente war eine gewaltige; nur mitunter trat eine kurze Pause lautloser Stille ein, gleichsam ein Athemholen des Sturmes; dann hörte man jede einzelne Welle an den vielklippigen Strand schlagen oder einen scheuen Wasservogel mit langen, feuchten Schwingen aus dem Dorngebüsch auffliegen, daß es in den tropfenden Zweigen rauschte und rasselte. Langsamer zogen dann die Nebel und legten sich weicher um die Felsenbrüste.

Der Regen hatte aufgehört zu fallen, aber die Luft ging schneidig. Auf der Insel herrschte tiefes Schweigen.

Nun plötzlich tönte es von fern her wie Ruderschlag durch die Nebelluft. Das kräftige Einschneiden der Hölzer in's Wasser war deutlich vernehmbar, und das Anschlagen der Wellen an das vorwärts strebende Fahrzeug schallte weit über die Fluth hin und echoete an den Felsenhängen der Insel. Schon aber brach der Sturm wieder herein und übertönte jeden Klang. Die Wogen jagten mit den Wolken um die Wette, und dann und wann erhob sich ein Wirbelwind, der die Nebel zu dichten gespenstisch einherwandelnden Knäueln zusammenkräuselte. Aber in der nächsten Pause des Sturmes hörte man auf's Neue den nahenden Ruderschlag, und nun war es, als mischten sich hallende Männerstimmen in das Weben des Windes.

„Verdammte Brandung! Zieh' das Segel ein, Daniel!“

„Ja wohl! Hab's gleich gesagt: 'ist nicht hinanzukommen an's Wrack.“

„Ho, Axel! Wirf das Steuer nach links!“

Es waren drei rauhe Seemannskehlen, welche, dem Wellengeräusch zum Trotz, dieses lakonische Gespräch führten. Nur wenige Augenblicke – der Ruderschlag ertönte ganz nahe, und „Alle Mann an's Land!“ rief lachend einer der Drei, indem er sich leichten Satzes auf eine vorspringende Felsplatte des Ufers schwang und das Boot mit einem derben Tau befestigte. Er war über und über naß, eine hochaufgeschossene, starkknochige Gestalt mit energisch blickenden, lebhaft hellen Augen.

„Fürwahr, Olaf,“ sagte er und schlug lustig in die Hände, „siehst in der triefenden Oeljacke aus, wie eine melancholische Wasserratte; so trübselig läßt Du den Kopf hangen und die Arme schlottern, als wär's nicht werth, sie zu regen um's liebe Dasein.“

„Was scheert's Dich, Axel?“ gab der Angeredete, ein blasser Zwanziger mit schönen, edlen Zügen, etwas gereizt zurück, indem er zugleich mit dem dritten Cameraden das Boot verließ. „Uebrigens ich und die Arme nicht regen?“ fügte er in demselben Tone hinzu. „Bah. ich wollte, es ginge noch einmal hinein in die nasse brausende Hölle hier vor uns – und dann wollte ich noch Eines.“

„Das wäre?“

„Daß der Wal mich fräße mit Haut und Haaren.“

„Ah, ich weiß,“ spottete Axel, der noch immer mit der Befestigung des Bootes beschäftigt war, „'s ist um den Wildfang, die Karin. Schöne Gesellschaft das! Mir zur Linken den unglücklichen Liebesschwärmer, mir zur Rechten“ – er stieß seinen zweiten Begleiter leicht mit dem Ellnbogen in die Flanke – „zur Rechten den guten Daniel, den Philosophen unserer Insel.“

Der lose Spötter lachte laut auf, Daniel aber, eine echt finnische Physiognomie mit breiten Backenknochen und kleinen mandelförmig geschlitzten Augen, erwiderte kein Wort; er schmunzelte mit einem dumm wohlgefälligen Lächeln um den Mund still vor sich hin.

„Bomben-Element!“ nahm Axel wieder das Wort, indem er das Schiffstau um einen stämmigen Pflock schlang. „Rüttelt uns da über Nacht so eine auf den Strand getriebene Nußschale von einem Schiff – mir nichts, Dir nichts, hast Du mich nicht gesehen – ganz wider Recht und Billigkeit aus der gewohnten Gemächlichkeit! Müssen uns placken und schinden und bei dem Hundewetter hinaus an's Wrack. Und um was? frag' ich Euch. Um nichts weiter, als um eine Grille von Seiner Ehrwürden Vater [766] Claus. Menschen sollen möglicher Weise noch auf dem Wracke sein – Menschen und Güter? Du lieber Gott – der Sturm und noch Lebendiges oder Todtes auf so einem wetterzerborstenen Fahrzeug! Zum zweiten Male mach' ich übrigens die Fahrt nicht mit, und wären Beelzebub 's sämmtliche Hunde hinter mir –“

„Das sag' ich aber auch,“ stöhnte Daniel dazwischen und schüttelte sich vor Frost.

„Jungens, habt Ihr denn unsern Geretteten schon gesehen?“ fuhr Axel fort, und schlug den letzten Knoten in das Bootstau, „ein wahres Exemplar von einem Mosjö Vornehm. Ich sag' Euch, sieht der aus in unsern Seemannskleidern! Das schlottert und schlackert ihm um den Leib und sitzt ihm just wie ein Sack auf den feinen, ach, so feinen Landrattengliedern – 's ist possirlich anzusehen, sag' ich Euch. Wie todt hat er in der Hütte gelegen, und die Weiber haben ihn gehegt und gepflegt, so behutsam, wie ein Kind von drei Tagen. Da hat er denn endlich – ich weiß es von Mutter Hedda – die Augen aufgeschlagen, unser Herr von Unbekannt, und als er nun erfahren, daß er von all den Passagieren, sein eigen Weib nicht ausgenommen, der Einzige sei, dem es nicht an den Kragen gegangen – ja, was meint Ihr wohl, wie ihm das in die Glieder gefahren ist? Nicht wahr, laut gejammert hat er, die Hände gerungen und die Haare gerauft? Fällt ihm nicht ein, Jungens! Nur ein einziges Mal geseufzt hat er, beklagt, daß so viele Menschen um's Leben gekommen, aber für sein Weib – und die muß doch wohl schön und jung gewesen sein – für die Frau von Unbekannt, hat er kein Wörtchen der Klage gehabt, kein Sterbenswörtchen, sagt Mutter Hedda. Bomben-Element, ist Euch das ein Ehemann! Ja, ja, diese vornehmen Herren mögen wohl – – aber schwere Noth, Jungens!“ brach er plötzlich ab und stieß zur Bekräftigung seiner Worte einen im Wege liegenden Stein mit dem Fuße fort, daß er in großen Sätzen weit vor ihm hinflog, „seht doch, da kommt Vater Claus eben über die Felsen herabgestiegen.“

„Und unser Geretteter mit ihm,“ ergänzte Olaf.

„Der Alte wird nicht gar freundlich dreinschauen,“ meinte Axel, „wenn er uns mit leerem Boot zurückgekehrt sieht. Aber Prosit Mahlzeit! Mit Wind und Wellen ist schlecht rechnen. Kommt fort! Die Begegnung ereilt uns immer noch früh genug.“

Er zog die Beiden über das ansteigende Felsgeschiebe des Ufers mit sich fort.

Als sie eine Weile gestiegen waren, machte Olaf sich von ihm los, kletterte auf einen einsam gelegenen Steinblock, legte die Hand wie ein Dach über die Augen und blickte lange nach der Seite der Insel hinüber, wo die Hütte im Nebel lag. Dann ließ er den Arm sinken, schüttelte leise das Haupt und folgte langsamen Schrittes seinen beiden Cameraden.

„Sie wird in der Grotte sein,“ sagte er in sich hinein, traurig und gedankenvoll. Ueber sein bleiches Gesicht ging etwas wie Wehmuth.

Gleichzeitig kamen von der andern Seite, auf dem hohen Ufer Vater Claus und sein Begleiter daher. Diese Zwei, wie seltsam verschieden neben einander! Der Alte, in jeder Linie ein plumper Seemann, schritt im hin- und herschaukelnden Schiffergang mit lustig dampfender Pfeife fürbaß; die nur lose umgeworfene Jacke wehte im Winde hinter ihm drein, und unter dem großen Südwester auf seinem Kopfe, der Nacken und Schultern breit bedeckte, blickte sein viel durchfurchtes, sturmgegerbtes Gesicht freundlich in die Welt hinaus, als wäre sie die schönste aller Welten, voll Freud' und lauter Fröhlichkeit. Wie anders sein Nebenmann! Die geschmeidige, edle Gestalt, der die groben rauhen Seemannskleider höchst ungeschickt auf den Gliedern hingen, bewegte sich ungezwungen und leicht in der ungewohnten Tracht. So oft der schlanke Mann das Haupt hob und, den Schritt hemmend, in die sich allmählich klärende Morgenlandschaft sinnend hinausblickte, schlugen sich in dem ernsten, von einem kräftigen Vollbart umrahmten Gesicht zwei tiefe, schwarze Augen so vielsagend auf, daß eine ganze Welt unausgesprochener Gedanken in ihnen zu weben schien.

„Reicht mir die Hand, daß ich Euch stütze!“ sagte Vater Claus, indem sie von der Höhe hinabstiegen. „Eure Füße sind an das spitzige Gestein nicht gewöhnt.“

„O, welch ein Schicksal!“ rief der Andere, der die Worte des Alten zu überhören schien, in tiefer Bewegung. „Da hinten, jenseits der weißen Schaumlinie der Brandung, liegen die Gefährten meiner Fahrt im nassen Grabe und mit ihnen auch sie, welche mein Weib hieß. Und ich, der Einzige unter Allen, ich wandle hier, zu sagen, daß sie dahin sind. Das Leben ist ein fragwürdiges Gut, und vielleicht ist der Moment, wo die athmende Brust sich zum letzten Male hebt, am höchsten zu preisen. Ich danke Euch nicht, daß Ihr mich dem wüthenden Elemente entrisset und mich zwangt, das Geschäft des Athmens fortzusetzen, aber ich verehre in Demuth Euer greises Haupt; denn es steht mir – das fühle ich klar – als Markstein am Eingange in eine neue Welt des Wirkens und Wollens.“

Er reichte dem Greise mit einem warm aufleuchtenden Blicke seine beiden Hände. Dieser ergriff sie lebhaft und stand wortlos da. Mit freundlichem Schütteln des Kopfes wies er die aufwallenden Gefühle des Jünglings zurück, der nur um so feueriger zu reden fortfuhr:

„Sie nennen Euch Vater Claus, und ich kann Euch nicht anders nennen, denn auch mir seid Ihr ein Vater geworden – durch Euch dem Leben wiedergegeben, bin ich seit heute ein neuer Mensch. Und – wunderbar! – es ist mir, als müßten die dunklen Bahnen meines Geschicks von nun ab einlenken in die Lichtnähe einer wärmeren, freundlicheren Sonne.“

„Das walte Gott!“ sagte der Alte und entblößte, innerlich ergriffen, unwillkürlich das Haupt.

„Und nun hört, wer ich bin und was ich litt!“ nahm der Fremdling das Wort. „Mein Name ist Friedrich Baron Haller von Hallerstein, und meine Güter liegen in Thüringen. Ich bin in Berlin erzogen worden und habe dort meinen Wohnsitz. Diese Reise in den Norden dictirte mir das Gewissen; es galt einem Eid gerecht zu werden, den ich vor zehn Jahren an des Vaters Todtenbett geschworen und vor drei Monaten der sterbenden Mutter in die erkaltende Hand wiederholt, beide Male – ja, ich war schwach genug dazu – gegen meines Herzens bessere Meinung und nur um eine frühere Abmachung der Eltern zu bestätigen, eine Abmachung um des leidigen Mammons wegen. Das Geschlecht Derer von Hallerstein lebte nur noch in zwei Linien. Ich bin der letzte Sproß des deutschen Zweiges der Familie, und der schwedische würde nach dem Tode meiner schönen Cousine Margaretha seine unermeßlichen Güter skandinavischen Adelsgeschlechtern, die mit den schwedischen Hallerstein's verschwägert sind, hinterlassen haben, hätten unsere beiderseitigen Eltern mir das Mädchen nicht schon in der Wiege vorsorglich verlobt. Margaretha wurde früh eine Waise; nun waren wir beide elternlos. Ich hatte meine Braut nie gesehen – wie sollt' ich sie lieben? Gleichviel! Sie hatte mein Wort. In diesen Tagen war sie siebenzehn-, ich fünfundzwanzigjährig. Das war der Termin, an den mein Eid mich band. So ging ich denn zu Schiff nach dem schönen Stockholm, dem der blaue Mälar die Stirn und die brausende Ostsee den Fuß küßt. Hohn des Schicksals! Eine Brautfahrt ohne Liebe!“

Er schwieg einen Augenblick und athmete schwer auf. Die Erinnerung an eine so lange getragene Seelenqual schien ihn zu übermannen. Er drückte den Hut tiefer in's Gesicht, als solle der Andere den Schmerz in seinen erregten Zügen nicht lesen.

„Ich erreichte mein Ziel,“ fuhr er dann gepreßt fort. „Und wie fand ich meine Braut? Schroff und vornehm, kalt und glatt, wie die Schneegebirge des Nordens, der sie erzogen. Dann kam die Hochzeit. Fröhliche, glänzende Feste – und im Innern diese Oede! Die Rückreise machten wir am Bord des 'Kung Carl'. Mein junges Weib sprach nur von den kommenden Huldigungen in den Salons meiner thüringischen Schlösser. Mein Herz war düster wie der Himmel über uns – und an diesem Himmel zog eine drohende Wolkenwand auf. Der Capitain verkündete einen Orkan. 'O,' sagte ich zu mir selbst, 'wer da unten schlafen könnte, still und stumm, tief unter der rollenden Wogen!' Der Sturm brauste herein – wir scheiterten – den Rest meines Schicksals kennt Ihr.“

Vater Claus nickte nachdenklich mit dem Kopfe. „Wie verworren,“ sagte er, „sind die Schicksale der Menschen da draußen in der Welt!“

„Glücklich Ihr in Eurer Verborgenheit!“ seufzte der Baron.

Sie gingen eine Weile schweigend neben einander hin.

[767] „Aber nun zu Eurer Tochter!“ unterbrach Hallerstein die Stille, „ich muß sie sehen; ich muß ihr danken. So scheu davonzufliegen, und dann auf Stunden zu verschwinden – ein seltsames Kind, fürwahr!“

„Ihr sagt's,“ entgegnete der Greis, „und die sie kennen, sagen's auch. Potz Anker und Segeltuch! 's ist etwas Eigenes in dem Mädchen. Hättet sie sehen sollen vor nur wenigen Jahren, als sie noch ein flüchtiges Ding war mit großen blauen Unschuldsaugen und runden, vollen Kinderwangen! Leichtfüßig wie der Wind flog sie über die Felsen hin, sprang über Klüfte und kletterte zu den höchsten Abstürzen hinauf, um die spärlichen Blumen, die sich in den Ritzen des Gesteins angesiedelt, zu pflücken und Kränze daraus zu winden; so geschwind und so geschmeidig flog sie dahin, daß man glaubte, die Engelsschwingen an ihren Schultern wachsen zu sehen. Haupt und Brust bekränzt, kam sie dann heim und tanzte und sang, aber schon im nächsten Augenblick ließ sie träumerisch den Kopf hängen, und traurig – Niemand wußte warum – warf sie die Kränze in's Meer. Oft war sie nach solchem Auftritt stundenlang verschwunden, als schäme sie sich, daß sie Alles anders empfand als andere Menschen, und wenn wir sie suchten und endlich fanden, dann kauerte sie in dem Winkel irgend einer Schlucht, in sich versunken, als hielte sie mit Himmel und Erde, mit Sternen und Muscheln Zwiesprach. Ein einzig Kind, Baron! 'Hexe Karin' nannten sie scherzend die Schiffer, die unsere Insel ansegelten; denn im Morgenroth sahen sie sie mit fliegenden goldigen Haaren auf den Riffen tanzen, und Abends beim Mondschein hörten sie ihren Gesang weithin über die See hallen. 'Karin's Stimme' sagten sie, wenn das Schiff im Nebel den richtigen Cours verfehlt hatte, und wendeten das Steuer und segelten auf unser Eiland zu.“

„Kommt!“ bat Hallerstein, „führt mich zu Eurer Tochter!“

„Nun ist aus dem Kinde eine Jungfrau geworden,“ fuhr der Alte eifrig fort. „Ein Teufelsmädel das! Im Grunde ist sie noch heute wie damals. Gilt's eine Gefahr, gleich fängt sie Feuer, und Keiner hält sie zurück. Wenn ein Schiff gestrandet, begleitet sie uns auf unseren Rettungsfahrten, und manche führt sie sogar allein aus, nur von Rustan, dem treuen Thier, begleitet. Der Rustan! Sag' Euch, ist das ein Hund, stark wie ein Bär! Einen Mann trägt er Euch mit den Zähnen durch die Brandung, ein Schwimmer, wie ein Kerl. Könnte Euch Exempel nennen –“

„Laßt uns gehen!“ fiel Hallerstein dem endlos Schwatzenden in die Rede. „Ich muß das seltene Mädchen sehen. So tapfer und so liebreizend –“

„Ja,“ redete der Graukopf darein, „daß sie liebreizend ist, wißt Ihr, und daß sie tapfer ist, hörtet Ihr soeben aber, Baron, wie klug und gescheut sie ist, das sollt Ihr noch erfahren. Der Tausend! Hab' sie lesen gelehrt in Kalendern und Märchenbüchern – ja, was Ihr wohl meint!? – hab' eine kleine Bibliothek. Und Hedda, mein Weib, kennt die Kräuter der Erde und die Sterne des Himmels. Karin ist ihre gelehrige Schülerin. Sie möchte alles wissen und alles mit ihren Gedanken fassen. Das Mädel hat einen aparten Kopf und spricht wie ein Buch, sag' ich Euch. – Aber ich schwatze zu lange. Kommt denn!“ Er ging dem Baron voran. „Ich denke, wir suchen sie an ihrem Lieblingsplatze, in der Grotte.“ Er schmunzelte vergnügt vor sich hin. „Da wird sich ein freundliches Bild vor Euch aufthun Baron.“

Sie stiegen aufwärts über das Gefels.

„Noch Eines!“ sagte Hallerstein plötzlich stillstehend und seeeinwärts zum Wrack hinüberblickend, „nicht wahr, nur das Vordertheil des Schiffes ist gesunken, aber das Hintertheil –“

„Liegt noch über Wasser,“ erwiderte Vater Claus.

„Dort befindet sich die Kajüte, die unser Quartier war,“ fuhr der Baron fort. „Es liegt mir viel, sehr viel daran, eine kleine Truhe zu bergen, welche sich dort unter meinen Sachen finden muß. Was meint Ihr? Haltet Ihr es für möglich, an das Wrack hinan zu gelangen?“

„Hm,“ machte der Alte, „hab' meine Leute hinausgesandt, zu bergen, was sich bergen läßt. Es sind flotte Kerle. Aber“ – er zeigte auf das Fahrzeug am Ufer – „da seh' ich eben das leere Boot. Sind unverrichteter Sache heimgekehrt. Zum zweiten Male die gefährliche Fahrt – ? Enthält die Truhe Stücke von so erheblichem Werth – ?“

„Familienpapiere,“ antwortete der Gefragte, „und zwar wichtige, wie es scheint. Das Testament meines Schwiegervaters – Ihr wißt, er ist längst todt – verpflichtet mich, die geheimnißvolle Lade am dritten Tage nach der Hochzeit zu öffnen, und in einer Clausel des Heirathsvertrages hab' ich gelobt, diesem Gebot nachzukommen. Meine Ruhe hängt daran, daß ich in den Besitz des Vermächtnisses komme. Aber wenn die Fahrt zum Wrack nur mit Gefahr – ich will kein Menschenleben, nein, bei Gott, Vater Claus, das will ich nicht –“

Der Alte pfiff durch die Finger, daß es gellend durch die Schlucht des Ufers tönte.

„Heda, Axel,“ rief er, „Olaf, Daniel! Potz Anker und Segeltuch, wo stecken die Jungens? Geht, Baron!“ sagte er dann, „will nach ihnen ausspähen und sehen was sich thun läßt, glaub' aber kaum, daß ich's durchsetze, sie noch einmal hinauszutreiben in den Sturm.“

„Ich würde die Truhe mit Gold aufwägen,“ sagte Hallerstein, „aber kein Mensch soll um mich –“

„Geht, Baron!“ unterbrach ihn der Greis. „Ich treff' Euch in der Grotte wieder. Ihr könnt nicht irren. Hier noch eine Weile aufwärts, dann auf der Höhe links um den vorspringenden Felskegel, und Ihr seid am Ort. Adjes!“

Er wandte sich und ging. Noch mehrmals klang sein Pfiff und Hedaruf durch die Luft.

Hallerstein stieg rüstig felsan und erreichte bald ein ödes steiniges Plateau. Hier fegte der Sturm voll und breit durch das niedrige Gestrüpp und spielte in dem harfenförmigen Geäste verkrüppelter Föhren und Fichten sausende, phantastische Melodien. Aber noch ein Klang schwebte fremdartig und seltsam in dem Sturmgebraus. Wie süßer, wehmuthvoller Gesang kam es dahergezogen und doch kräftig und gemüthsursprünglich. Und nun – über Fels und Stein tönte es deutlicher und klarer, Klang um Klang:

„Wie mir geschah,
Da ich ihn sah –
Möcht' Well' und Wolken fragen.
Gefühl der Lust
Schwellt mir die Brust,
In Worten nicht zu sagen.

Möcht' segeln gehn,
Die Welt zu sehn
In bunten Abenteuern
Auf hohem Schiff,
Vorbei am Riff,
Wie wollt' ich südwärts steuern!“

Hallerstein stand und lauschte. Wie hatte doch Vater Claus erzählt? „Karin's Stimme,“ riefen die Schiffer sich zu, wenn sie verirrt waren in der Einöde von Meer und Himmel. „Karin's Stimme,“ flüsterte er vor sich hin. War er nicht auch ein verirrter Schiffer auf dem Meere des Lebens? Gedankenvoll schritt er weiter. Es überkam ihn eine seltsame Stimmung. Er empfand etwas, wie eine unbestimmte Verheißung, wie ein reizendes Märchen, das sein Herz und diese nebelverhängte Einsamkeit mit einander spannen. Nun hemmte er den Schritt. Vor ihm, in einem ragenden, verworrenen Aneinander von Steinblöcken und wirrem Sand- und Muschelgeschwemme öffnete sich breit und hoch ein Felsenmund; es war Karin's Grotte, und aus der Tiefe erscholl jetzt inniger und schmelzender ihr Gesang:

„Am fernen Strand
Weiß ich ein Land,
Wo sanft die Lüfte blauen,
Wo von den Höh'n
Erhaben schön
Die Palmenwälder schauen.

Es athmet sacht
Die Sommernacht
In den beglückten Zonen.
O, könnt' ich dort – –“

Hallerstein war auf die Schwelle der Grotte getreten; in demselben Augenblicke schlug tief drinnen ein Hund an, und das [768] Lied brach plötzlich ab. „O, könnt' ich dort,“ hallte es leise nach und – seltsam! – wie von hundert Flügeln schwirrte es dem Ueberraschten um's Haupt. Ein Schwarm weiß und bunt befiederter Tauben – Tauben in dieser Weltabgeschiedenheit? – flog scheu und flüchtig über ihm hin zur Grotte hinaus, den nächsten Klippen des Gestades zu. Hatte sein Kommen sie aufgeschreckt?

„Tauben, Boten des Friedens,“ rief er, „bringt mir, wie Eure Schwestern einst dem Noah, nach Stürmen den Oelzweig!“

Er trat in die Grotte. War das ein Bild! Schlank und majestätisch, wie Säulen von Künstlerhand, ragten die granitenen Pfeiler empor, von Schlinggewächsen reich umrankt und oft die wunderlichsten Profile bildend. Darüber lastete, leicht in den Linien, aber wuchtig in den Massen, die kühn gewölbte Kuppel, durch deren vereinzelte Spalten und Höhlungen das Licht dämmernd hereinfiel. Der Fuß, der die Grotte betrat, schritt auf einem üppigen Teppich von Moos, auf dem sich ein dichtes Geflecht kriechender und kletternder Pflanzen dahinspann. Die rosa angehauchte Linnéa borealis schmiegte sich mit ihren zarten Fäden in jede Felsritze, auf jede Steinplatte und erfüllte den traulich geheimnißvollen Ort mit dem süßen, sanften Duft der Mandel. Aus einer tiefgehöhlten Nische der Felswand aber rauschte ein Quell plätschernd herab; er durchrieselte in schmaler Rinne hell und klar die Grotte und stürzte sich im Hintergrunde derselben, wo durch eine breite klaffende Oeffnung das schäumende, stürmende Meer hereinschaute, jählings in den weiten, unendlichen Schooß der See hinab.

Hallerstein schien den Zauber der reizvollen Scenerie lebhaft zu empfinden; denn sein dunkles Auge leuchtete in feuchtem Glanze, aber nur flüchtig schweifte es von Pfeiler zu Pfeiler, von Höhlung zu Höhlung, und befremdet und doch entzückt weilte es dann lange und fragend in der Tiefe der Grotte auf einem überraschend zauberischen Bilde: dort, wo das plätschernde Wasser in's Meer hinabrauschte, loderte ein helles Feuer empor, und da stand sie, den treuen Rustan an ihrer Seite, und warf mit der weißen Hand trockenes Reisig in die Gluth, Karin, das liebliche Kind. Die Flamme irrte züngelnd im Zugwinde und beleuchtete magisch die volle, elastische Gestalt des Mädchens, und wie der rothe Schimmer warm und satt auf das schöne Oval ihres jugendfrischen Antlitzes fiel, wer konnte da sagen, ob es nur der Abglanz der flackernden Flamme war, der ihr zitternd auf Stirn und Wangen lag, oder ob sie von innen heraus sich rötheten und leise aufzuckten, diese feinen, seelenvoll ausgemeißelten Züge?

„Ruhig, Rustan!“ rief sie und hielt mit einem raschen Griff das knurrende, kläffende Thier am Nacken, daß seine weißen Haare ihr lang und seidenweich über den kräftig schwellenden Arm wallten.

„Warum verscheucht Ihr Karin's Tauben?“ fragte sie dann mit trotzig aufgeworfenen Lippen, und unter den keck geschweiften blonden Wimpern hervor richtete sie einen langen strafenden Blick auf den Fremdling.

„Verzeiht!“ erwiderte er, „ich kam, Euch zu danken.“ Er sprach es mit dem Tone des Herzens, und das Muskelspiel in seinen Mienen verrieth, daß er innerlich bewegt war.

Als hätte eine weiche Hand ihr leise über's Gesicht gestrichen und alles Herbe und Harte darin verwischt, so plötzlich verwandelt stand Karin da. Mädchenhaft schämig senkte sie den Blick, ganz Anmuth und seelische Schönheit.

„Danken?“ fragte sie mit sichtlicher Befangenheit, „und wofür?“

„Ihr könnt noch fragen?“ entgegnete er. „War't Ihr es nicht, die Ihr erst vor wenigen Stunden hegend und pflegend an dem Lager des armen Ertrunkenen standet? Wuschet Ihr ihm nicht Stirn und Schläfen mit dem duftenden, wärmenden Tranke?“

Karin erwiderte nichts. Mit einem stämmigen Föhrenaste schürte sie hastig das lodernde Feuer und summte leise etwas vor sich hin. Um ihren Mund schwebte es fast verächtlich, als wollte sie sagen: „Als ob das etwas wäre!“

„Und hättet Ihr nichts um mich gethan,“ fuhr Hallerstein fort, „als, da ich erwachte, mir nahe zu sein mit holdseliger Gegenwart – – –“

„Wollt Ihr Karin's Taubennester sehen?“ unterbrach sie ihn schnell, und eine dunkle Röthe flammte in ihrem Gesicht auf. „Soll Karin Euch ihre Rankengewächse zeigen oder ihre Eriken in den Nischen der Grotte? Kommt, wir wollen Steine in den Wasserfall werfen; es sieht so lustig aus, wenn sie polternd in das Meer hinabkugeln.“

Hallerstein stand regungslos da, wie im Banne dieser holden Mädchenblüthe. Seine Gedanken schienen weitab zu wandern; denn er schwieg.

„Nun, wie Ihr wollt!“ sagte endlich Karin; sie nahm behende ihr Halstuch ab und fegte damit den Sand von einer niedrigen Felsbank hinweg, die im warmen Schein des Feuers lag. „Es friert Euch,“ meinte sie mit freundlicher Sorge, „setzt Euch!“

„Wie gut Ihr seid!“ antwortete er und ließ sich neben der knisternden Flamme nieder. „Und was treibt Ihr hier in der seltsam phantastischen Höhle?“

„Ich füttere meine Tauben und wärme mich am Feuer – sie sah ihn mit ihren großen Augen ruhiger an als zuvor – „es ist so traulich und heimlich hier unter den Felsen; nur von fern hört man Wind und Wellen rauschen – und Karin liebt die Stille.“

„Die Stille!“ wiederholte er träumerisch, „nicht wahr, es spinnt sich Gedanke an Gedanke; Alles um uns versinkt, und die Seele hebt sich und wächst –“

„Kennt Ihr das auch?“ fiel sie ihm lebhaft in's Wort. „O, das freut mich. Ja, Gedanke an Gedanke, und die Seele wächst, aber Karin ist eine unzufriedene Seele und unruhig, wie die flackernde Flamme hier. Seht Ihr den Rauch durch die Spalten des Felsens ziehen, hoch und immer höher, zu den Wolken hinan? Das sind – aber lacht mich nicht aus! – das sind Karin's Gedanken. Meint Ihr nicht auch, es müßte schön sein, zu schauen, was da oben ist, da oben hinter den Wolken?“

Hallerstein lächelte. „Wunderlich Mädchen!“ flüsterte er vor sich hin. „Bis in die Einöde dieser Klippen drang das süße Gift des Denkens.“

„Und weil ich nicht schauen kann, was da oben ist,“ fuhr sie mit einem leichten Anhauch von Wehmuth fort, „darum ist meine Seele wie die flackernde Flamme –“

„Unstät und heiß,“ ergänzte er. „Aber glaubt Ihr nicht, daß da oben ein Gott wohnt, der über uns waltet und webt, ein gütiger Gott, der mich soeben errettet aus sicherem Tode?“

„Ein Gott?“ fragte sie zögernd zurück; sie hatte den Finger sinnend an die Lippe gelegt. „Ich weiß nicht, was Ihr damit meint. Mutter Hedda, wenn sie des Abends in den Sternen liest, hat mir den Namen wohl oft genannt, aber Karin versteht ihn nicht und meint, es ist nur ein Name. Und doch – so oft ich das Wort vernehme, stets ergreift mich dasselbe unnennbare Gefühl. Es liegt etwas Großes in diesem kleinen Wort; halb macht es mich erbeben, und halb entzückt es mich. Wißt Ihr – aber nein, ich sag' es nicht,“ brach sie plötzlich ab und warf neues Reisig in die Flamme. „Daß wir auch gleich darauf zu sprechen kommen!“

„O, redet weiter!“ bat er.

„Es ist nichts,“ meinte sie und blies die Reste des Reisigs von der kleinen, schmalen Hand. „Nur ein thörichtes Gefühl – nichts weiter.“

„Sprecht!“ drang er freundlich in sie.

„Nun gut!“ sagte sie zögernd und setzte sich zu ihm auf die Steinbank. „Aber Ihr werdet Karin nicht verstehen, fürchte ich. Seht Ihr dort die kahle Klippe?“ – und sie deutete durch die Felsenöffnung auf einen mächtigen Granitkegel – „es ist die höchste Spitze der Insel, und wir heißen sie: den Mövenstein. Wenn ich einsam dort oben stehe im hellen Sonnenglanz oder im falben Mondlicht, dann schläft das Ohr in der lautlosen Stille und der Blick schweift mit den Wellen weithin in die Leere. Vielleicht weckt ein Stein, der in's Wasser fällt, einen schwachen Hall an der Felswand, oder der Schatten eines vorüberziehenden Vogels huscht flüchtig über das dunkle Moos hin; sonst ist Alles todt – und nun kommt es leise über mich und packt mich gewaltig, das seltsame, unsagbare Gefühl. Ein Abgrund zu Füßen, [770] 'Da wohnen sie,' spricht eine Stimme in mir, 'die gleich geschaffen sind, wie Du, die Gleiches fühlen, Gleiches leiden – die Tausende da draußen in der Welt.' Und es ist mir, als winkten mir tausend Hände, als öffneten sich tausend Arme – und dann faßt es mich wieder an, das Gefühl des Schauderns und Entzückens; sie zieht mich zu sich hinüber, die unbekannte Welt jenseits des Wassers, und – sagt, ist dieses Gefühl nicht auch Gott?“

„O Du herrliches Kind!“ rief er und ergriff ihre Hand. „Höchstes flammt in Deinen Worten.“

„Könnt' ich das Höchste nennen,“ erwiderte sie und entzog ihm schüchtern ihre Hand, „es wäre nicht Gott. Aber ich will auch nicht das Höchste; denn es läßt sich nicht fassen; schauen will ich es – schauen und leben – leben und – ja, ich weiß nicht, was ich will.“ Sie sann einen Augenblick nach. „Hört, die da drüben wohnen, in Städten und Dörfern, fühlen sie wie Karin? O, thäten sie es doch! Mitgefühl will ich – vielleicht ist es das.“

„Die da drüben wohnen!“ seufzte er. „Ach, in ein altes Buch bannen sie Karin's Gott und beten ihn an in Häusern von Stein.“

„Gott in ein Buch, in Häusern von Stein?“ fragte sie ungläubig lächelnd. „O, ich mag sie nicht, Eure Menschen. Ich kann sie nicht verstehen, nicht lieben.“

„Ein Engel wärest Du unter ihnen!“ sagte er begeistert. „Die Sterne ursprünglichen Empfindens und reinen Lebens sind längst untergegangen an ihrem Himmel. Eng und dumpf wohnen sie in großen Städten, und die schöne Einfalt der Natur ist ihnen lange gestorben. Wahn und Vorurtheil sitzen auf dem Throne; Haß und Hader schüren die Flamme, und um Mein und Dein ist ein ewiger Krieg. Du bist gut, Karin, aber sie – – o, frage mich nicht!“

„Nein, nein, nein, ich will sie nicht,“ fuhr Karin auf und erhob sich mit einer raschen Bewegung des Unwillens; sie strich das üppige Goldhaar kräftig, fast zornig aus der Stirn und warf den Kopf stolz in den Nacken. In dem lieblichen Kindergesicht leuchtete wieder der alte blitzartige Trotz auf. „Ich hasse Eure Menschen“ – sie schwieg – „ich hasse sie, weil Ihr sie scheltet,“ fügte sie sanfter hinzu, und dann sagte sie fast wehmüthig: „Karin paßt nicht in Eure Welt; Karin muß einsam bleiben immer und immer; Niemand, Niemand wird Karin lieb haben.“

„Der vor Dir steht,“ betheuerte er, „hat Paläste gesehen und Hütten, aber sein Herz blieb kalt. Und heute, da er Dich sah, Karin –“

„Ihr könntet Karin gern haben?“ fragte sie freudig erstaunt, und der ganze Zauber kindlicher Unbefangenheit blickte aus ihren Augen.

„Ja!“ sagte er. „Sehr, sehr!“ Er legte die Hand leicht an ihren Nacken und hob mit der andern ihr lächelndes Angesicht sanft empor.

„O, dann ist Karin fröhlich,“ sagte sie fast muthwillig. „Dann endet das Gefühl des Alleinseins,“ und ihr Blick ruhte lange und innig in dem seinen. „Es ist in mir ein Durst“ – sie schien über ihre eigenen Worte zu erschrecken, und der Schatten einer leichten Röthe flog über ihre Wangen – „ein großer Durst nach – hah! meine Tauben!“ brach sie plötzlich ab. Durch den Eingang der Grotte schweifte in großem Bogen, an der Wölbung hin, die schwirrende Schaar, und schnell, wie sie gekommen verschwand sie wieder durch den Ausgang.

„Ein großer Durst nach –?“ fragte Hallerstein.

„Der Habicht!“ schreckte sie plötzlich auf. „Der Habicht jagt meine Tauben,“ und über Klippen hinweg, hart an dem schäumenden Wasserfall vorüber, war sie in der Felsenwölbung verschwunden – mit ihr in mächtigen Sätzen Rustan, ihr treuer Gefährte.

„Ein großer Durst nach –?“ fragte Hallerstein träumerisch, indem er ihr nachblickte, und das Echo der Grotte neckte den einsamen Frager. „Nach der Liebe eines verwandten Gemüthes!“ antwortete er sich selbst, „welch eine Perle fand ich zwischen Fels und Klippen!“

Es war still rings um ihn; die Flamme knisterte leise, und als er hinzu trat, verglomm eben das letzte Reisig. Die feurigen Aederchen zerfielen, eine nach der andern, und mit den letzten Funken, die in der Asche erstarben, versank Hallerstein tiefer und tiefer in seine einsamen Gedanken. Sein früheres Leben zog an ihm vorüber: Leerheit und Lüge die vornehme Menschenwelt um ihn und ein Sclave, der nach Freiheit schreiet, das Herz in ihm – Ungenügen und Unlust mitten in einem Leben voll Glanz und Ueberfluß. Dann ein Bund, ein schmählicher Bund mit einem ungeliebten Weibe und Müdigkeit und Sättigung in der Blüthe der Jahre. Und nun? Die Eriken in den Nischen der Grotte dufteten es ihm entgegen, würzig und weich, der Wogenprall am Gestein rief es ihm zu, laut und lärmend: es ist Alles anders worden – plötzlich, wie ein Frühling, der in einer einzigen Nacht erblüht ist. Und er griff sich an's Herz und fragte sich: was wird nun kommen? Da scholl es vom Strande herüber – er kannte die Stimme, Karin's Stimme, die den Schiffern ertönt auf der bangen Irrfahrt – und sein Ohr trank durstig die schmelzenden Klänge:

„Es athmet sacht
Die Sommernacht
In den beglückten Zonen.
O, könnt' ich dort
Im stillen Port
Mit Dir, Geliebter, wohnen!“

Er lauschte athemlos – er bedeckte beide Augen mit den Händen, und einen Augenblick stand er träumend da. Draußen fielen die Wellen, sich hebend und senkend, mit gleichmäßigem Geräusche auf den Strand nieder, donnernd und brausend. Ein Lufthauch wehte ihn vom Ausgange der Grotte her feucht an; mit leichtem Frösteln trat er an den Wasserfall und blickte zur Felsöffnung hinaus. Himmel und Wasser noch immer im Sturm! Gegen Ost, West und Süd keine andere Grenze als Wellen und Wolken, schäumend und jagend. Seine Gedanken schifften mit Fluthen und Aether – es schauderte ihn heimlich. „Und morgen kann es Sonnenschein sein,“ sagte er leise vor sich hin, und sein Auge irrte durch den in Staub verwandelten Gischt, der die ganze Landschaft wie in Nebel hüllte.

Nun blieb sein Blick an einer vorspringenden Klippe hängen; vier Männergestalten standen darauf: Vater Claus mit den drei Burschen. Sie gesticulirten lebhaft. Der Alte zeigte wiederholt in die See hinaus und sprach eindringlich, aber die Anderen schüttelten die Köpfe und machten abwehrende Bewegungen. Was hatten sie vor? Dicht über den Vier, eine Felsterrasse höher, bewegte sich etwas auf einer breiten, flachen Steinplatte, schimmernd und schneeig – es waren Rustan's weiße Haare; mit gehobener Schnauze witterte er in den Sturm hinaus. Jetzt wehete es dicht neben ihm goldig durch die feuchte Luft; ein Mädchenkopf erschien im Nebel, und nun die ganze Gestalt. Karin beugte sich tief nieder; sie lauschte auf das Gespräch der Männer unter ihr. Dann machte sie eine energische Bewegung, wie Jemand, der einen schnellen Entschluß faßt. Sie winkte – sie kletterte die Felsen hinab. Olaf kam ihr auf halbem Wege entgegen. Sie sprachen mit einander; er nickte zustimmend, und schnellen Schrittes gingen sie davon und verschwanden in der Richtung zum Strande hin, wo das Boot lag. Rustan folgte ihnen.

Wie im Traum sah Hallerstein dieses Bild an sich vorüberziehen – noch beherrschte ihn ganz das eben Empfundene. Wie im Traum verließ er die Grotte – wie im Traum stieg er über die Felsstufen zum Ufer hinab. Die ziehenden Wolken des Sturmhimmels warfen ihre tanzenden Reflexe auf den steinigen Strand; es war eine mystisch-unstäte Beleuchtung, die über der Landschaft lag. In den Unterspülungen des Ufers gurgelten und glucks'ten die Wasser und wuschen die Steine aus dem Sande. Dort unten, zwischen Wurzeln und verworrenem Pflanzengerank, lag ein todter Baumstamm. Hallerstein setzte sich darauf und blickte gedankenvoll in die stürmende See hinaus; er spürte nicht Wind; er spürte nicht Wetter – er blickte hinaus, hinaus. Die Sonne stand hoch am Himmel – er sah nicht, wie sie den Nebel durchbrach. Es giebt Stimmungen in der Menschenbrust, wo Gedanken zu Träumen, Gefühle zu Ahnungen werden, geheimnißvolle, wolkenverhängte Stimmungen. Zwischen Himmel und Erde thront das Räthsel, und alles Höchste trägt den Schleier.

(Fortsetzung folgt.)



[771]
XXIV.


Wie sind Sie glücklich, verehrte Freundin, fern von dem Qualm der Städte ein beschauliches Leben führen zu können, ungestört von dem Lärm der gesellschaftlichen Vergnügungen, die, so verschieden ihre modischen Namen sein mögen, stets doch denselben Geist der Langenweile athmen! Sie kennen vielleicht noch gar nicht die modernen „Routs“, jenen höheren Grad verfeinerter Geselligkeit, bei welchem man auf die materiellen Genüsse verzichtet, ohne dafür geistige einzutauschen. Diese opferfreudige Verneinung jedes aufdringlichen Lebensgenusses zeigt, bis zu welcher Höhe der moderne Stoicismus sich erhoben hat; ja, er beschränkt sich nicht auf diesen Verzicht; er nimmt wirkliche Unannehmlichkeiten mit in den Kauf; denn mancher „Rout“ gleicht einem etwas civilisirten Volkstumult, mit leise angedeuteten Erstickungsgefahren; es ist oft unmöglich, einen nur zehn Schritt entfernten Bekannten zu erreichen und zu sprechen, weil der Weg zu ihm durch mehrere Kleiderschleppen und einige wie photographisch fixirte Gruppen versperrt ist, die sich nicht vom Platze rühren. Einer meiner Freunde, der in Folge einer unglücklichen philosophischen Neigung fortwährend auf der Jagd nach Begriffsbestimmungen für die Dinge dieser Welt sich befindet, erklärte mir einmal: „Ein Rout ist eine Gesellschaft, in welcher man nichts zu essen bekommt und sich gegenseitig auf die Füße tritt.“

Doch nicht von den „Routs“ wollte ich mich mit Ihnen unterhalten, sondern von einem andern gesellschaftlichen Vergnügen, ich meine vom Theater. Die „Routs“ gehören nicht in einen Literaturbrief, sie haben mit der Literatur nichts zu thun; – freilich! das Theater ist auch bald auf diesem Standpunkte angekommen; denn die Stücke, die am meisten gegeben werden, sind am wenigsten lesbar, und die meisten Treffer auf der Bühne sind Nieten für die Literatur. Sie haben seit Jahren vielleicht kein Theater besucht; Sie wissen nicht, wie einem Theatergänger zu Muthe ist, der fast allabendlich, mit dem Operngucker bewaffnet, Thaliens Tempel besucht und Studien auf der Bühne und im Zuschauerraume macht. Diese Theaterluft hat oft etwas Erstickendes; denn hier fehlt die äußere und dort die geistige Ventilation. Es weht durch unser ganzes Bühnenwesen eine etwas dumpfe Luft, und an dieser Verdumpfung haben die verschiedensten Factoren schuld.

Wir sind, verehrte Freundin, von der Lessing’schen Nationalbühne sehr weit entfernt. Ein berühmter Gelehrter am Neckar, der vier dicke Bände über Shakespeare geschrieben hat, verkündete einmal, das deutsche Volk werde erst ein großes historisches Drama haben, wenn es wieder Tragödien in der Wirklichkeit erleben würde.

Gervinus war stets unglücklich, wenn er den delphischen Dreifuß bestieg; auch in der Politik traf von Allem, was er prophezeite, das Gegentheil ein. So erging es ihm auch mit der Vorverkündung der im geschichtlichen Feuer wiedergeborenen Nationalbühne. Es kamen die Jahre 1848 und 1849, denen es durchaus nicht an geschichtlichem Sturme und Drange und an tragischen Begebenheiten fehlte; es kamen die Kriege von 1866 und 1870, die Gründung des neuen deutschen Reiches: Ereignisse, mit deren Bedeutung sich nichts von dem vergleichen läßt, was im Shakespeare’schen Zeitalter geschah, aber die deutschen Shakespeares, die große Tragödie blieb aus, mindestens auf der Bühne, deren Niveau immer mehr zu verflachen droht. Dramen, welche nationale Stoffe behandeln oder von patriotischem Geiste durchweht sind, lassen das Publicum kalt; ja, die Besiegten von Sedan sind die Sieger im deutschen Theater geworden, und französische Stücke überfluthen unsere Bühnen, nach 1870 noch mehr als früher. Deutschland im Schlepptau der französischen Cultur, und zwar nachdem das deutsche Kriegsschiff das französische in den Grund gebohrt hat: welch ein demüthigendes Schauspiel!

Die Abneigung gegen die ernste Dichtung höheren Stils ist eine Thatsache, die von allen Seiten zugestanden wird. So war es nicht in den Glanzepochen dramatischer Kunst, so nicht in Hellas in der glorreichen Zeit der griechischen Tragiker, so nicht im alten England, zur Zeit Shakespeare’s, so nicht in Deutschland, als Schiller seine Trauerspiele dichtete. Mit der Pflege der Tragödie sind alle classischen Epochen der Dichtkunst stets verbunden gewesen. Die Tragödie bleibt immer die höchste Gattung des Dramas; sie erfordert einen Dichter; die anderen Stücke lassen sich mit einem gewissen Maß von Bildung, Stil- und Bühnengewandtheit abfassen. Gleichgültigkeit gegen die Tragödie ist Gleichgültigkeit gegen die Poesie, und wo diese zur Signatur eines Zeitalters gehört, da ist es ein Zeitalter literarischen Verfalls.

Es ist ein eigen Ding um die Classicität, verehrte Freundin: Niemand weiß den Zeitpunkt zu bestimmen, wo sie einen Dichter mit ihrem Heiligenscheine umgiebt; ja es giebt der Ketzer genug, die sie nur für eine fixirte Mode halten. In der That ist es Mode, die Classiker zu besitzen und zu vergöttern, aber ihr Einfluß auf die Gesinnung unserer Zeit ist weit geringer, als man gewöhnlich glaubt. In wie vielen hunderttausend Exemplaren vom Palaste bis zur Hütte sind Schiller’s Werke verbreitet, wie macht sich die Jugend von den Dorfschulen bis zur Universität mit ihnen vertraut – und doch – kümmert sich unser Volk um seine ästhetischen Lehren? Wie hat er in seinen Distichen „Shakespeare’s Schatten“ den Realismus der Ifflandiaden, des bürgerlichen Dramas, gegeißelt, doch diese unsterblichen Gedenkverse sind in den Wind geschrieben; nach wie vor will das Publicum auf der Bühne nur die modernen Ifflands und Kotzebues: man glaubt wunder was für neue Genres entdeckt zu haben, wenn man im Stile von „Menschenhaß und Reue“ dichtet.

Das bürgerliche Drama, etwas verbirchpfeiffert und französirt, hat mit Lustspiel und Posse im Bunde fast die ausschließliche Herrschaft auf unserer Bühne.

Gewiß, auch diese Gattung hat ihr gutes Recht; wir finden sogar, daß Schiller zu scharf gegen sie in’s Feld gezogen ist; aber sie darf doch stets nur in zweiter Linie stehen. Sonst verwöhnt sie das Publicum. Es ist so bequem in den Spiegel zu sehen: man verlernt aber darüber, denn Blick höher hinauf zu richten.

Viele werden indeß leugnen, daß die Tragödie mit der Ungunst des Publicums zu kämpfen hat: wie, werden jetzt nicht sogar Shakespeare’s Historien zur Aufführung gebracht, oft in einem zusammenhängenden Cyclus, sodaß eine ganze Theaterwoche mit der tragischen Maske erscheint? Welch ein Fortschritt gegen das vorige Jahrhundert! Und wird nicht Goethe’s „Stella“, ja selbst der zweite Theil des „Faust“ jetzt auf die Bühne gebracht? Giebt man nicht überhaupt den „Faust“ in allen möglichen Einrichtungen und Gestalten, auf der eintheiligen und der dreitheiligen Bühne, in zwei, drei und fünf Theilen? als Mysterium, als Passionsschauspiel? Welch ein Respect vor der ernsten Dichtung!

Wir holen wenigstens das Versäumte nach und sind classischer, als das achtzehnte Jahrhundert war. Der zweite Theil des „Faust“ ist freilich eine Errungenschaft des neunzehnten; aber es sind Jahrzehnte vergangen, ehe man sich entschloß, ihn auf die Bühne zu bringen. Nun, er wirkt ja wie jedes Ausstattungsstück, bei dem es auf den Text nicht sonderlich ankommt. Was Goethe in das Stück hineingeheimnißt hat, kann ja auf der Bühne nicht ohne Commentar verstanden werden; dafür sieht man in dem Wirrwarr von halb und ganz allegorischen Scenen allerlei bunte, schönbeleuchtete Schaustücke, und wenn Musik und Tanz dazu kommt, so kommt ja ein Schauspielabend zu Stande, der sich mit einem Opernabend einigermaßen messen kann. Da schadet's ja auch nicht soviel, wenn man einmal das Textbuch vergessen hat und nicht recht weiß, was eigentlich auf der Bühne vorgeht. Was aber die Shakespeare’schen Historien betrifft, so sind wir Deutschen, abgesehen von dem, was des Dichters Genie unserem Geist und vor allem was die glänzende Inscenirung unserer Schaulust bietet, ja stets geneigter, uns für britischen Patriotismus zu erwärmen, als uns von unserem eigenen erwärmen zu lassen.

Nein, verehrte Freundin, ich sehe in allen diesen Experimenten nur Triumphe des Epigonenthums und finde, daß der Hochdruck einer mit so vieler Pferdekraft von Commentaren, Bühneneinrichtungen, Zeitungsnotizen arbeitender Classicität auf der Entwickelung unserer neuen Literatur in verhängnißvoller Weise lastet. Es wäre eine Schande für die Bühne, wenn sie nicht das Große der großen Dichter auf ihrem Repertoire bewahrte, aber das Verfehlte der schlafenden Homere, das Schwächliche und Grillenhafte, das Altersschwache und Veraltete, das Fremdartige gehört nicht auf die Bühne; das möge man der Literaturgeschichte und dem Privatstudium überlassen!

Durch die Darstellung der classischen Tragödien glaubt man

[781]
3.

„So!“ sagte Vater Claus, indem er mit Daniel von der Felsenhöhe herabkam und sich der Hütte zuwandte, „nun haben wir jeden Winkel und jede Höhle der Insel durchsucht – sie sind verschwunden.“

„Ja, Herr!“ meinte Daniel und sah ihn mit offenem Munde schläfrig an.

„Potz Anker und Segeltuch!“ fuhr der Alte fort, „ein räthselhaftes Mädchen ist und bleibt sie doch. Heute Nacht noch Gischt und Gezische, wie wenn Feuer und Wasser zusammengerathen, sowie ich nur den Namen nenne. 'Nein, den Olaf nicht,' zeterte sie, 'den nicht!' – und nun? Fort, Beide fort! Die Dämmerung bricht schon herein. Vier Uhr und noch immer nicht zurück! Ist Dir je so etwas vorgekommen, Daniel?“

„Nein, Herr!“ entgegnete er und blinzelte ihn wieder mit seinen kleinen Augen dumm an.

„Und wohin?“ polterte der Graukopf verdrießlich und knöpfte in innerer Unruhe seinen Rock zwecklos auf und dann wieder zu. „Gott weiß es. Hinaus könnte man bei dem Höllenwetter allenfalls segeln, obgleich es ein tolles Stück wäre –“

„Ja, Herr.“

„Aber hinein in den Felsenhafen gewiß nicht, ohne unbarmherzig zu ersaufen.“

„Nein, Herr.“

„Hast Du dem Axel aufgetragen, nachzusehen, ob das Boot an der Kette liegt?“

„Ja, Herr.“

„Und ihn seitdem noch nicht wiedergesehen?“

„Nein, Herr.“

„Zum Kukuk mit Deinem: 'Ja, Herr – nein, Herr!' Geh’ selbst und sieh’ nach dem Boote!“

„Ja, Herr.“

Daniel setzte seine breiten, plumpen Stiefel eben in Bewegung, als Vater Claus ihm nachrief: „Halt, mein Junge! Da kommt Axel selbst.“

„Das Boot ist fort,“ sagte Dieser, indem er über die Klippen zu ihnen daherkam, „fort mit Rudern und Segeln, Herr. Nur das andere Boot, das schon seit Wochen leck ist, liegt an der Kette.“

„Verdammt! So ist kein Zweifel mehr,“ fluchte der Alte und stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf.

„Eine Entführung, wie sie im Buche steht!“ lachte Axel, aber in sein Lachen mischte sich doch heimlich ein Ton ängstlicher Beklommenheit.

„Das begreife, wer kann!“ wetterte der Greis, und in seinem sturmzerfressenen Gesichte standen Zorn und Schmerz zugleich.

„Weiberherzen, Weiberherzen!“ spottete Axel weiter.

„Blasser Undank!“ seufzte Vater Claus, „hab’ ich sie nicht gehalten wie mein eigen Kind?“

Wie Euer eigen Kind?“

„Ja doch, Junge! Eigen Kind oder nicht – brauchst nicht gleich Alles auf die Goldwage zu legen,“ murrte er, und um seine Mundwinkel spielte etwas wie versteckte Verlegenheit. „He, Baron!“ rief er dann abbrechend Hallerstein zu, der, das Fernrohr am Auge, soeben auf der Höhe eines benachbarten Felsens erschien. „Seht Ihr etwas?“

„Einen schwarzen Punkt, wie ein Boot,“ antwortete Dieser mit dem Ausdrucke höchster Erregung. „Ja, ein Boot – eine schlanke Mädchengestalt darin – Karin! Nun etwas hell Schimmerndes – Rustan’s weiße Haare! Und da, da – eine Mannesgestalt –“

„Das ist Olaf,“ unterbrach ihn der Alte, der zu ihm getreten war und durch das Fernrohr in den Orkan hinaus gelugt hatte. „Nur ein Wunder kann sie retten. „Daniel,“ wandte er sich an den Burschen, „lauf’ und bringe Stricke und Rettungskörbe zur Stelle! Wollen thun, so viel wir vermögen. Vorwärts!“ Daniel ging. –

Eine Minute später standen die Anderen, Mutter Hedda unter ihnen, auf dem Felsen um den Baron; sie blickten angstvoll in die See hinaus. Schon dunkelte der Abend, und noch immer war der Sturm im Wachsen. Er schwang seine feuchten schwarzen Fittige mit einer Gewalt, daß das Wasser sich in wilder Empörung aufbäumte. Es war, als wollte die Fluth das Land in rasendem Ansturze hinabschlingen. Das kleine Fahrzeug schoß mast- und ruderlos mit fliegender Schnelle vor dem Wetter her, über die Untiefen hin und an drohenden Felsbänken vorüber. Plötzlich tönte, wie eine Geisterstimme, angstvolles Rufen durch den Sturm. Alle fuhren erschrocken zusammen.

„Sie sehen uns,“ sagte der Alte? „Olaf ruft uns an. Himmel und Hölle! Was thun? Wie helfen? Unser zweites Boot ist leck.“

„Wir können nicht wider die Sterne,“ meinte Mutter Hedda.

Das Sausen des Windes schwieg einige Secunden, und durch die Stille der Luft gellte wieder der Nothruf Olaf’s, wie die [782] Stimme eines Sterbenden. Ein Schwarm schrillender Möven, wie er einem neuen Windstoß voranzufliegen pflegt, schoß unstät über die im Abenddunkel liegenden Felsklippen hin, und Gischt und Wolken jagten hinterdrein.

„Seht doch, Herr!“ rief auf einmal Axel, „Karin hält etwas Dunkles umklammert, als wollte sie’s nicht fahren lassen im Sturme. Sieht es nicht aus, wie eine kleine Kiste?“

„Wär’ es möglich? Sollte denn –?“ rief Vater Claus, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt; „das könnte Euere Truhe sein, Baron. Sie kommen vom Wrack, die Verwegenen!“

„Meine Truhe! Ja, sie ist’s,“ fuhr erschrocken Hallerstein auf, der durch’s Fernrohr scharf hinaus gespäht hatte. „Ha, war es so gemeint? O, Du heldenmüthiges Mädchen!“

„So ist Alles klar,“ sagte der Alte.

„Helft, rettet!“ wandte Hallerstein sich an die Umstehenden. Er rang die Hände – seine Blicke flehten. „O, daß nicht ich, ich selbst nicht helfen kann!“

„Alles ist zu spät, fürchte ich,“ kam es dumpf von des Greises Lippen. „Hierher, Daniel!“ winkte er dem Burschen, der eben mit Leitern und Stricken zurückkehrte. „Halt’ Alles bereit!“

Abermals erscholl der Ruf vom Boote her. Er verhallte in dem Tosen von Wind und Wasser; denn wilder als je vorher, brausend und zischend, kam jetzt die Bö über die schwarze Tiefe dahergefegt; sie kämmte die weißen Häupter der Wellen heulend ab und überfiel das kleine Fahrzeug mit wüthendem Anpralle. Tief auf die Seite gepreßt, tanzte es bald auf dem Rücken einer riesigen Welle, bald fuhr es mit gewaltigem Rucke in den gähnenden Abgrund hinab, und wie eine tanzende Wolke von Schaum und Sprühregen stürzte das Wasser darüber hin. Inzwischen brach das Dunkel mehr und mehr herein.

„Hilf, Himmel,“ rief der Alte, „jetzt gerathen sie in die Brandung. Ein Augenblick noch, und Alles ist entschieden. Holla, Axel, Daniel, die Stricke los, die Körbe herbei!“

Das Herüber und Hinüber der Stimmen klang wie ein wirres Gemisch von Flüchen und Gebeten durch den brausenden Orkan, und der Widerhall der einzelnen Windstöße sprang von Klippe zu Klippe, eine endlos hallende Sturmsymphonie. Ein Hülferuf noch vom Boote her, ein geller Verzweiflungsschrei – und eine machtvoll rollende Sturzwelle schleuderte das Fahrzeug mit dumpfem Krache mitten in das spitzige Gezack der Uferklippen. Die Brandung rollte in donnerndem Getöse darüber hinweg und rannte grollend gegen das steil ansteigende Gestade. In demselben Momente flogen Stricke und Rettungskörbe, von Axel’s nervigem Arme geworfen, in das mit weißem Schaum überschüttete Boot – umsonst! Die nächste zurückrollende Welle zeigte ein gräßliches Bild: Gekentert, mit dem Kiele nach oben, tanzte das Fahrzeug auf der Fluth, unter dem Zuge der Wellen steigend und sinkend. Krampfhaft an Bug und Flanke des Bootes geklammert, hing Karin im Tumulte der Wellen; ihre Arme leuchteten wie weiße Korallen am Riffe durch die Dämmerung, und schäumende Wasserzungen leckten, eine nach der andern, lüstern darüber hin. Weitab von ihr, jenseits des Bootes, kämpfte Olaf verzweifelt mit den Wellen, aber hoch oben auf dem Kiele des gekenterten Fahrzeuges, gleitend und glitschend auf dem nassen, schlüpfrigen Boden, stand Rustan und heulte und wimmerte in den Sturm hinaus.

„Leitern her!“

„Der Bursche ist verloren.“

„Werft die Stricke noch einmal!“

„Rettet das Mädchen!“

Die Rufe hallten und verhallten in wirrem Durcheinander. Nun noch ein letzter Aufschrei. Olaf winkte wie zum Abschied und versank am Felsen in die schwarze Tiefe.

In demselben Augenblicke ließ Karin mit erlahmenden Kräften das Boot fahren; sie machte eine verzweifelte Anstrengung; sie versuchte zu schwimmen, und – wirklich! – mit starken Armen theilte sie die anstürmenden Wasser, aber nur wenige Schläge – eine Welle faßte sie und warf sie mit zerschmetternder Wucht gegen die scharfe Kante einer Klippe; ihr Haupt sank zurück, kraftlos, ohne Regung. Da – mit gewaltigem Satze war Rustan vom Boote herab und neben der Sinkenden; er schlug seine Zähne in ihr Gewand und, ein rüstiger Ringer und Retter, ruderte er mit der kostbaren Last durch Braus und Brandung.

„Er kann sie nicht retten; er muß unterliegen,“ wehklagte Vater Claus, aber das kräftige Thier strebte tapfer dem Ufer zu. „Nun faßt ihn der Strudel zwischen den Riffen; der wird ihn verschlingen.“

In wildem Wirbel wurde Rustan hin und her geschleudert, und secundenlang war er den Blicken der angstvoll Zuschauenden entschwunden, dann aber blickte sein Kopf aus den Wellen hervor, verschwand abermals und tauchte endlich doch wieder auf.

„Seht!“ rief jetzt der Baron, „ein gigantischer Wasserberg rollt daher, größer als alle anderen zuvor,“ und in demselben Augenblick versanken Hund und Mädchen in den brodelnden Schaum einer sie überschüttenden riesigen Woge. „Vorbei!“ schluchzte Hallerstein wild auf; „alles vorbei!“ aber aus Gischt und Gährung tauchte Rustan’s zottiges Haupt auch diesmal wieder empor, nur noch eines Steinwurfes Weite vom Ufer entfernt. Er trug die Ohnmächtige wie mit eisernen Zähnen keuchend durch das entfesselte Element, allein seine Kraft schien fast erschöpft. Jetzt fuhr der Orkan mit gesteigerter Gewalt über die Wasser hin. Noch eine brandende Welle – und gerettet auf dem Felsen des Strandes lagen Hund und Herrin.

In dem nun völlig hereingebrochenen Zwielicht der Nacht gewährten die Zwei einen ergreifenden Anblick: die Augen halb geöffnet, ohne Glanz, ohne Leben, lag Karin regungslos und starr auf dem dürftigen Moose hingestreckt, ein stilles, reines Alabasterbild; ihr langes, goldig schimmerndes Haar hing tropfend über einen Granitblock. Aber über ihr, keuchend auf ihre Brust gepreßt, rang Rustan, der muthige Schwimmer, mit fliegenden Flanken nach Athem. Er hatte die triefenden Tatzen wie umarmend um ihren Hals gelegt und blickte ihr mit seinen klugen Augen groß und fragend in das schöne bleiche Antlitz. Ein Stern schimmerte durch die Wolken herab und umwob das rührende Bild mit seinem zitternden Lichte.

Hallerstein war der Erste, der hinzutrat, nur ein Blick auf Karin, und „Todt, todt!“ rang es sich von seinen Lippen. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. Von Schmerz übermannt, taumelte er in die Arme des herbeigeeilten Axel. Die ungeheuern Erlebnisse von gestern und heute hatten endlich seine Kraft erschöpft. Mit schwindendem Bewußtsein hörte er noch, wie Mutter Hedda, die mit dem Alten vom Felsen herabkam, etwas murmelte von der niemals trügenden Schicksalsschrift am Firmament und der Menschen Ohnmacht. Er fühlte sich aufgehoben, hinweg getragen – die Sinne schwanden ihm völlig, und Dunkel umgab ihn. –

Als er wieder erwachte, lag er in voller Kleidung in der Hütte; er lag auf demselben Lager, auf dem er gestern, ein Halbertrunkener, die Augen aufgeschlagen und als erstes Bild des wieder erwachenden Lebens Karin’s reizende Gestalt erblickt hatte. War es wirklich dieselbe Hütte? Ja, er konnte sich nicht täuschen. Hier die mit Segeln und Seekarten bedeckten Wände, dort Compasse und Ferngläser und die aus einem zertrümmerten Bootc zurechtgezimmerte Ruhebank – es waren dieselben Dinge wie damals, die ihn heute umgaben. Nur der Kienspan an der Decke brannte nicht – durch das niedrige kleine Fenster lachte der Morgen hell herein.

Hallerstein fühlte sich noch halb wie in den Bildern eines schweren Traumes gefangen; halb dämmerte die schreckliche Wirklichkeit in ihm auf. Wehmuth beschlich ihn; es war ihm, als müßte Karin wieder vor ihm stehen, als müßte sein erwachendes Auge, von süßem Zauber ergriffen, wie gestern einen plötzlichen tiefen Blick thun in die reinen, blauen Augensterne des geliebten Mädchens – und heute? Eine Thräne rollte ihm in den Bart hinab. Zwischen gestern und heute lag ja ein klaffendes Grab – sein todtes Glück schlief darin. Er stöhnte leise, und: „Ein großer Durst nach –“ flüsterte er vor sich hin. „Ein Durst, ewig unstillbar.“

Nun horchte er auf; er horchte nach dem Sturme. Alles ruhig – kein Wellengeräusch, kein Windesrauschen mehr; alle Stimmen der Natur schliefen. Eine Föhre, die ihre spärlichen Zweige an’s Fenster lehnte, stand regungslos in der ruhigen, klaren Morgenluft. Ein Strandvogel wiegte sich auf einem ihrer Aeste – der Sturm hatte sich über Nacht gelegt. Hallerstein dachte an sein todtes Mädchen – das Schweigen um ihn that seinem Herzen wohl. Aber nun vernahm er doch etwas in der Stille: leises, eifriges Gesumme von menschlichen Lauten, ernst, fast feierlich, dann schwere Männerschritte auf dem Gestein. „Mutter [783] Hedda, wir haben ihn,“ hörte er sagen. Rustan heulte, und seine Stimme klang wie Weinen und Wehklagen. „Sie bringen Olaf's Leiche,“ dachte Hallerstein. „Sie haben ihn in den Klippen gefunden.“

Es schauderte ihn. Er schloß wieder die Augen und seufzte still in sich hinein. Da plötzlich bewegte sich etwas dicht neben ihm, und – war es seine erregte Phantasie, die ihn täuschte? – eine warme Hand legte sich leise auf die seinige. Er zuckte zusammen; er blickte auf:

„Karin!“

Da stand sie vor ihm in ihrer ganzen Schönheit, aber sie war bleich; ernste, ruhige Hoheit, ihrem Wesen sonst so fremd, umgab sie, und ein leidender Zug auf Stirn und Wangen ließ sie reizender, geheimnißvoller erscheinen als je.

„Der Todte ist da,“ sagte sie feierlich. „Steht auf und gebt ihm die letzte Ehre!“

Hallerstein war schnell vom Lager auf und neben ihr.

„Karin, ist es möglich – Du lebst?“ rief er stürmisch. Er wollte sie in die Arme schließen, aber ein einziger Blick des Mädchens, so tief traurig, so voll Würde und Größe, lähmte ihm jede Bewegung. Nur ihre Hand ergriff er. „Ich kann es nicht fassen. War alles Schreckliche nur ein Traum der Nacht? War es Wirklichkeit?“

„Wirklichkeit!“ hauchte sie. „Das Meer und Karin sind treue Freunde. Das Meer kann mich strafen für meinen Uebermuth, nie mich tödten; denn es liebt mich, wie ich es liebe. Nur eine Betäubung – nichts weiter. Mutter Hedda's wärmender Kräutertrank, und Ihr seht – Karin ist wieder die alte.“

„Mädchen, Mädchen,“ jubelte er, „dann beginnt meines Lebens Glück mit heute.“

Er führte sie sanft an das kleine Fenster. Wie lag sie groß und erhaben, ruhig und kampflos da, die gewaltige Natur des Meeres, die noch gestern eine Stätte wilden Tumults gewesen! Licht und heiter stand die Sonne am wolkenlosen Himmel, und in ihrem klaren reinen Glanze glitzerten die grünbraunen Halme an den moosbärtigen Felsen. Das Wasser plätscherte leise murmelnd an den Strand, und nur an dem ruhigen Auf- und Abtauchen der Fluth spürte man das Athmen der See. Eine Schwalbe segelte durch die unbewegte Luft.

„Sieh, Karin,“ sagte er mit Feuer, „so schön ist die Welt.“ Und er sah sie groß und forschend an, als wollte er fragen: Kannst Du verstehen, was ich empfinde?

Sie wurde noch bleicher als vorhin. War nicht in seinen Worten etwas, das sie ihres alltäglichen Sinnes entkleidete und ihnen eine besondere Beziehung lieh? Karin wagte nicht, darüber nachzudenken – nun wurde sie blutroth.

„Kommt! Der Todte wartet,“ bat sie wehmüthig.

Draußen vor der Thür hatten sie den blassen, schönen Jüngling auf ein weißes Segel gelegt. Sie standen gesenkten Hauptes um ihn, Vater Claus und die beiden Bursche. Ein Bild der Versöhnung und Ruhe lag er vor ihnen, wie Einer, der nach hartem Tage endlich schlafen darf. Die Sonne schien ihm hell in's Gesicht. Der Tod hatte jeden schmerzlichen Zug aus seinem schwermüthigen Antlitz hinweggewischt – er lächelte fast. Als Karin und Hallerstein aus der Hütte traten, trug Mutter Hedda gerade Kräuter und einige Haideblumen herzu.

„Blumen und Todte gehören zusammen,“ meinte sie und bestreute den todten Olaf mit Eriken und duftendem Grün. „Es ist nicht gut, daß Einer unbekränzt scheidet; denn die Blumen sind die Sterne der Erde, und die Todten nehmen sie mit sich hinauf zu den Blumen des Himmels, den Sternen, die uns heller leuchten und deutlicher das Schicksal künden, je öfter wir sie grüßen durch unsere stillen Boten –“

„Laß' das!“ unterbrach sie Vater Claus und schlug das Segel über dem Todten zusammen. „Tragen wir ihn in sein letztes Bett! Ich hab' es ihm schon heute früh ausgespähet.“

Sie hoben den blassen Mann sacht mit der Hülle auf, der Alte zu Füßen, die beiden Bursche zu Häupten, und langsam setzte sich der kleine Zug in Bewegung. Hallerstein ging neben Karin. Es war ein langer, mühevoller Weg über Fels und Stein, hoch und höher. Niemand sprach ein Wort; mitunter nur seufzte Karin leise vor sich hin oder Mutter Hedda murmelte etwas in sich hinein, wie eine Todtenklage oder eine Beschwörungsformel. Die Möven kreischten und lachten heiser in den Schluchten.

„Wir sind am Ziel,“ sagte endlich der Alte. Sie waren auf der höchsten Kuppe der Insel angelangt, auf dem Mövenstein. Vor einer tiefen Kluft machten sie Halt und legten den stillen Jüngling nieder. Sie schlugen das Segel zurück und ließen das heitere Licht des Morgens noch einmal das Haupt des Todten umspielen. Das Meer grüßte in ernster Ruhe majestätisch leuchtend aus der Tiefe herauf, und die buchtenreichen Küsten Finnlands winkten mit ihren grünen Nadelwäldern groß und prächtig herüber. Vater Claus entblößte das Haupt und faltete die Hände zum stillen Gebet. Alle Andern thaten wie er. Jede Lippe blieb stumm, aber die Natur redete vernehmlich; denn ein leiser Wind glitt seufzend über die andächtige Gruppe hin; er bewegte zitternd die grauen Haare des Alters, streifte die Locken der Jugend und küßte die bleiche Stirn des Todten, als wollte er sagen: es ist alles gleich: jung oder alt; der Tod ist doch das letzte, das Mächtigste. Nun breiteten Axel und Daniel Stricke über die Kluft, und der Alte trat prüfend hinzu; er neigte sich hinab und warf frisches Moos in den Spalt, dem Todten ein weiches Bett zu schaffen. „Kommt!“ sagte er dann, und „Kommt, kommt!“ wiederholte das Echo von unten herauf, als riefe die Felsengruft den Lebensmüden zur ewigen Ruhe hinab. Jetzt schlugen sie das Segel über dem Antlitz des Todten wieder zusammen, hoben ihn langsam auf und legten ihn auf die Stricke über der Tiefe. Mutter Hedda deckte auf das Segel, da, wo es Kopf und Brust verhüllte, noch etwas Farrenkraut, und Karin that einige Blumen hinzu, die sie am Wege gepflückt. Dann erscholl des Alten seemännischer Commandoruf: „Los!“ und lautlos versank die Leiche in den Abgrund; nur die Stricke knirschten leise am Gestein. Ein Adler flog von seinem Horste auf und stieg ruhevoll in die Luft empor.

„Helft mir den Stein über den Spalt wälzen!“ rief Vater Claus. Die Bursche kamen herbei, und nun legten die Drei die Hände an einen Granitblock von mäßiger Größe, welcher an der Kante der Kluft lag. Dröhnend fiel er über den Spalt und schloß mit breitem Rücken das seltsame Felsengrab.

„Nun mag er ruhig schlafen, der brave Junge,“ sagte der Alte.

„In erhabener Einsamkeit, wie ein Held der Vorzeit,“ ergänzte Hallerstein.

Wortlos, wie sie gekommen, stiegen sie die Felsen wieder hinab. Schon hinter dem ersten Kegel des abfallenden Weges aber vermißten sie Karin. Hallerstein ging zurück.

Sie saß auf dem Stein über dem todten Olaf.

„Mädchen, was treibst Du hier?“

„Ich denke nach – ach, über so vieles,“ antwortete sie. „Hier bin ich den Wolken näher. Das Meer da unten sieht mich so gewaltig an, und die Stille ringsum erschließt dem Sünder das Herz in Reue und Wehmuth. Laßt mich! Thränen thun so wohl, wenn das Herz voll ist. Darf der Mörder nicht weinen auf dem Grabe des Gemordeten?“

„Was Du da redest, lieb Mädchen!“

„O, er hat mich so lieb gehabt – ich weiß es. Und ich war so kalt, so schroff, wenn er sein Herz zeigte. Ach, das Menschenherz! Was kann Karin dafür, daß sie nicht lieben kann, wo sie wohl lieben möchte? Und dann – dann hab' ich ihn in den Tod gelockt, um – um –“ seufzte sie.

„Was trieb Euch nur zu dieser unseligen Fahrt?“ fragte Hallerstein, indem er sich zu ihr auf den Stein setzte.

„Was uns trieb?“ fragte sie zurück, „was mich trieb? Ja, wie soll ich's Euch nur sagen? Karin gefiel stets am besten, was zu erlangen am schwersten war. Nichts ist reizender als die Gefahr – meint Ihr nicht auch? Der Sturm, Eure Truhe –“

„Dein Leben für meine Truhe?“ unterbrach er sie vorwurfsvoll und legte zärtlich seinen Arm in den ihrigen.

„War es nicht um Euch?“ schluchzte sie. Ein plötzliches Zittern befiel sie; sie lehnte selbstvergessen den Kopf an seine Schulter und brach in heftiges Weinen aus. „Um Euch!“

„O,“ flüsterte er und umschlang sie innig, „bei so viel Kraft so viel zartes Empfinden! Mädchen, ich bin ein Schiffer, dem aus Meergras und Wasserfäden ein Schatz entgegen funkelt, das Gold versunkener Fregatten. Sieh' hier meine Hand! Lege die Deinige hinein – und ich habe den Schatz gehoben.“

„Eure Hand?“ fragte sie und blickte die dargereichte mit noch nassen Augen ernst und prüfend an. „Es ist eine bleiche, edle Hand; sie sieht aus, als habe sie an dunklen Abenden oft, [784] sehr oft eine gedankenvolle Stirn gestützt. Sie schwieg einen Augenblick; dann berührte sie leise seine Hand. „O, ich fühle Euer Herz schlagen durch Eure Hand – es schlägt bis an das meinige hinan.“

Er blickte sie leidenschaftlich an. Sie zuckte zusammen. Was hatte sie gesagt, was hatte sie gethan? Aber wieder zog es sie machtvoll zu ihm; ihr Kopf – sie konnte nicht anders – sank wieder an seine Schulter. Nun lag ihre Hand in der seinigen; er drückte sie, erst sanfter, dann kühner; sie schloß die Augen und träumte einen Moment in sich hinein.

„Kommt hinweg!“ sagte sie schnell und stand hastig auf. „Eure Nähe und diese Einsamkeit machen, daß Karin sich plötzlich fürchtet – vor dem Todten da unten,“ fügte sie scheu und leiser hinzu. „Er reicht mir auch eine Hand herauf, und die ist noch viel bleicher als die Eurige.“

„Karin!“ kam es sanft von seinen Lippen, und er zog sie wieder auf den Stein zu sich nieder. „Sei ruhig! Ist die Natur es nicht auch, die gestern noch stürmte? Siehst Du da unten Deine Tauben um die Grotte fliegen? Wie sie sich wiegen in der reinen Morgenluft! Und das Meer sieh an! Es ruht aus nach dem Sturm, aber nicht weil es müde ist, ruht es; es ruht nur, um in süßer Lust den Himmel zu spiegeln, Frühlicht, Mittagssonnenschein, Abendroth. Ach, und der klare Himmel! Sein Blau fluthet zusammen mit dem Blau des Wassers – Mädchen, mein Mädchen, wie Dein Empfinden und das meine.“

Sie lauschte, wie ein Kind auf Märchen lauscht, und wie sie so lauschte, war sie schön, wie die Schönheit, die von sich selbst nichts weiß.

„Wie traut es klingt, wenn Ihr redet!“ sagte sie, und ein Abglanz innerer Freude glitt über ihr Gesicht. „Aber Eure Rede ist wie der Duft des Haidekrautes – berauschend.“

Eine Erika, eine von denen, die sie für den Todten gepflückt, war auf dem Gestein zurückgeblieben; sie hob sie auf.

„Glaubt Ihr, daß die Blumen leben?“ fragte sie, „daß sie den Sonnenstrahl fühlen, den Kuß der Luft und den Athem des Windes? Ihr Leben ist gewiß nur ein Schlaf, ein Schlaf ohne Träume, ohne Erwachen. Ohne Erwachen? Aber was war denn Karin, ehe Ihr da wart? Ihr kamt; Ihr blicktet mich an – ich glaube doch, daß die Blumen leben, daß sie erwachen können – glaubt Ihr nicht auch?“

„Meine Blume!“ rief er stürmisch. Er legte den Arm wieder um ihre Schulter, strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und preßte die Lippen auf ihre weiße Stirn.

Sie erschrak und ließ die Erika fallen.

„Es ist doch besser, wir gehen,“ sagte sie und erhob sich.

„Komm!“ flüsterte Hallerstein, indem sie gingen.

Vom Grabe Olaf's herüber wehte ein leiser Lufthauch; er spielte wie liebkosend um Karin's Stirn und Wangen.

„Ob die Todten wohl unsere Gedanken kennen?“ fragte sie zaghaft, und nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich muß immer an ihn denken. Als der Sturm uns in die Klippen geworfen, als das Boot krachte und das Wasser zu uns hereindrang, da sagte er:

'Karin, das Schicksal hat es gewollt: dies ist die Stunde, wo wir den ewigen Bund schließen. Du hast mich nie geliebt – ich weiß es, aber ich habe den Trost, mit Dir zu sterben und daß Niemand nach mir Dich besitzen wird. Du bist mein.'

Die nächste Welle trennte uns. Seit jener Stunde weiß ich, wie lieb er mich gehabt; ich habe seinen Tod verschuldet, und er liebte mich im Sterben. Ach, fortan darf Karin's Herz keinem anderen Manne gehören, als nur dem Todten.“

Sie sagte es halb fragend und zuckte heimlich mit den Wimpern, als fürchte sie die Antwort, die sie nun hören werde.

Hallerstein erwiderte kein Wort. Das Menschenherz hat Augenblicke, ernste Augenblicke der Heiligung, wo uns jeder Laut als eine Entweihung, jedes Wort als ein Frevel erscheint. Noch einen Blick sandten sie zurück nach dem Stein, unter dem Olaf schlief – dann stiegen sie langsam von Fels zu Fels hinab, Hand in Hand, schweigend, gedankenvoll. Unter ihnen prangte die Landschaft in friedevoller Schönheit, und auf dem Wasser lag eine helle, heitere Beleuchtung. Sie stiegen unablässig felsab. Nur mitunter, wenn am Horizonte ein Segel im Sonnenglanze aufblitzte, hemmten sie die Schritte unwillkürlich und blickten in die See hinaus, bis es im nächsten Augenblick in der Ferne verschwand. Dann fühlte Hallerstein Karin's Hand in der seinigen aufzucken; ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie reden – aber sie sagte nicht, was sie dachte, und senkte stumm den Blick. Tiefe Stille ringsum; nur dann und wann tönte es zu ihnen herauf, wie ferne Hammerschläge. Als sie um eine Felsecke bogen, lag der Strand vor ihnen. Axel und Daniel zimmerten da unten an dem alten, leck gewordenen Boote. Auf dem halben Wege zur Tiefe kam den Hinabsteigenden Rustan entgegengesprungen; er bellte vor Freude so laut, daß es in den Schluchten und Klüften wiederhallte, und umtanzte sie in großen Sätzen, dann aber, als fühlte er, was sie bewegte, wurde er still wie sie, und den Kopf geneigt, ging er langsam hinter ihnen drein.

Als sie vor der Hütte anlangten, empfing sie Vater Claus mit dem Zuruf:

„Baron, die Wellen haben Eure Truhe angetrieben; sie liegt am Strande.“

[808] Die Truhe angetrieben! Karin horchte freudig auf. Für Hallerstein war es eine aufregende Nachricht. Und doch, wie beruhigte ihn die Gewißheit, das seltsame Erbstück, an das sich für ihn die Erfüllung einer Gewissenspflicht knüpfte, geborgen zu wissen! Hatte er doch geloben müssen, die geheimnißvolle Lade am dritten Tage nach der Hochzeit – der heutige war freilich schon der vierte – zu öffnen. Was hatte sein Schwiegervater mit diesem sonderbaren Vermächtniß bezweckt, das seit dessen Tode im Familienarchiv zu Stockholm gehegt und behütet worden, um nach des Schicksals wunderbarer Fügung heute auf einer öden Felseninsel von ihm, dem eben Vermählten, seines Geheimnisses entkleidet zu werden? Was mochte die Truhe enthalten?

Diese Fragen beschäftigten Hallerstein, als die starkwandige kleine Kiste, massiv und prächtig im Rococostile gearbeitet und vielfach mit Gold beschlagen, von Axel herbeigebracht wurde.

„Herr,“ sagte der Bursche, zu Vater Claus gewandt, „Daniel erwartet mich bei dem Boote; es giebt viel Arbeit daran.“

Auf einen Wink des Alten ging er wieder; die Anderen hatten sich im Kreise um das merkwürdige Schaustück versammelt.

„Karin, so war Dein kühnes Wagniß doch nicht umsonst,“ richtete sich Hallerstein an das Mädchen, als der erste vorsichtige Hammerschlag zur Sprengung des Schlosses gefallen war.

Die Truhe sprang auf. Die Documente, welche sie enthielt, waren vom Wasser stark durchweicht, aber die Schrift darauf keineswegs unleserlich. Obenauf lag in versiegeltes Papier mit der Adresse des Barons.

Er erbrach es.

„Ein Brief meines Schwiegervaters.“

Er setzte sich abseits auf einen Stein, und während er las, malte sich in seinen Zügen zuerst Ueberraschung, dann wachsendes Erstaunen.

„Seltsam!“ sagte er, nachdem er gelesen und sich erhoben hatte. „Wer hätte das vermuthet!“

Er reichte Vater Claus den Brief.

„Nehmt! Es ist ja eine Post aus dem Jenseits. Die Zwei, um die es sich handelt, sind todt, und ich, der Dritte, begehe keinen Vertrauensbruch, wenn ich sage: Lest! Liegt diese einsame Insel doch außerhalb der Welt.“

„'Lieber Neffe, der Du in Zukunft mein Schwiegersohn heißen wirst',“ las der Alte vernehmlich, „'mein Gewissen gebietet mir, Dir, ehe ich das Zeitliche segne, ein Geständniß abzulegen. Es war, wie Du gewiß anerkennen wirst, ein weiser und nur im Interesse des Familienwohles gethaner Schritt, daß wir, meine Gemahlin und ich, im Einverständniß mit Deinen Eltern Dir schon im zartesten Knabenalter unsere einzige Tochter Margaretha verlobten und durch diese Verbindung der beiden letzten Träger unseres Namens das Anheimfallen unserer großen Güter an schwedische Vettern und Schwäger verhinderten. Nun aber hätte das Schicksal, welches mich schwer geprüft hat, die Früchte dieses unseres wohlüberdachten Schrittes vereitelt, hülfe die Klugheit mir nicht dennoch zum Ziel. Auf der Rückreise von Deutschland nämlich, wohin wir zur Ordnung der Angelegenheit mit dem Kinde gegangen und wo Du, noch ein Knabe, der Bräutigam unserer kleinen Margaretha geworden, verschlug uns der Sturm in die finnischen Schären – '“

„In die finnischen Schären?“ unterbrach sich Vater Claus.

„In die finnischen Schären,“ bestätigte der Baron, „so steht es da – in die auch ich verschlagen wurde.“

„Merkwürdiges Zusammentreffen!“ meinte kopfschüttelnd der Alte. „'Es war ein böses Wetter,'“ fuhr er zu lesen fort. „'Wir strandeten. Mich rettete ein besonderer Glückszufall, aber meine Gemahlin und unsere kleine Margaretha fanden den Tod in den Wellen. O, es war ein harter Schicksalsschlag. Und nun höre weiter: Da das Kind, welches das Band zwischen den deutschen und den schwedischen Hallerstein's war, nun todt, wie sollte ich Dir da das Erbrecht auf meine Güter wahren und es den schwedischen Vettern und Schwägern entziehen? Noch eine Tochter, nur wenige Monate älter als Margaretha, nannte ich mein, von der die Welt nichts wußte, nichts wissen durfte. Nun mußte sie meinem Zwecke dienen: ich nahm die unschuldig Verstoßene an Margarethens Stelle in mein Haus, gab ihr den Namen der Todten und erzog sie Dir. Sie wird Dein Weib sein, wenn Du diese Zeilen liest. Die Adoptionspapiere und alle darauf bezüglichen Documente findest Du in diesem Schrein. Niemand weiß von der Unterschiebung des Kindes, Deine Eltern nicht ausgenommen. Und nun noch Eines: Als Zeichen meiner väterlichen Liebe empfingst Du, wie Du ja weißt, beim Verlöbniß mein Medaillonportrait in Perlenfassung – '“

„Medaillonportrait und gestrandet in den finnischen Schären?“ brach Vater Claus abermals ab, und seine Mienen trugen den Ausdruck gespannter Erwartung.

„In Perlenfassung?“ fragte Mutter Hedda halblaut und in sichtlicher Ueberraschung.

„Seltsam,“ sagte Karin leise, „ganz wie das meinige!“

„Hier,“ rief Hallerstein und zeigte auf seine Brust, „hier trag' ich das Bild noch heute. Was ist da seltsam?“

„'Aber meine Margarethe,'“ knüpfte der Alte den Faden des Briefes wieder an, „'empfing zur Bezeichnung des feierlichen Actes das Portrait Deines Vaters in gleicher Fassung –'“ „In gleicher Fassung,“ wiederholte Vater Claus, auf's Höchste gespannt. „Baron,“ unterbrach er sich plötzlich, „in welchem Jahre trug sich die Strandung zu?“

Hallerstein sann einen Augenblick nach. „Es muß nun fünfzehn Jahre her sein,“ sagte er.

„Wunderbar! Auch das trifft zu,“ murmelte der Graukopf vor sich hin.

„Die Hand des Himmels!“ flüsterte Mutter Hedda, und Karin machte eine Bewegung des Schreckens. Eine Bangigkeit überfiel sie, als trete das gewaltige Schicksal plötzlich an sie heran, und doch war es eine süße Bangigkeit, als würde ein dunkler Abgrund, an dem sie lange gebrütet, auf einmal von tausend Sonnen durchleuchtet.

Vater Claus blickte nachdenklich in den Brief, der in seiner Hand zitterte; er machte eine Bewegung, wie Einer, der einer inneren Unruhe gewaltsam Herr zu werden ringt.

„'Diese Bilder,'“ las er weiter, und seine Stimme bebte heimlich, „'sollten Euch Kindern ein Denkmal elterlicher Liebe und für Fälle der Verwirrung oder Entfremdung ein Erkennungszeichen sein. Aber Margarethens Medaillonbild, Du wirst es früh genug bei Deinem Weibe vermissen; denn es liegt mit der echten Margarethe am Grunde des Meeres. Sei glücklich mit der, die ich statt der legitimen Tochter Dir an's Herz lege! Ich wollte nicht ohne den Trost der Beichte vor Gottes Thron treten.'“

Der Alte schwieg. Mutter Hedda und Karin standen in wortloser Erregung da. Hallerstein blickte die Drei fragend an; er begriff nicht, was vorging.

„Baron,“ begann beklommen Vater Claus, „hier liegt die Lösung eines Räthsels, das tief in unser Aller Leben greift. Ein Blick auf Euer Medaillonbild könnte –“

Hallerstein knöpfte seine Weste auf und reichte ihm das Bild hin.

„Was habt Ihr vor?“ fragte er.

„Kein Zweifel mehr!“ sagte der Alte nach einer Weile, indem er dem Baron das Medaillon zurückgab. Die innere Wallung übermannte ihn fast – er rang nach Worten. „Karin,“ stieß er [810] endlich gepreßt hervor, „von heute ab: Margaretha – hier steht der Mann, dem Du angehörst durch den Spruch des Schicksals.“

„Ist es möglich?“ rief Hallerstein und eilte auf Karin zu. Mit klopfenden Pulsen, mit wogendem Athem lag sie an der Brust der treuen Mutter Hedda, das Gesicht mit den langen goldenen Haaren schamhaft verhüllt. Aber an dem vollen weißen Nacken des Mädchens nestelte die Alte unvermerkt ein Bändchen los, und als Hallerstein herzu trat, ließ sie die Schüchterne sanft aus den Armen und legte Karin's Medaillon schweigend in seine Hände.

„Mein Vater!“ fuhr der Baron erstaunt auf, indem sein Auge auf dem Bilde weilte. „Wunderbare Fügung! Karin, Du bist meine Braut, mir verlobt durch die Eltern, durch das Schicksal, durch Gott. Mußte ich verschlagen werden an dieses Felsengestade, um Dich zu finden? Mußtest Du die kühne Fahrt wagen um aus Todesnoth und Verderben uns den Talisman zu retten, den uns die Todten senden und der uns nun mit holdem Bande bindet? O, wer begreift die Wege der Vorsehung!“

„Ja, wer begreift sie?“ wiederholte Mutter Hedda. „Ich will draußen darüber nachdenken in der Einsamkeit. Einen Kranz will ich winden aus Farrenkraut und Eriken, Deinen Brautkranz, Karin, und ihn siebenmal übergießen mit Meerwasser und siebenmal trocknen lassen im Mondschein. Glück bringt er der, die ihn trägt.“

Sie ging. Ihr weites Gewand flatterte im Winde; hinter den Felsen verschwand sie.

Karin lag in Hallerstein's Armen.

„Wie war es doch?“ flüsterte er leise. „'Ein großer Durst nach' – ?“

„Der nun für immer gestillt ist,“ hauchte sie und schmiegte sich inniger an den geliebten Mann.

„Und Du fühlst Dich mein für's Leben, Karin?“

„Ich fühle die Hand des Schicksals über mir, die Hand eines freundlichen Schicksals,“ sagte sie feierlich, als spräche sie ein Gebet.

Hallerstein blickte ihr lange in die großen, stillen Abenteueraugen, lange und schweigend. Vater Claus stand neben ihnen, an einen Fels gelehnt, und schauete nachdenklich über die Wasserfläche hin, auf der die Mittagssonne glitzerte; leise klatschten die Wellen an's Ufer, und vom Strande her, wo die Burschen rüstig am Boote zimmerten, tönten wieder die Hammerschläge herüber; in der feuchten Luft klang es dumpf, als hallten sie von fern her.

„Sie zimmern Euch schon das Boot, das Euch forttragen soll in den Hafen des Glücks,“ meinte der Alte ernst. „Fort, weit fort – aber Mutter Hedda und ich Graukopf – wir – wir bleiben – und –“

„Vater,“ rief Karin und warf sich an seine Brust, „muß denn mit dem höchsten Glücke so bitterer Schmerz kommen?“ Und sie streichelte ihm zärtlich die alten sturmzerfressenen Wangen.

„Ist nur Menschenloos, Kind,“ erwiderte er anscheinend ruhig, aber daß er die Lippen zwischen die Zähne zog und mit den kleinen wassergrauen Augen unstät blinzelte, als blendete ihn das von den Sonnenfunken durchglitzerte Wasser, das war doch ein Zeichen, daß es in ihm nicht ruhig war. „Just dasselbe Wetter, wie damals!“ sagte er; dann, als wollte er sich die Miene gleichgültiger Heiterkeit geben, nahm er einen Stein vom Strande auf und schleuderte ihn, wie zum Zeitvertreib, mit kräftigem Wurfe weit in die See hinein. „Just dasselbe Wetter,“ hub er mit erkünstelter Ruhe wieder an, „wie vor fünfzehn Jahren, als der Sturm ausgetobt hatte und wir uns in heiterm Sonnenschein des Kindes freuten, als einer unverhofften Gottesgabe.“

„Vor fünfzehn Jahren!“ wiederholte Karin in Gedanken verloren.

„Erzählt!“ bat Hallerstein.

„Ist schnell gethan,“ gab der Alte zurück und setzte sich auf einen im Wege liegenden Felsblock, während Hallerstein und Karin sich neben ihm niederließen. „Stand in schwarzer Sturmnacht auf dem Posten, die Signallampe über mir, Stricke und Rettungskorb zur Seite; das Boot am Strande war in Bereitschaft. Hol's der Teufel, eine grausige Nacht! Mosjö Blasius hatte all' seine Schrecken losgelassen, und die Fledermaus flatterte ängstlich um das Licht des Leuchtthurms. Dachte an die armen Seelen, die da draußen in zerbrechlichen Nußschalen über dem Abgrund des Verderbens schwebten – da – ein Nothschuß! Fix war ich parat. Das Boot los und mit den Jungens, die ich schnell herbeirief, Hals über Kopf hinaus in Braus und Graus, dem Schimmer einer in den Wellen auftauchenden Lampe entgegen – alle Wetter! das dauerte nicht zwei Minuten! Aber die Brandung warf uns zurück. Konnten nicht hinaus, mußten verzweifelt ringen mit dem vermaledeiten Sturm, und als wir den festen Boden wieder unter uns hatten, da gab ich das Signal, daß wir nicht helfen könnten. Hörten nach einer kurzen Weile das Schiff mit donnerndem Krach auf den Fels rennen und mußten die Hände unthätig in den Schooß legen. Geflucht hab' ich und gezetert über das Unwetter und Tabakspfeife und Branntwein schier vergessen. So ging die Nacht hin. Gegen Morgen legte sich der Sturm, und mit dem ersten Sonnenstrahl lief ein Boot unsere Insel an. Die Zwei, die darin saßen, waren ein alter Matrose – er mußte an die siebzig sein – und ein Schiffsjunge, ein Kerl von sechszehn Jahren; das war der Rest der Besatzung des gestrandeten Schiffes. Sagten, es sei ein Stettiner Passagierdampfer gewesen, nach Stockholm bestimmt. Redeten weiter nicht viel, die Zwei, berichteten blos: die Verwirrung an Bord im Augenblicke der Strandung ließe sich nicht beschreiben, und in der Todesangst – hm, 's geht gewöhnlich so – sei Alles in das eine größere Boot gestürzt, an das kleinere aber, in das nur sie sich gerettet, du lieber Gott, daran habe außer ihnen keine Seele gedacht, und vielleicht seien sie die Einzigen, die mit dem Leben davongekommen. 'Aber seht,' sagte der alte Matrose, 'was wir Euch mitgebracht haben!' und aus dem unteren Raume des Bootes reichte er mir ein Kind herauf, ein Mädchen mit goldenen Ringellöckchen, lieblich anzusehen, wie ein Engel, sag' ich Euch. Im letzten Moment, als das Schiff schon im Sinken begriffen – so erzählte er – habe er das arme schreiende Ding einer Frauensperson, die zerschmettert und besinnungslos unter einem gestürzten Mast gelegen, aus dem Arm genommen. 'Da ist es nun,' fügte er hinzu, 'erbarmt Euch des armen Wurms!'“

Vater Claus schwieg einen Augenblick. Er nagte die Unterlippe, als wollte er eine innere Wallung niederkämpfen. Dann knöpfte er seinen Rock auf, als wenn es ihm zu warm geworden während des Sprechens, und zog die kühle Luft tiefathmend ein. Das nun offen stehende Flanell-Hemd gab seine hohe, nervige Brust frei; wie klopfte und hämmerte es da sichtbar hinter dem kräftigen Harnisch von Muskeln und Sehnen! War es die Erinnerung an einen schönen Tag seines Lebens, die das vielbewegte alte Seemannsherz so heftig schlagen ließ? War es das Gefühl des nahe bevorstehenden Verlustes, das sein Blut so erregte? In seinen wettergebräunten Zügen zuckte es heimlich, und sein Auge glänzte in feuchtem Schimmer.

„Wir hatten keine Kinder,“ fuhr er mit leiserer Stimme fort, „und die Kleine – sie mochte kaum zwei Jahre alt sein – streckte uns so freundlich die Arme entgegen – meiner Treu, war uns vom Himmel gesandt. Fuhren am andern Morgen der alte Matrose und der Schiffsjunge, gestärkt und mit Lebensmitteln ausgerüstet, mit dem Boote wieder davon. Da sagten wir ihnen – versteht sich von selbst – sie sollten nach Eltern und Verwandten des Kindes forschen, und wenn es zurückgefordert würde, melden, wo es zu finden sei, im Herzen aber – freilich, freilich! – wünschten wir, es möge Niemand kommen und nach unserem Kleinod fragen. Niemand kam, und so ist es geblieben – fünfzehn Jahre.“ Er erhob sich unruhig, und jeder Zoll an ihm war Erregung – es kämpfte sichtlich in seinen Mienen. „O, wie waren wir glücklich!“ sagte er nach einer Pause, „wahrhaftig, das Alter wird noch einmal jung durch die frische, lebendige Jugend, und unsere Insel ist so einsam, so einsam –“ er stockte plötzlich; in seiner Stimme war etwas wie verschluckte Thränen. „Potz Anker und Segeltuch!“ polterte er dann, wie Einer, der sich einer Schwäche bewußt wird. Er trat vom Felsblock fort und schlug ein lustiges Schnippchen. „Glaub' gar, mir ist Salzwasser in die Augen gekommen. Bah, ich alte Theerjacke und flennen wie ein Weib?! Pfui, Claus, schäme dich! Trolle dich, alter Junge, und rühre die Hände!“

Und ohne einen Gruß wandte er sich und ging schnellen Schrittes dem Strande zu. „Frisch drauf!“ rief er den Burschen zu. „Hämmert, daß die Funken stieben! Und morgen wird das Boot geprobt.“

„Wie werden sie es tragen,“ fragte Karin besorgt, als sein Schritt verhallt war, „wenn sie ihr Kind nicht mehr sehen, die armen alten Leute?! O, sie verlassen! Ich hätte es nicht gekonnt vor wenigen Tagen, eh' ich Dich sah, Du grausamer Mann. Karin ist nicht mehr Karin. Meine alte Welt ist versunken; meine Stimme klingt mir wie von fernher, als spräche ein Anderer.“ Sie verlor sich einen Augenblick in Gedanken; dann fragte sie weiter: „Sag', warum liebst Du mich nur?“

[811] „Du bist so gut; Du bist so schön,“ antwortete er und küßte sie auf beide Augen. „Ich liebe an Dir die Einfalt des Herzens, die von der Welt nichts weiß.“

Ein Volk schreiender Finken schwirrte über ihren Häuptern hinweg.

„Zugvögel!“ sprach Hallerstein gedankenvoll. „Sie ziehen nach dem sonnigen Süden, nach Deutschlands gastlichen Fluren. Sie fragen nicht, warum? Das Herz zieht sie.“ Er hielt einen Moment inne. „Ich weiß ein stilles Thal im grünen Thüringen.“

„Dahin –!“ flüsterte Karin.

„Dahin trägt Dich mein Arm,“ sagte er, „in die Einsamkeit der Wälder. Die Menschen mit ihrer Selbstsucht und Sünde, sie sollen den reinen Spiegel Deiner Seele nicht trüben.“

Er rückte auf dem engen Felsensitz näher an sie heran und schlug den Arm zärtlich um ihre schlanke Gestalt. Sie barg das Gesicht an seiner Brust. Die Natur ringsum, als lausche sie dem Glück der Beiden, schien zu feiern. Kein Lüftchen regte sich; keine Welle kräuselte sich auf der weiten Salzfluth. Heller Sonnenschein lag breit darüber ausgegossen, und die Fische sprangen dann und wann silbern schimmernd über das Wasser. Es war Festtagsstimmung ringsum. Sie saßen noch lange im Schweigen des Mittags, zwei glückliche Menschen, denen die Welt verschollen ist. – –

Mehrere Tage waren vorüber.

Ein klarer Morgen leuchtete über der einsamen Insel, und die Luft war ungewöhnlich warm für die vorgerückte Jahreszeit. Am Horizonte zeigte sich eine schwarze Rauchsäule; sie kam näher und näher.

„Es ist Zeit, Kinder,“ sagte, hinter sich gekehrt, Vater Claus und trat aus der Hütte in’s Freie. „Der Stockholmer Dampfer ist schon in Sicht.“ Dann, dem Strande zugewandt, rief er: „Alles parat?“

„Fix und fertig!“ antwortete Axel, der mit Daniel im Boote saß. Nun traten auch Mutter Hedda, Karin und Hallerstein aus der Hütte, und Rustan sprang ihnen bellend voran. Die Alte hielt Karin’s Hand zärtlich in der ihrigen. Wehmuth lag in den Mienen Aller. Wenn Menschen scheiden, die sich lieb haben, dann weinen die Engel im Himmel.

„Vater Claus,“ sagte Hallerstein und schlug in die dargebotene Rechte des Alten ein, „mehr als Worte sagen können, tragen wir Dank –“

„Nichts davon!“ wehrte der Graukopf bewegt ab. „Seid glücklich, gedenkt unser am Trautisch und grüßt mir die alte deutsche Heimath!“

Karin küßte Mutter Hedda; dann lag sie in den Armen des Alten, der ihr segnend die Hände auf’s Haupt legte. Nun stiegen sie in’s Boot, und mit einem flinken Satz sprang Rustan ihnen nach.

„Den treuen Freund nehm’ ich mit,“ rief Karin und schlang die Arme liebkosend um seinen Hals.

„Den Retter aus Todesnoth, den Stifter unseres Glücks,“ fügte Hallerstein hinzu. Daniel hatte das Boot abgestoßen; Axel schnitt mit schnellem Ruderschlag kräftig in’s Wasser, und pfeilschnell flog das kleine Fahrzeug in die See hinaus.

„Das ist ein Abschied für immer,“ sagte Vater Claus, „wir sehen sie nicht wieder.“

Mutter Hedda verhüllte das Angesicht.

Die glitzernde, schimmernde Wasserfläche zwischen dem enteilenden Boote und den beiden Alten am Ufer wuchs und wuchs, und ein breiter weißer Schaumstreifen bezeichnete den Weg, auf dem ein junges Glück seinem blühenden Lebensfrühling entgegenzog. Die Luft war von jener durchsichtigen Klarheit, die Entferntes näher, Nahes in frischester Beleuchtung erscheinen läßt. Zwei weiße Tücher winkten vom Boote her, und zwei runzelvolle Hände am Strande erwiderten den Gruß. Da regte es sich in den Lüften wie Schwingenrauschen: Karin’s Tauben flatterten weit in’s Meer hinaus, als wollten sie der scheidenden Herrin ein letztes Lebewohl sagen. Eine einsame Wolke, vom Morgen rosig angehaucht, schwebte um die höchste Kuppe der Insel, um den Mövenstein. Nun theilte ein Sonnenstrahl die schnell zerstiebende, und licht und hell lachte der ragende Fels da oben in die schweigende Landschaft hinaus – Olaf’s Grab. In demselben Augenblicke entschwand das Boot dem Gesichtskreise der beiden Alten am Strande – träumerisch schlugen die Wellen an’s Gestade.

„Die Sterne haben’s gewollt,“ sagte Mutter Hedda.