Der 3. Glaubensartikel/Jer. 17, 5–8. Ich glaube die Gemeinde der Heiligen

« Eph. 4, 13–15. Ich glaube eine heilige christliche Kirche Hermann von Bezzel
Der 3. Glaubensartikel
Ps. 93. Ich glaube eine Vergebung der Sünden »
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Jer. 17, 5–8. 
Ich glaube eine heilige christliche Kirche, die
Gemeinde der Heiligen.
 


 Ich glaube eine, heilige, apostolische, allgemeine und ewig bleibende Kirche und eine Gemeinschaft der Heiligen – das ist es, was wir heute miteinander betrachten wollen. Lauter Glaubensartikel; denn die Einheit der Kirche ist ferner als je; ihre Spaltung in Bekenntniskirchen, ihre Teilung in allerlei Sekten ist nicht nur ein Krankheitsprozeß, sondern auch ein Prozeß zur Genesung. Durch die Spaltung in einzelne Abteilungen und Abzweigungen kommt die Mannigfaltigkeit der kirchlichen Gaben und Kräfte recht zur Geltung. Die eine Kirche ist mehr die Kirche der Tat, die andere ist mehr die Kirche des Wortes, eine andere wieder mehr die Kirche des Verstandes, eine andere treibt wieder mehr innerliche Werke, so, wie es der Geist Gottes will und ordnet. Keine Kirche hat alle Gaben und keine Kirche hat keine. Daß dabei dein und mein Herz der Kirche, in die wir nicht bloß hineingeboren und hineingetauft und hineinerzogen, in die wir hineingewachsen sind und in die wir uns hineingelebt und hineingeliebt haben, am meisten zuschlägt, ist nicht mehr als billig; sie hat es verdient, daß man ihr dies erzeiget. Sie hat uns das Wort Gottes lauter und rein verkündigt, die Sakramente stiftungsgemäß an uns verwaltet, das Kreuz Jesu Christi uns gezeigt. Sie ist arm geblieben trotz aller Versuchungen, sie ist bei ihrem Herrn allein und einsam geblieben trotz aller Anschlüsse, sie hat weltliche Gewalt und weltliche Vorzüge und Ehren verschmäht, aber ihren Platz zu den Füßen Jesu hat sie um eine ganze Welt nicht hergeben wollen. Sie ist die Kirche, von| der, wie ich glaube, einmal alle anderen Kirchen angezogen werden, bis es ein Hirte und eine Herde sein wird. Sie ist die Kirche, die durch die Unmittelbarkeit ihrer Abhängigkeit von Jesus als ihrem Herrn am reinsten und vollkommensten die Gemeinde des Herrn darstellt, nicht als schaubar, aber als glaublich. Sie ist die Kirche, welche alle Schmerzen ihres Herrn mitträgt, Seine Schmach erduldet, Sein Leid erfährt, mit Ihm in die Einsamkeit geht, mit Ihm wacht und betet, mit Ihm den einsamen Kreuzesweg beschreitet, weil sie hofft, es wird einmal ihr seliger Ostertag erscheinen.

 Ich glaube, trotz aller Teilung, eine Kirche und glaube, daß meine Kirche zwar noch nicht die Kirche der Vollendung ist, aber die Kirche der Vollendung werden wird. Ich glaube nicht, daß einmal Rom alle um sich und seinen Hirtenstab versammeln wird, ich glaube vielmehr, daß meine Kirche, die nicht herrschen, sondern dienen, nicht befehlen, sondern trösten, nichts im Glanze darstellen, sondern im Glauben hoffen will, alle einmal zu sich ziehen wird, welche Jesu Christi Erscheinung lieb haben.“ (2. Tim. 4, 8.)

 Ich glaube eine und ich glaube eine heilige Kirche. Diese glaube ich, obwohl ich weiß, daß es zwei Sätze gibt: Die Kirche kann nicht sündigen, die Kirche kann sündigen. Die Kirche kann nicht sündigen, soweit und sofern sie sich ganz von Jesu tragen läßt, wenn sie Sein Wort recht auslegt, Seine Sakramente recht gebraucht und Ihm nachfolgt bis in den Tod. Sie kann sündigen und irren, weil sie aus fehlsamen Menschen besteht; sie hat geirrt, als sie die Ketzer verfolgte und verbrannte, als sie die Glaubenssätze mit Gewalt und äußerlichem Zwang durchsetzen wollte; sie hat geirrt, als sie die Pflicht der äußeren Mission so lange vernachlässigte, und irrt jetzt, da sie, wie ich glaube, die Pflicht der Mission nicht recht erfüllt. Sie hat tausendmal geirrt; auf dem Stuhle Mosis saßen Pharisäer (Matth. 23, 2). Unser Amt hat| der Kirche viel Schaden gebracht, unser persönliches Leben hat die Kirche in große Not versetzt; es ist ein großes Leid, daß es so viele falsche Hirten gibt und so viele rechtgläubige Hirten ohne rechten Glauben.

 Aber, obwohl die Kirche geirrt hat, irrt und irren wird, glaube ich doch eine heilige Kirche. Seht, wenn in unserer Kirche irgendeine Versammlung zusammentritt, irgend eine, so ist dabei doch stets der erste Ton der Ton der Buße. Wie der erste der 95 Sätze mit den Worten anhebt: „Da unser Herr Christus spricht: ,Tut Buße‘, will Er, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll,“ so geht durch unsere Kirche immer wieder der Bußton: „An Dir habe ich gesündigt und Dich habe ich beleidigt und an Dir habe ich gefehlt.“ ....

 Und wo Buße ist, da tritt auch die Heiligung ein. Wenn unsere Kirche eine satte und sichere Kirche wäre, die nicht mehr sich richtet und verklagt, nur auf ihre eigene Ehre bedacht ist und nur von ihrem eigenen Ruhm trunken, dann wäre sie die Kirche und Gemeinde des Satans.

 Aber so lange – wer weiß, wie lange noch – so lange noch der Bußton herrscht für alle Untreue und alle Versäumnis, so lange ein Geistlicher über die Seelen weint und klagt, die durch seine Schuld den rechten Weg verloren haben, und an die denkt, denen er nicht treulich nachgegangen ist, so lange ist die Kirche trotz ihrer Fehler und Gebrechen, ihrer Schatten und Schäden, eine heilige Kirche. Ihr dürft nur nicht heilig mit vollkommen verwechseln. Ich weiß wohl, es gibt eine Richtung in der Kirche – Gott bewahre uns davor – welche eine Vollkommenheit hier auf Erden lehrt und behauptet, daß man es schon auf dieser Welt zu einer solchen Heiligkeit bringen könne, daß man die fünfte Bitte des Vaterunsers nicht mehr zu beten braucht. Das ist nur ein Zeichen von Oberflächlichkeit; denn: „Wer kann merken, wie oft er fehlet?“ (Ps. 19, 13.) Und je mehr wir in uns| hineinblicken und nicht trunken an uns und auf uns das Auge heften, desto mehr werden wir unsere Fehler gewahren. Wenn du also eine Kirche ohne Flecken willst, eine Kirche, die keine Schatten und Schäden hat, eine Kirche von lauter Heiligen, so suche sie droben, wo man nicht mehr sündigen kann, in der Gemeinde der Vollendeten. Hier auf Erden aber ist es ein Fallen und Aufstehen, ein Ausgleiten und Sichanhalten, ein Wollen und Nichtvollbringen, ein Vollbringen des, was man nicht soll, ein Widerstreit zwischen Wollen, Können und Sollen; hier auf Erden ist die Kirche keine vollkommene. Wohl ihr, wenn sie nach Vollendung strebt!
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 Ich glaube eine heilige Kirche. Wo unter uns ein Christ jeden Abend seine Lieblingssünden ins Auge faßt und mit harter Hand diese Lieblingssünden – ob’s gleich mitten ins Fleisch schneidet – bekämpft, da ist heilige Kirche. Wo zwei Menschen, die einander tragen und miteinander tragen, einander gestehen, daß sie einander tragen wollen, da ist heilige Kirche. Wo zwei Menschen einander auf dem schmalen Wege helfen, daß eine Seele zur andern sagt: Komm, hier sind Dornen, wir wollen sie tragen; hier ist das Kreuz, wir wollen ihm nicht entfliehen; hier ist der Weg schmal und die Pforte eng, wir wollen beide beschreiten! Da ist heilige Kirche. Die heilige Kirche ist, wie eben der Herr Jesus Selbst, unscheinbar. Eine Kirche mit leuchtender Heiligkeit kennen wir nicht; eine Kirche, in der besondere heroische Taten geschehen, besonders bedeutende, wunderbare Werke, große, hervorragende Leistungen, eine solche Kirche ist uns unbekannt. Überhaupt, die Heiligkeit im evangelischen Sinne ist das Allerärmlichste, was man sich denken kann. Eine andere Kirche prunkt mit ihrer Heiligkeit, ihrem Übermenschlichen und Heroischen. Sie unterscheidet zwischen der Sittlichkeit der gewöhnlichen Leute und der Sittlichkeit der Herren. Die Mönche, die Nonnen, die Religiösen haben eine weit, weit höhere Sittlichkeit, als die arme| Magd am Waschschaff. Und doch kann auch der Mönch und die Nonne nichts anderes tun, als treu sein. Darum ist die Heiligkeit unserer Kirche etwas so Unscheinbares, lauter Sandkörner, keine Berge, lauter Kleinigkeiten, keine leuchtenden Gestalten. Und doch, wenn man näher zusteht, liegt in der Heiligkeit unserer Kirche größere Kraft. Sie tut ungern, was anderen auffällt, was in die Augen glänzt, was Ruhm verschafft. Aber wenn du einen bösen Gedanken unterdrückst, eine sündige Regung bekämpfst, einen bitteren Gedanken von dir weisest, sieht und weiß es niemand, aber Gott weiß es und rechnet es dir als Heiligkeit an. Wenn du einem Armen ein hartes Wort gibst, das weiß kein Mensch, vielleicht spürt es der Arme nicht einmal selbst, aber Gott rechnet es dir an als Mangel an Heiligkeit. Wenn du Leute, die sich in ihrer Not an dich wenden, fortschickst, weil du keine Zeit hast – du, keine Zeit, du, für den Jesus eine Ewigkeit opferte – dann sollst du wissen: Die Leute gehen dahin, sie klagen vielleicht gar nicht über dich und deine Abweisung, sie sind’s schon gewöhnt, aber der Herr Jesus steht vor der Türe der Kirche und vor der Türe deines Lebens, wenn es hinausgeht in die Ewigkeit und spricht: „Weil du für meine Armen keine Zeit hattest, habe Ich für dich keine Ewigkeit mehr.“ Das ist Heiligkeit.
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 Ich glaube eine, heilige, apostolische, allgemeine und ewig bleibende Kirche. Eine apostolische Kirche, nicht wie die Irvingianer wähnen, die vor jetzt 60 Jahren auch hier in München Eingang hatten und in Kreisen treuesten Bekenntnisses nicht durchschaut wurden, nicht, wie diese glauben, daß apostolische Zeiten und apostolische Gaben und apostolische Kräfte und apostolische Männer wieder der Kirche geschenkt werden; nein, der Frühling der Kirche kommt nimmermehr. Aber sie ist doch apostolische Kirche; denn ich trete, obwohl ich ein armer Mensch bin, in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Apostel Paulus. Was seine Kraft war, ist die meine, was in seiner Schwachheit sich| vollendete, das kann auch die meine tragen, seine Klage ist mein Leid, sein Triumph ist mein Sieg, sein Bekenntnis ist meine Freude. Das nennt man apostolische Kirche, daß der ärmste Holzhauer im Walddorfe sich an die Seite der erlauchten Bekenner stellen und sagen kann: Bruder, Vater, der dich selig machte, ist auch mein Heiland! Wir treten alle in einen Bund mit Seines Leibes Gliedern ein. Da braucht es keine apostolischen Stühle, noch apostolische Vollmachten, noch apostolische Ehren; da braucht es nur Jüngersinn, Jüngertreue, Jüngertränen und Jüngerfreude: Es ist der Herr! Darum werden wir alle, wie ihr auch persönlich zur Kirche steht, zugeben müssen: Es kann noch einmal eine ganz andere Kirche geben wie jetzt, es kann einmal eine Kirche aufkommen, in der Christus ein religiöses Genie, eine bedeutende Kraft, ein weiser Ratgeber, ein nicht unbedeutender Merkstein auf dem Wege der Religionsgeschichte genannt wird, aber nicht mehr der Heiland der Welt – das ist dann auch eine Kirche, aber nicht mehr eine apostolische. Daraus könnt ihr es sehen. Die moderne Kirchengründung, bei der der alte Glaube zerrissen wird, nicht weil man ihn zerreißen will, sondern weil man ihn für nicht mehr recht und brauchbar hält, all die Vereinigungen, in denen Jesus vergeistigt, in Wahrheit aber verflacht wird, können auch eine Kirche bauen, aber keine apostolische. Denn sie steht nicht auf dem Grunde, auf dem Paulus, Petrus oder Jakobus gestanden haben.
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 Wenn Paulus in gewisse Diskussionsabende eintreten würde, würde er sich vielleicht billig über die Menge von Geist, der hier zutage tritt, wundern, vor allem über den Geist der Frauen, aber er würde sagen: Das Christentum, das ich gepredigt habe, für das ich die Todeswunden empfing und den Tod am Kreuze und im Kerker nicht gemieden habe, das Christentum ist das nicht! Wenn heute Luther käme und würde auch in sogenannte freie Kreise kommen – und wer ist nicht frei heutzutage –, und| würde in sogenannte geistreiche Kreise kommen – und wer ist heutzutage nicht geistreich, so würde er sich wirklich wundern über die Fülle von wundersamen Einfällen, die aus den mancherlei Köpfen hervorquillt, aber er würde sprechen: Von dem apostolischen Glauben, den ich in Worms bekannte, in Augsburg bekannt habe, mit dem ich mein Haupt in Eisleben zum letzten Schlummer geneigt, ist in dem allen keine Spur.
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 Ihr habt die Wahl: Auf der einen Seite steht das alte, apostolische Christentum mit dem oft dunklen Hintergrunde von Sünde und Hölle und dem wundersam lichten Vordergrunde von Gnade und Erbarmung, und auf der andern Seite steht ein geistvolles, aus allerlei geistreichen Gedanken sich selbst erbauendes, auf Menschenwort und Menschenlehre und Menschenwitz und Menschengeist sich gründendes, verdünntes Christentum ohne rechten Sündenernst und ohne rechte Gnadenfreude. Ihr könnt wählen! Aber, wie ihr auch wählt, so viel Ehrlichkeit soll man doch bei allen erhoffen, daß ihr sagt: Christentum unserer Tage – aber nicht mehr apostolisches Christentum. Wir aber, die wir versprechen, daß wir auf dem Grunde der Apostel und Evangelisten stehen wollen, weil Jesu Kreuz der Eckstein ist, wir wollen auf nichts anderes bauen, als auf den Grund, den Er gelegt hat, auf das Bekenntnis zu Ihm, dem alleinigen und ewigen Sohn Gottes. Das ist apostolisches Christentum. Vielleicht sagt einer im Stillen: Ich erkenne aber darin keinen Fortschritt! Mein Christ, einen Fortschritt in dem Bekenntnis, daß wir hinankommen zu dem völligen Mannesalter Jesu Christi (Eph. 4, 13), da keine Zweifel und keine Kritik mehr bestehen, wünschen wir uns wohl alle. Aber eine Fortentwicklung, die schließlich zum Gegensatz von dem führt, was wir bekennen, wollen wir nicht. Schreitet fort im Bekenntnis zu Jesus, vertieft dieses Bekenntnis in euerer Seele, lernt euren Heiland auch von einer andern Seite kennen wie bisher – alles| gut! Nehmt heute Seine Abschiedsreden, morgen Seine Bergpredigt her, betrachtet einmal Seine Jüngerreden und ein andermal Seine Gleichnisworte, nehmt immer wieder ein anderes von Ihm zu Herzen, man kann von einem zum andern fortschreiten, aber über Ihn hinaus wollen wir nicht.

 Ich glaube eine, heilige, apostolische, alles umfassende Kirche. So groß auch die Zersplitterung und Spaltung, das Mißverständnis, noch geht durch alle Kirchen eine Klage und diese eine Klage heißt: Kyrie eleison –; diese Klage hört ihr in den eisigen Gefilden des Nordens ebenso, wie in denen Spaniens; diese Klage vernehmt ihr im Osten Sibiriens, wie in den entlegensten Gegenden Amerikas. Sie ist eine allgemeine Kirche; denn sie ist eins in der Klage: Herr, erbarme Dich! und ist eins in der Bitte: Hosianna – hilf uns doch! Schau auf uns, wie wir kämpfen müssen! denke an uns, wie wir daniederliegen!

 Dieses eine Wort! Denkt euch, ihr kommt in eine ganz fremde Kirche, alles ist euch so unbekannt; auf einmal hört ihr ein brausendes Hosianna vom Chor herunterschallen oder ihr vernehmt die Stimme des Priesters, der Hosianna betet, und in der Stunde trittst du völlig in die Allgemeinheit deiner Kirche ein und rufest in deinem Herzen: auch ich bete: Herr, gedenke an mich!

 Und wenn nun das Halleluja erschallt: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was Er dir Gutes getan hat!“ (Ps. 103, 2.) Seht, das ist Allgemeinheit meiner Kirche, die durch das gnadenvolle Amen: So soll es geschehen! bekräftigt wird. Und diese Kirche ist ewig bleibend; denn ich glaube, daß die eine, heilige, apostolische, allgemeine Kirche die Gewißheit hat, daß sie ewig ist. Denn die Kirche hat nach dem schönen Wort unserer Väter zwei große Chöre – den Chor der Wandersleute und den Chor der seligen Leute. In dem Chor der Wandersleute sagen wir: „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem!“ (Luc. 18, 31.) Wir stehen noch vor der Türe. – Noch vor wenigen Tagen weilten| noch unter uns solche, die nun schon hinter die Türe eingetreten sind und nun Freude und Wonne haben.

 Es ist nur eine Minute, die den Chor der Wanderer von dem Chor der seligen Bekenner trennt. Es ist nur eine kurze Stunde, und der Vorhang, welcher dort und hier, die Zeit des Werdens und die Zeit des Gewordenseins voneinander scheidet, ist gehoben, man ist daheim. Aber die Kirche, die mich hier auf Erden bis in die Todesstunde geleitet hat, werde ich auch droben wieder treffen, wenn der Tod vorüber ist, nur nicht mehr als eine Kirche der Hoffenden, sondern als eine Kirche der siegreich Triumphierenden, nicht mehr als eine Kirche der Glaubenden, sondern als eine Kirche der Schauenden, nicht mehr als eine Kirche der Wanderer, sondern der Heimatsleute. Diese Kirche wird ewig bleiben oder, daß ich’s genau sage: Während hier auf Erden die Kirche doch noch ein recht unzureichend Gefäß für das Reich Gottes ist, wird droben das Reich Gottes und die Kirche eins und ebenbürtig sein, das Gefäß wird vom Inhalt ganz erfüllt sein, und der Inhalt das Gefäß überklären und überglänzen, sie werden ganz eins sein. Hier auf Erden ist die Kirche im Streit und man spürt, wie sie den Reichsgottesgedanken nur mühsam beherbergt und darstellt. Droben aber wird es heißen: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!“ (Off. 21, 3.) „Und Sein Glanz wird auf ihren Stirnen und Sein Name auf ihren Lippen sein. (Off. 3, 12.)“

 Es ist doch etwas Großes, daß ich mit allen Heimgegangenen in einer fortwährenden Fühlung stehe, nicht in einer Verbindung, wie der Trug sie herstellt und die Lüge sie hervorzaubert, nicht in einer solchen Verbindung; denn die Heilige Schrift sagt: „Wer solches tut, der ist dem Herrn ein Greuel.“ (5. Mos. 18, 12.)

 Nein, eine solche Verbindung kennen wir nicht. Aber eine Verbindung kennen wir, die weit näher ist als hier auf Erden, wo sich oft Leute, die sich ein- oder zweimal gesehen haben, nimmer| begegnen. Es ist dies eine Verbindung, wo man eins ist in dem Einen, die Verbindung von Glauben und Schauen. Es wäre ja trostlos über die Maßen, wenn ein geliebter Mensch in dem Augenblick, in dem er stirbt, einfach aus meinen Gedanken herausgerissen wäre; alles das, was ich an ihm gehabt, von ihm gelernt, mit ihm gelitten, von ihm erbeten, wiederum an ihm gefehlt habe, alles das wäre durch eine einzige Minute einfach ausgetilgt, und mein Leben wäre, nachdem eine Menge von Gedanken und Eindrücken hineinkam, verarmt. Das tut Gott nicht; sondern die Beziehungen, die vor Ihm bestehen, bleiben auch dann noch weiter. Denn ich glaube: Die Kirche wird ewig bleiben. Siehe, wenn du in einem Buche eines deiner Väter liesest, in dem Buche des seligen Thomas von Kempis, in seiner Nachfolge Christi, die nicht immer rein evangelisch ist, manchmal einen nicht lutherischen Zug aufweist, aber doch wunderbar ist, oder wenn du eines unserer herrlichen Lieder singst, so: „Laß mich Dein sein und bleiben,“ trittst du in die Gemeinschaft mit dem Dichter. So oft wir in der Passionszeit Paul Gerhardts herrlichen Choral: „O Haupt, voll Blut und Wunden“, singen, so tritt dieser Mann vor unser Auge, wie Bernhard von Clairvaux mit seinem Psalter auf den leidenden Herrn. Das ist die Gemeinschaft der Kirche, das ist der Katechismus, den meine Mutter nicht gelehrt, sondern gelernt hat, wie sie es von ihrer Mutter lernte; das ist die Biblische Geschichte, die meine Ureltern einst lasen und lernten, und ihre Seele genas. Und nun lerne ich sie und lehre sie den Kindern und trete so in die Gemeinschaft der Kirche. Das sind die alten Lieder und Gebete, – darum bin ich ein Gegner der so beliebten freien Gebete –, die man 300 Jahre nach Christi am Schwarzen Meere zum erstenmal betete. So oft ich das Gebet spreche: „Ich sage Dir Dank, Du wahres, ewiges Licht“ (Samenkörner des Gebets. Ein Taschenbüchlein für ev. Christen von W. Löhe. Buchhandl. d. Diak.-Anst.),| dringen und klingen Töne der alten Kirche zu uns herüber, das sind Gebete des Chrysostomus. So, wie wir jetzt von den Gebeten und Liedern unserer Väter, von ihrer Weisheit und Liebe leben, wie wir unter dem Schatten der Bäume wandeln, die andere gepflanzt haben, so glauben wir eine ewig bleibende Kirche. Was wird das einst für eine Größe an Seligkeit werden! Wie viel Seligkeit glaubt ihr nun schon zu bedürfen, bis ihr mit eueren Lieben, die vor euch hingegangen sind, die Gedanken über das austauscht, was sie selig, froh und heilig gemacht hat! Ich meine, wenn nur jeder Einzelne einmal in der oberen Heimat seine Sterbestunde den andern erzählt, wird’s schon eine unermeßliche Freude sein. Das Finale, der Ausgang des Berichtes wird immer sein: Ehre sei Gott in der Höhe!
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 Und ich glaube eine Gemeinschaft der Heiligen. Das Wort wird in zweifacher Weise erklärt und so will ich es auch der Gemeinde dartun: Gemeinschaft am Heiligen und Gemeinschaft der Heiligen. Ich glaube eine Gemeinschaft am Heiligen: Am Wort Gottes, an den Sakramenten, am Lied und Gebet, an der Geschichte der Kirche. Es ist doch etwas Wunderbares, daß so viele Menschen an einem einzigen Menschen wie Paulus oder Luther teilhaben. An einem Goethe oder Schiller haben Gebildete teil, an einem Wagner etliche Musikverständige, an einem Bach, Händel, Reger etliche, die besonders in der Harmonielehre und im Orgelspiel bewandert sind. Aber an Paulus oder Luther haben viele Tausende teil. Gemeinschaft am Heiligen: An der Vergebung der Sünden, am Trost im Tode, Gemeinschaft ewiger Interessen. Seht, alle anderen Gemeinschaften, alle anderen sind Gemeinschaften vorübergehender Interessen: Der Landsmannschaft, der Freundschaft, der Nachbarschaft; diese treten aber alle allmählich zurück. Wenn der Mensch älter wird, werden die Eindrücke der späteren Lebenszeit mächtiger und legen auf die Eindrücke der Jugend einen Schleier wie eine Staubschicht.| Später, im hohen Alter, mögen dann wohl manchmal wieder Rück- und Einblicke in die Jugendzeit auftauchen. Diese äußeren Gemeinschaftsverhältnisse aber schwinden. Ich kann mir kein einziges Gemeinschaftsverhältnis denken, das nicht immer wieder von Zeit zu Zeit erkaltet. Sehr fromme Eheleute haben mir schon gesagt: Wir müssen immer wieder von neuem aneinander glauben. Dagegen die Gemeinschaft am Heiligen wächst von selbst. Jede Gebetserhörung, jede freundliche Fügung und Führung, das Kreuz auf dem Wege bringen zusammen.
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 Ich glaube eine Gemeinschaft von Heiligen und darum glaube ich – und damit laßt mich heute schließen – eine Gemeinschaft der Heiligen. Wir tragen unter und an den Verstimmungen schwer; aber es würde keine Verstimmung geben, wenn nicht im tiefsten Grunde doch eine Einstimmigkeit wäre. Alle Verstimmungen sind nur Karikaturen der Einstimmigkeit. Wenn wir oft hineinsehen in die kleinen Unebenheiten und Mißverständnisse, in alle Zerwürfnisse und Zerrissenheiten, bleibt es doch an dem: Würden diese Menschen nicht doch einen Weg und ein Ziel haben, so würden sie nicht auf dem Wege zanken; auf verschiedenen Wegen zankt man nicht, sondern nur auf einem. Ich glaube trotz allem eine Gemeinschaft der Heiligen. Was ist es nur allein Großes um die Gebetsgemeinschaft! Wenn jetzt um diese Abendstunde, um die Zeit des Gebetläutens, durch meine Seele der Gedanke zieht: Wie du jetzt betest, so knieen viele ungesehen und beten mit dir! Was ist das für ein wundersamer Gedanke! Wenn in der Passionszeit im Frankenlande am Freitag um 11 Uhr von allen Türmen die Scheidung geläutet wird, die große Erinnerung an das bittere Leiden des Herrn, wenn nun durch alle Dörfer und Städtlein den ganzen Gau hinauf und hinab ein Klang und ein Bekenntnis lebt und zieht, so ist das Gemeinschaft der Heiligen. Und diese Gemeinschaft wird in der Welt der Zerrissenheit nicht geringer, sie| wird nur verborgener. Es hat Zeiten gegeben, wo sie mehr zutage trat; ich erinnere an jene wundersamen Begegnungen J. M. Sailers mit Stolberg, Lavater, Jung-Stilling oder an die Zeit, als Steinkopf aus London herüberkam und 1804 die Bibelgesellschaft gründete. Damals ging diese Gemeinschaft mehr nach außen, das kommt nimmer, aber geringer ist sie seitdem nicht geworden.

 Wenn mir, was einem auf der Reise noch begegnen mag, jemand gegenübersitzt, ein neues Testament herauszieht und liest, mich ansieht und in meinen Augen die Gemeinschaft des Glaubens erschaut, wenn ich mitten im Weltgetriebe Menschen finde, die mit mir denselben teuren Glauben und dasselbe Hoffen überkommen haben, ist es Gemeinschaft der Heiligen. Ihr seht, der dritte Glaubensartikel führt in die allerinnerlichsten Beziehungen von Mensch zu Mensch ein. Der Mensch stirbt und lebt an seiner Umgebung. Er stirbt an seiner Umgebung, wenn sie von ihm nimmt. Er stirbt an der Umwelt, die er nur für sich will, und er lebt von der Umwelt, für die er sich gibt. Je mehr ein Mensch den Mut hat, Kraft und Zeit, Leben und Lebensfreude denen zu geben, die mit ihm auf dem Wege sind, desto mehr lebt er, indem er gibt, und desto mehr empfängt er, indem er lebt. Gott schenke euch und uns die Gemeinschaft am Heiligen, eine kraftvolle, lebensstarke Hoffnung, die Grab und Tod überdauert, eine ernstliche Bereitung auf die Tage, die uns nicht gefallen, ein herzliches Verlangen nach ewigen und bleibenden Gütern und lasse uns nie allein im Kampfe, allein in der Siegesfreude erfunden werden. Denn „einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal. 6, 2), des Herrn, der durch Seinen heiligen Geist eine heilige, apostolische, allgemeine, alles überdauernde Kirche gestiftet und mich würdig gemacht hat, in dieser Kirche zu dienen.

Amen.



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