Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Neunundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Dreißigstes Kapitel
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Neunundzwanzigstes Kapitel.




Frau M. hatte seit meiner Kündigung fortwährend mit allerlei Gouvernanten correspondirt. Einst kam sie zu mir und sagte: „Heute erhielt ich den distinguirtesten Brief von allen, die ich seither empfing! Sehen Sie einmal, ob er nicht eine Pracht-Composition ist und ob nicht die Verfasserin desselben eine höchst ausgezeichnete Person sein muß?“

Ich las den Brief, der in französischer Sprache abgefaßt und E. V. unterzeichnet war; ich bedauere, keine Abschrift davon zu haben, er war an Großsprecherei ein Thurm zu Babel. Als Qualification nannte die Dame meisterhaftes Clavierspiel, Zeichnen, deutsche Sprache, Französisch, Italienisch, Polnisch und Russisch nebst den gewöhnlichen Wissenschaften. Von sich selbst sagte sie, daß sie eine ausgewanderte Polin und ihr Gemahl beim letzten Bauernaufstande in Galizien, wohin er seiner Güter wegen zurückgekehrt gewesen, ermordet worden sei, daß der Verlust derselben sie genöthigt habe, sich eine Subsistenz zu gründen, daß der Name V. ein angenommener sei, weil sie den hohen Familiennamen ihres Gatten nicht herabwürdigen wolle. Schließlich sprach sie von allen europäischen Höfen als von ihrem eigentlichen Elemente, speziell nannte sie aber alle Mitglieder der königlichen Familie von … als ihre besonderen Gönner und Freunde, bedauernd, durch ehrenvolle Motive verhindert zu sein, ihren wahren Namen zu nennen.

Ich konnte nicht umhin, das Geheimnißvolle und Prahlerische dieser Epistel zu belächeln. Frau M. bat mich sogleich in ihrem Namen an Madame V. in deutscher Sprache zu schreiben, sie um die genaue [289] Angabe ihres Alters zu bitten und sie bezüglich ihrer Bedingungen zu fragen. Schließlich sollte ich auch ihr meine näheren Verhältnisse mittheilen, d. h. eine unmittelbare Correspondenz mit ihr eröffnen. Hier durchschaute ich aber augenblicklich Frau M.’s Intriguenspiel, und folgte fortan meinen eignen Eingebungen.

Madame V. antwortete, wie zu erwarten stand, ausweichend in Bezug auf ihr Alter, während sie den Gehalt offenbar zu hoch angab, sprach jedoch ihre Freude darüber aus, eine D…in persönlich kennen zu lernen. Frau M., die sich auf Angabe des Alters durchaus capricirte, ließ durch mich eine abermalige Anfrage an Madame V. richten, deren Beantwortung nichtsdestoweniger dasselbe Resultat hatte als die zuerst an sie gerichtete. Dadurch gewann die ganze Sache in Frau M.’s Augen aber nur noch mehr an mysteriösem Reiz, und, da sie sah, daß hier auf geradem Wege Nichts auszurichten sei, so suchte sie allerhand Schleichwege auf, um zu ihrem Ziele zu gelangen.

Sie sendete zunächst Madame V.’s Handschrift zu einem berühmten Schriftdeuter nach London, dessen ungenügende Aufklärung sie indeß bestimmte, jene Verbindungen und Connexionen zu benutzen, welche ihr und ihrer Familie massenweise zu Gebote standen. Und wirklich gelang es ihr durch einen Agenten in London, der zahlreiche Annoncen unter der Bedingung persönlicher Vorstellung erlassen mußte, die erwünschten Aufschlüsse zu erhalten. Madame V. hatte auf eines dieser Gesuche reflectirt, was ihr das Signalement seitens des Agenten eintrug, sie sei eine Frau in den funfziger Jahren von kokettem Betragen und emancipirten Ansichten. Frau M. schien durch diesen Bescheid zufriedengestellt, denn sie ließ die ganze Sache fallen.

Endlich rückte unter unzähligen Widerwärtigkeiten der Kündigungstermin heran, meine Habseligkeiten waren gepackt und ich erwartete mit Freuden und Ungeduld die Stunde meiner Abreise. So glatt sollte es aber doch nicht ausgehen, wie ich es mir einbildete, denn Herr und Frau M. weigerten sich schließlich, ihre eingegangenen Verbindlichkeiten zu erfüllen. Auch würde ich in der That eine für meine Verhältnisse beträchtliche Summe eingebüßt haben, hätte mich davor nicht ein schriftlicher Contract geschützt, den ich nun zu meinem Verdrusse wieder aus dem Chaos der Effecten und Reiseutensilien herauswühlen mußte. Trotz dieses Rechtsmittels verweigerte mir Herr M. dennoch die Hälfte des Reisegeldes, aber ich zog es vor, diesen ungentilen Leuten damit [290] für immer den Rücken zu kehren, ehe ich bei einem englischen Gerichtshofe die Sache anhängig machte.

Mein nächstes Reiseziel war die Metropole London, woselbst ich so lange mich aufzuhalten gedachte, bis meine Werthpapiere einen günstigeren Cours erreicht haben würden, und ich schmeichelte mir zugleich mit der Hoffnung, vielleicht bis dahin eine Stelle begleiten zu können; vor allen Dingen aber beeilte ich mich, die persönliche Bekanntschaft jener geheimnißvollen Madame V. zu machen, deren Einladung wohl kaum in einen passenderen Zeitmoment fallen konnte.

Madame V. bewohnte ein elegantes Logis in der Nähe der gigantischen Regent-Street, und ich fand in ihr eine große, starke Matrone, auf deren Gesichtszügen noch deutlich die Spuren einer orientalischen, wenn auch schon längst verblichenen Schönheit verzeichnet waren. Sie sprach viel über D… und den …schen Hof, sie sprach viel von dem Reichthum ihrer Eltern, mit welchen sie daselbst gelebt, und erwähnte schließlich, daß sie sich auch dort mit einem polnischen Grafen vermählt habe.

Während ich ihr nun aufmerksam zuhörte und das Spiel ihrer Mienen verfolgte, dämmerten aus längst vergangenen Zeiten unwillkürlich Erinnerungen in meiner Seele empor, welche gleichsam dem Tone ihrer Stimme, sowie ihrem etwas charakteristischen Sprachorgan ihren Ursprung verdankten. – Ich habe nur meine Kinderjahre in D… zugebracht, und keinen andern Gesellschaftskreis von Bedeutung als den des Fürsten G. kennen gelernt, nichtsdestoweniger ward es mir immer klarer, daß ich diese Dame als eine Persönlichkeit, deren damalige Stellung mir im Augenblicke nicht einfiel, in jenen Zirkeln gehört und gesehen hatte. – Da mich mein seltenes Gedächtniß, Personen besonders aus ihrem Sprachorgan wiederzuerkennen, fast noch nie getäuscht hatte, so erfaßte mich ein doppeltes Interesse für meine neue Bekanntschaft, und ich beschloß, durch fortgesetzte Besuche ihr Vertrauen zu gewinnen, und ihre Identität zu ermitteln.

Madame V. besaß die Gabe einer eleganten Conversation im hohen Grade, und sie verstand es meisterhaft, ihren Zuhörer durch pikante Erzählungen ihrer Reisen durch Europa, ihrer Bekanntschaften mit verschiedenen Höfen und Celebritäten gegenwärtiger wie vergangener Zeiten, denen sie ein geheimnißvolles Decorum zu geben wußte, zu fesseln. Besonders rührend und anziehend waren ihre Episoden aus der polnischen [291] Emigration, zu welcher sie sich nebst ihrem Gemahl zu rechnen pflegte.

Bei all ihren glänzenden socialen Eigenschaften und ihrer wirklich vorzüglichen Fertigkeit auf dem Pianoforte im Vereine mit tüchtigen Sprachkenntnissen fand sich dennoch kein Engagement für sie, weil es ihr an Empfehlungen gänzlich mangelte, und sie andererseits durch ihr mysteriöses Auftreten das Vertrauen schwächte, was man zu einer Erzieherin durchaus von vorn herein muß fassen können. Dabei besaß sie eine fast an’s Lächerliche grenzende Sucht zu imponiren durch unermüdliche Darstellung ihrer hohen Bekanntschaften und Connexionen, sowie durch das Zurschaustellen ihrer Diamanten und ihrer äußerst kostbaren Garderobe.

Eines Tages empfing sie in meiner Gegenwart einen Brief aus Paris: Madame W… adressirt. Aergerlich über die vorlaute Zunge des Briefträgers, welchem ich diesen Namen fast mechanisch nachsprach, äußerte sie schnell, daß diese Adresse falsch sei, indem sie nicht W…, sondern W…ka heiße. Ihr ganzes Benehmen bei dieser Scene veranlaßte mich, diese unbegreifliche Namensverwechselung meinem Gedächtnisse einzuprägen.

Ich kann nicht umhin, noch nachträglich zu erwähnen, daß Madame V. nicht minder eine besondere Kenntniß des deutschen Drama’s besaß, und oft recitirte sie ganze Rollen mit beinahe künstlerischer Vollendung.

Sie bekannte sich zur römisch katholischen Kirche, gleichwohl legte sie bei jeder vorkommenden Gelegenheit eine totale Verachtung des Christenthums an den Tag; ja sie bemühte sich sogar, dasselbe lächerlich darzustellen. Empört über eine hierauf bezügliche Aeußerung ihrerseits sagte ich ihr einst, daß es mich keineswegs wundere, wenn christliche Eltern ihre Kinder einer Erzieherin von solchen Grundsätzen unmöglich auf die Länge der Zeit anvertrauen könnten. Sie war etwas bestürzt über dieses ziemlich kategorisch hingeworfene Urtheil, und wollte mir dann einreden, ich habe ihre Polemik über den christlichen Glauben theilweise mißverstanden, fügte auch zur Bekräftigung dessen die Erklärung bei, sie werde nächstdem den Versuch machen, unter der englischen Geistlichkeit als Erzieherin Posto zu fassen, und – zu diesem Zwecke nöthigenfalls auch ihre Confession wechseln.

Alle bisherigen Manöver der Madame V. im Vereine mit ihrem deutlich ausgeprägten orientalischen Typus und jenen kleinen Gewohnheiten, [292] welche fast unzertrennlich von den Kindern Israels scheinen, ließen mir keinen Zweifel mehr übrig, daß sie selbst den letzteren angehöre, und ich glaubte jetzt einen passenden Zeitpunkt gefunden zu haben, um ihr dieses Geheimniß wohl oder übel zu entlocken.

„Bravo! rief ich aus, „jetzt werden Sie protestantisch, in der Türkei werden Sie muhamedanisch, und in Indien werden Sie buddhistisch, wenn nur Ihr Herz jüdisch bleibt!“ – Ich hatte gewonnen. Madame V. sah sich verrathen; sie antwortete mit Nichts, sondern sandte mir nur einen Blick voll giftigen Hasses zu. Auch verfuhr sie von diesem Augenblicke an bei Weitem mißtrauischer gegen mich als früher.

Eines Tages erzählte mir Madame V. mit freudiger Stimmung, sie habe gute Aussicht, die Erzieherin der Tochter einer ältlichen Dame zu werden, jedoch habe sie letztere auf die ihr bevorstehenden Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, indem Miß Mary einen etwas unlenksamen Charakter besitze. Ich wünschte Madame V. Glück zu dieser Aquisition, nicht ahnend, daß sich unsere Interessen schon so schnell kreuzen würden; denn nächsten Vormittag erhielt ich einen Brief von einer gewissen Frau Th…, Brook-Street, mit der Bitte, mich bei ihr einzufinden, sie suche eine Gouvernante für ihre Tochter. Und dies war derselbe Name, sowie dieselbe Adresse, welche mir Tags vorher Madame V. als ihren Hoffnungsstern angeführt hatte! Noch heute kann ich mich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren, wenn ich daran denke, daß ich jener Aufforderung Folge leistete, ohne Madame V. vorher davon in Kenntniß gesetzt zu haben, besonders da mir Frau Th… die fragliche Stelle anvertraute.

Ich begab mich also nach Brook-Street und fand in Frau Th. eine bereits ergraute Dame mit eiserner Moral, wie ich es aus einer ziemlich langen Ansprache entnehmen durfte, worin sie unter anderen auch die Eigenschaften einer Erzieherin mit aller nur denkbaren Schärfe und Strenge zu entwickeln sich bestrebte. Eine Anfängerin meines Standes hätte sich vor dieser Erscheinung wahrscheinlich entsetzt, mir war aber dies kein neues Vorkommniß, und ich wurde mit der Versicherung entlassen, daß, sobald die einzuziehenden Erkundigungen über mich befriedigend ausfielen, meinem Engagement Nichts im Wege stehen würde.

Letzteres erfolgte in wenig Tagen, und ich konnte die mir noch [293] eingeräumte kurze Frist bis zu meinem Eintritt in die Familie auf das Ordnen kleiner Angelegenheiten verwenden.

War die Entdeckung, daß Madame V. eigentlich nur eine abenteuernde Jüdin sei, hinreichend, um meine Bekanntschaft mit derselben aufzugeben, so mußte unser Zusammenstoß auf dem gemeinschaftlichen Geschäftswege besonders auch ihrerseits eine gewissermaßen willkommene Ursache sein, sich von mir zu entfernen, was auch geschah, nachdem ich ihr die Mittheilung meines Engagements gemacht hatte. Ich nahm die letzten Ausbrüche ihres Zornes und Aergers als ein Aequivalent für meine streng genommen etwas egoistische Handlungsweise bezüglich unserer Stellenconcurrenz ruhig hin.

Mein ganzes Interesse concentrirte sich jetzt natürlich auf Miß Mary, meine neue Schutzbefohlene, welche mir demnächst vorgestellt werden sollte, denn ich hatte seither noch nicht das Vergnügen gehabt, sie zu sehen. Frau Th. forderte mich auf, sie nach ihrer „Sommerresidenz“ zu begleiten, welche unweit Brighton gelegen sei. Mein Muth sank allerdings bedeutend, als ich statt der angekündigten Sommerresidenz einen Weiler erblickte, dessen ärmliches Aeußere dem Innern ganz und gar entsprach, und mein Trost, vielleicht durch den Anblick der Insassin einigermaßen entschädigt zu werden, sollte auch bald eine schreckliche Enttäuschung erfahren.

Miß Mary war eine Zwergin von sehr zweifelhaftem Alter mit großem Kopfe, in welchem ein paar kleine graue Augen von boshaftem Aussehen herumrollten, während das übrige Antlitz durch dicke aufgeworfene Lippen, die noch zum Ueberflusse durch ein Schnurrbärtchen geziert waren, und eine aufgestülpte Nase entstellt wurde. Trotzdem sie die Kinderjahre längst überschritten haben mußte, so trug sie doch ganz den kurzen, flotten, in England für kleine Mädchen üblichen Kleiderschnitt, der ihre kurzen und dicken Beinchen zur Schau stellte. Ein noch ganz ungeschliffenes, ja beinahe pöbelhaftes Wesen ihrer Manieren, vollendeten die liebenswürdige Erscheinung, welcher ich Bildung und Politur beibringen sollte.

Leider barg dieser häßliche Körper auch eine häßliche Seele, denn Miß Mary verbitterte mir das Leben, und erschwerte mir das ohnehin schwere Geschäft der Erziehung auf alle nur mögliche Weise. Ihr Benehmen blieb trotz aller meiner Versuche, ihr in Güte oder Strenge beizukommen, ein verstocktes und brutales gegen mich, ja, als sie bemerkte, [294] daß ich mich standhaft weigerte, ihr das bisher gewohnte wilde und zügellose Leben zu gestatten, suchte sie mich durch Intriguen bei ihrer Mutter zu verdächtigen.

Miß Mary war das einzige Kind ihrer Mutter, was Wunder also, daß dieselbe bei ihrer kurzsichtigen Güte und Verblendung jenen Reden ihr Ohr nicht lange verschloß und den Ton ihrer Tochter auch gegen mich anschlug, was Wunder, wenn der Wunsch mehr denn je in mir rege wurde, diese Verhältnisse, dieses Land zu quittiren?

Nach einem mehrwöchentlichen Aufenthalte Übersiedelten wir wieder nach Brighton, wo Frau Th. einen ziemlich ausgebreiteten Kreis von Bekanntschaften aufzuweisen hatte. Sie war nicht wenig stolz auf ihre engen Beziehungen zu sämmtlichen M…ten, B…ten, I…ten, R…ten u. s. w., die sich ja alle zu den Honoratioren Brightons rechneten und sämmtlich meine Quälgeister gewesen waren.

Meine Erziehungsconsequenz gegen Miß Mary verschlimmerte leider das unangenehme Verhältniß, was dieselbe gegen mich provocirte, und was sich nun auch die Mutter weiter auszuspinnen bestrebte, wozu allerdings einige Stimmen des obenerwähnten Kreises von Bekanntschaften das ihrige mit beitrugen. Besonders zeichnete sich hierin eine Admiralstochter Namens D. aus, die allem Anscheine nach mit den M…ten in näherer Verbindung stand.

Der Unmuth über solche unverdiente und schnöde Behandlungsweise, welche mir besonders in letzter Zeit auf diesem Boden widerfahren war, im Verein mit dem Umstande, daß meine Werthpapiere jetzt gerade beinahe die doppelte Courshöhe erreicht hatten, bestimmte mich, die Stelle bei der Familie Th. aufzugeben, und ich verließ hiermit England gegen Ende September.

Das Bedürfniß, meinen Körper durch einige Zeit der Ruhe und Abgeschiedenheit von der Welt wieder zu kräftigen, ward dringender als je in mir laut, und der nächstliegende Gedanke, diese Zeit in meiner lieben Vaterstadt, welche zugleich die seligen Erinnerungen der Kinderjahre barg, zuzubringen, war zu verführerisch für mich, stand so frank und frei und ziellos da, um ihn nicht zur Ausführung zu bringen.

Und er belohnte sich herrlich durch den Erfolg dieser freiwilligen Ferien, denn ich fühlte deutlich die Wiedergeburt des gleichsam erstarkten Geistes, so wie die Wiederkehr der theilweise verlorenen Gesundheit binnen wenig Monaten.

[295] Ein gesunder und kräftiger Körper und Geist wird wohl selten seine gewohnte Beschäftigungsweise auf die Dauer entbehren können, ohne in Apathie zu verfallen (wenigstens bilde ich mir dies ein), weshalb ich auch den gestärkten Lebensimpuls mit Freuden als ein neues Pfund in dem Haushalte des Herrn zu verwerthen suchte.

Die Lust der Ortsveränderung, welche in mir begreiflicher Weise im Laufe der Jahre Wurzel geschlagen hatte, kämpfte einen kurzen aber harten Kampf mit der Heimathsliebe, bis endlich die erstere durch ein lockendes Anerbieten, was mir gestellt wurde, die letztere betäubte, und ich das Engagement des Grafen * in Posen annahm.

„Du Land der süßen Wonne,
O Heimath lebe wohl!“

Ostern 1853 verließ ich D*** bei rauhem, stürmischem Wetter, fuhr per Eisenbahn bis Glogau und mußte von da an die Post zur Weiterreise nach Lissa benutzen.

Wie es bei Postreisen in der Regel zu gehen pflegt, daß man entweder durch Kasten und Schachteln oder wenigstens durch corpulente Passagiere incommodirt wird, so auch diesmal, nur mit dem Unterschiede, daß beides zusammenwirken mußte, um mir diese lange Fahrt zur Hölle zu machen. Denn mein Gegenüber erschien in Gestalt einer dicken Frau, versehen mit einem ganzen Gefolge von Schachteln, die der Postconducteur rücksichtslos in den Wagen hereinstopfte. „Ich bitte mich auf den Vordersitz zu lassen, sonst muß ich speien,“ lautete die holdselige Ansprache, deren Zauber ich keinen Augenblick Widerstand zu leisten vermochte, so daß ich meinen Vordersitz mit dem Rücksitze schleunigst eintauschte.

Daß ich in Lissa mehrere Stunden Nachts auf den Postwagen nach Posen frierend warten mußte und durch schlechtes Fuhrwerk und schlechte Straßen viel erduldete, sind Unannehmlichkeiten, die Jedermann kennt, der per Post fuhr, und die nicht aufhören werden, so lange es Postpassagiere giebt.

Obschon Posen unzweifelhaft zu den respectableren Städten Polens gezählt werden muß, so bietet es doch für einen Deutschen sowohl innerlich als äußerlich nichts Erfreuliches, und das Oede seiner Lage wird durch die starren Festungswerke, welche es umgürten, beträchtlich erhöht.

Meine Adresse führte mich an ein Haus, dessen Façade auf nichts weniger als herrschaftliche Bewohner deutete; auch war sein Eingang durch ekelhafte Schmutzhaufen versperrt. Nachdem ich eine schmale hölzerne [296] Stiege passirt hatte, öffnete auf wiederholtes Läuten ein Mann in Kochkünstlertracht die Thür und führte mich auf mein Begehren augenblicklich in eigner Person zu meiner neuen Prinzipalin, der Gräfin *, nachdem wir erst Küche und Schlafzimmer zu durchlaufen hatten, um das Wohnzimmer der gnädigen Frau zu erreichen.

Gräfin *, eine Dame von wahrhaft kolossalen Dimensionen, befand sich in Gesellschaft ihrer circa vierzehnjährigen Tochter nebst meiner Vorgängerin, einer hübschen, sehr jungen Person, die ich auf’s erste Wort als eine Engländerin erkannte.

Die Gräfin empfing mich mit wahrhaft bezaubernder Freundlichkeit und Herablassung, sie beseitigte sofort alle Formalität und forderte mich auf, sie ganz einfach „Madame“ zu tituliren. Auch machte sie komische Andeutungen über ihre ungastliche Interimswohnung, welche sie nur die Zeit über benutze, wo der Graf den B… Landtag besuchen müsse, während sie die übrige Zeit in der Regel auf den Gütern zubringe.

Hierauf stellte sie mir ihre einzige Tochter H… und Miß M., ihre bisherige Gouvernante, vor, die ihr sonst hübsches Gesichtchen in verdrießliche Falten zu legen beliebte. Die Mittagsstunde war nahe, weshalb ein polnischer Bedienter einen kleinen Tisch zwischen den Betten, wo wir saßen und standen, servirte, und mit einem einfachen, aber schmackhaften Mahle besetzte, nach dessen Beendigung der junge Herr Graf erschien – eine in der That interessante und ihrem Aeußeren nach höchst vortheilhafte Erscheinung, – der mit ziemlicher Virtuosität Pianoforte im Nebenzimmer spielte. Die gnädige Frau lauschte den Tönen mit sichtbarem Interesse; Miß M. stand dagegen während dieser Zeit am Fenster, ihre Blicke unverwandt auf einen Punkt der Straße gerichtet, welche Situation sie plötzlich mit einem kaum merklichen Kopfnicken unterbrach und sich dann schnell vom Fenster wegwandte. So unbedeutend dieser Umstand für den Augenblick war, so gab er mir doch bezüglich späterer Erfahrungen, welche ich in dieser Familie machte, einige Aufschlüsse. Ihr Gruß galt einem schönen jungen Manne.

Nachdem wir den übrigen Theil des Tages mit Promeniren, Soupiren und Schwatzen zugebracht hatten, wurde mir mit Miß M. zusammen ein Schlafcabinet angewiesen, was mir um so angenehmer war, weil ich durch letztere vielleicht einiges Nähere über die neue Herrschaft hören würde.

Miß M. wich anfänglich meinen hierauf bezüglichen Fragen aus; [297] als ich jedoch mit ihr über englische Verhältnisse zu sprechen begann und sie bemerkte, daß ich darin völlig zu Hause sei, thaute sie nach und nach auf und lenkte nun das Gespräch von selbst auf ihre bisherigen Verhältnisse.

„Sie werden hier ein sehr luxuriöses Leben führen, Sie werden im Grunde genommen nur essen, trinken, schlafen, scherzen und spazieren gehen; denn Fräulein H… will keinen systematischen Unterricht genießen und nur sprechen und durch’s Sprechen allein fremde Sprachen erlernen. Und die Frau Gräfin ist ganz derselben Ansicht.“

„Wenn Sie aber keine andern Beweggründe haben als diese, um eine Stellung aufzugeben, versetzte ich, so dürfte man diesen Schritt wohl etwas unüberlegt nennen.“

„Sie werden sehr bald selbst Gelegenheit haben, sich ein Urtheil über meine Handlungsweise zu bilden und dieselbe billigen.“

Ich war weit davon entfernt, sie über diese Motive auszuforschen, und schwieg, um sie eventuell dadurch zur Fortsetzung dieses Themas zu nöthigen.

„Der Mensch, fuhr sie in der That nach einer Weile fort, der hier nicht erzogen ist, muß sich jeden Augenblick verletzt, empört fühlen über die große Unsittlichkeit, welche unter diesen Leuten herrschendes Princip ist, über den sybaritischen, in jeder Hinsicht ausschweifenden Lebenswandel, den man hier führt und in dessen Strudel ich um jeden Preis hineingezogen werden sollte. – Jetzt wissen Sie ungefähr, warum ich von hier fortgehe,“ fügte sie in verdrießlichem Tone hinzu.

Nach einer Pause fuhr sie folgendermaßen fort:

„Sie werden es doch nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, daß die Mütter sogar etwas darin suchen, ihren Töchtern jene scheußliche Maxime der Wollust beizubringen und ihre Jugend auf eine fluchwürdige Weise zu vergiften. Sie finden ein höllisches Vergnügen darin, das Sittengesetz ihrer Kinder zu vernichten, ja, hören Sie, fuhr sie mit erhöhter Stimme fort, indem das Blut ihr dabei in die Wangen trat und ihre Augen im Eifer ihres gerechten Zorns erglänzten, sie halten ihnen sogar Lehrer, die wegen ihres Lebenswandels berüchtigt sind, und ich war selbst Zeugin von abscheulichen Freiheiten und Unanständigkeiten zwischen Lehrern und Schülerinnen.“

Das war allerdings mehr, als ich erwartet hatte, und ich mußte [298] meine innere Bewegung mit Mühe verbergen, welche der Gedanke hervorbrachte, erst kürzlich einem Uebel entronnen zu sein, um dem andern, vielleicht noch schlimmern entgegen zu gehen.

In Miß M.’s Gesicht und Ausdrucksweise lag wohl viel, was ihren Worten einen hohen Grad von Glaubwürdigkeit verlieh, aber doch war das Mißtrauen, was mir der so vielseitige Umgang mit Menschen eingeflößt hatte, noch nicht vollkommen überstimmt. Ich versuchte daher, sie in Widersprüche zu verwickeln, jedoch mit schlechtem Erfolge. Dagegen gestand sie mir, daß der junge Graf, ein nicht minder raffinirter Bonvivant, sie unaufhörlich mit schamlosen Anträgen verfolgt habe, denen sie, um Skandal zu vermeiden, nur durch ihren Entschluß auszuweichen im Stande sei. Hier also lag der Hase im Pfeffer!

Das waren schöne Aussichten für mich, denn wenn auch meine Jugendreize großenteils verblichen waren, so hatte mich doch die Erfahrung gelehrt, daß ich selbst vor Zudringlichkeiten dieser Art eventuell nicht sicher sein würde.

„Billigt denn der Herr vom Hause eine solche Wirthschaft?“ fragte ich sie.

„Ach, mir scheint, er ist der Reformversuche überdrüssig, denn er flieht seine Familie leider, wo er nur kann,“ versetzte sie bereits etwas schlaftrunken.

Ich brach hiermit unser Gespräch ab, konnte aber trotz meiner großen Müdigkeit keinen Schlaf finden, denn außer den Zukunftsgedanken peinigten mich noch zum Ueberflusse die gewöhnlichen Bewohner eines echt polnischen Bettes.

Reinlichkeit war dieser Familie überhaupt, trotz ihrer vornehmen Abkunft, gänzlich fremd. Die Zimmer wurden wochenlang nicht von Schmutz und Staub gereinigt, während die Damen ihre Leibwäsche erst dann wechselten, wenn es Jedem ein Greuel sein mußte, dieselbe anzugreifen. Denjenigen aber, der kurz vorher erst die Sauberkeit der vornehmeren englischen Zirkel gewöhnt war, mußte diese Kehrseite doppelt und dreifach mit Ekel und Abscheu erfüllen.

Was mir Miß M. bezüglich meiner Beschäftigungsweise gesagt hatte, bestätigte sich vollkommen. Ich hatte nichts zu thun, als die Damen zu unterhalten, öffentliche Vergnügungen zu frequentiren und Besuche in ihrer Gesellschaft abzustatten, wurde jedoch stets und überall mit der größten Achtung und Zuvorkommenheit behandelt.

[299] Ein hoher Grad von Großmuth und Gastfreundschaft ist überhaupt der polnischen Nation nicht abzusprechen, und sie wissen damit eine Grazie und Ritterlichkeit zu verbinden, welche selbst bei den unteren Schichten der Bevölkerung deutlich zu erkennen ist. So werden sie z. B. selten einen alten, contrakten Diener verstoßen, sondern ihn bis an sein Ende hegen und pflegen. Auch wird es sich der Pole stets zur Ehre und Pflicht machen, seinen Gast mit ganz besonderer Auszeichnung zu bewirthen.

Vierzehn Tage nach meinem Antritte reiste Miß M. von P… ab, nachdem sie einige Anerbietungen, hier zu bleiben, ausgeschlagen hatte. Sie war ein unverdorbenes Wesen mit zarten Regungen, deren tiefe Verletzung besonders Seitens des jungen Grafen ihr den hiesigen Aufenthalt verleidete. Sie hatte in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft meine Achtung in vollem Grade erworben und schied, begleitet von meinen Glück- und Segenswünschen. – Wie bange war mir um’s Herz, als ich nach so langem Mangel an Umgang mit einer reinen, schönen Seele schon so schnell wieder entrückt von ihr, in das Chaos moralischer Verwilderung mich zurückgestoßen wußte. Ach, es gab Momente, wo ich mein bisheriges Loos ein beneidenswerthes nennen durfte.

Leider fand ich Miß M.’s Worte, was das moralische Verhältniß von Mutter und Tochter, so wie das Verhalten des jungen Grafen in und außer dem Hause anbetraf, nur zu wahr, und meine Versuche, dem Fräulein pflichtgemäß der Stellung, die ich begleitete, andere Tendenzen einzuflößen, wurden mit Hohn und Spott zurückgewiesen, so daß ich fernerhin zum Schweigen genöthigt war, und von nun an auch darauf dachte, mich in dieser Hinsicht besser, wenn auch bescheidener, zu placiren.

Mitte Mai reisten wir auf die Güter des Grafen nach K., welche in jeder Beziehung ein sonderbares mixtum compositum von Geiz, Verschwendung, Prachtliebe und Schmutzerei, Ordnung und Liederlichkeit bildeten. In diesen Dissonanzen fühlte man die Thätigkeit zweier heterogener Naturen, von denen der Graf das bessere, die Gräfin das böse Prinzip vertrat, sehr deutlich heraus. – Die eine Hälfte der Besitzung war ziemlich verwahrlost, während sich die andere durch Neuheit und Eleganz auszeichnete, ähnlich der inneren Einrichtung des herrschaftlichen Sitzes, von welchem die Gesellschaftszimmer mit großer [300] Pracht und Geschmack eingerichtet waren, während die Gastzimmer ein höchst ärmliches und schmutziges Aussehen hatten.

Die Familie war sehr reich, scheute sich aber trotzdem, das ihr gehörige, unweit K. an einem See herrlich gelegene Schloß auszumöbliren und wohnte deshalb im Landhause des Gutes, von welchem aus ich oft jenes „wüste Schloß“ im Abenddämmerschein glänzen und blitzen sah, mit dem bescheidenen Wunsche, es mein Eigenthum nennen zu dürfen.

Ende Mai, nach beendeter Session kehrte der Herr von B** zurück auf unsern Landsitz, und ich hatte das Vergnügen, in ihm einen in jeder Hinsicht vortrefflichen Mann kennen zu lernen. Er war ein angehender Fünfziger von hoher schlanker Gestalt, und seinem schönen Antlitz war der Stempel des Wohlwollens und der Humanität aufgedrückt. Seine ganze Erscheinung mußte Jedem eine gewisse Ehrfurcht einflößen, denn sowohl in seinem ganzen Wesen als auch in seiner Redeweise lag die Würde des wahrhaft Gebildeten, mit welcher er den Takt und die Höflichkeit des vollendeten Weltmannes zu verbinden wußte.

Noch heute denke ich mit Freuden der Art und Weise seiner Ansprache an mich und der wahrhaft herzgewinnenden Theilnahme, deren er mich während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes würdigte. Aus seinem Munde floß nichts Unedles, keine der faulen Reden, worin seine Familie es zu einer traurigen Meisterschaft gebracht hatte, und hier fand ich, freilich zu seinen Ungunsten, das Sprüchwort bewährt, daß sich Extreme nicht selten berühren.

Wenn auch jeder schärfere Beobachter die geistige Kluft, die zwischen Vater und Familie stattfand, in ihrem gegenseitigen Verkehr bemerkte, so mußte man sich dennoch über die Zärtlichkeit und Liebe der Sprache mit den Seinigen, so wie über die unerschütterliche Güte und Milde gegen seine Untergebenen innig freuen; und ein solcher Mensch mußte da Dornen ernten, wo er nur Rosen säete! – Dafür war allerdings ein Jeder, der ihn nur kannte, seines Lobes voll, und es gab auf seinen Besitzungen Keinen, der ohne Trost oder Hülfe von dannen gegangen wäre, sobald er solche bei ihm suchte.

Ich glaubte die Anwesenheit des Vaters benutzen zu müssen, um mit meiner Schülerin einen letzten Versuch zu machen und begann wieder mit Unterricht in einigen Realwissenschaften. Ich hatte mich jedoch stark verrechnet, indem ich mich auf die väterliche Autorität verließ, denn der Graf war viel zu sanft, um hierin der unsinnigen mütterlichen [301] Agitation Schranken zu setzen, in welcher sie bei ihrer Tochter die besten Erfolge erzielte.

„H… wird auch ohne diese einfältigen Pedanterien einen Mann fangen,“ meinte sie, und untersagte mir bei ihrer Ungnade, ferner etwas anderes mit ihr vorzunehmen, als deutsche, französische oder englische Conversation.

H… ward unter Beihülfe ihres würdigen Musiklehrers S. zu einer widerwärtigen frühreifen Kokette herangebildet, welche schon in dem zarten Alter von 14 Jahren von lauter Kabalen und anzüglichen Redensarten strotzte, so daß ich nicht selten in Gesellschaften über ihr Verhalten tief erröthen mußte.

Unterdeß fehlte es bei uns nicht an Festivitäten und Schmausereien, wozu die Wälder und Haiden des Grafen das herrlichste Wild in allen Gattungen, seine Teiche die besten Fische und seine Gärten und Treibhäuser die feinsten Gemüse und Obstarten in Ueberfluß lieferten. Selten verging ein Tag, wo wir nicht des Nachmittags um 3 Uhr in Begleitung irgend einer Nachbarschaft von Distinction zu zwei bis drei Equipagen vierspännig (wie es bei den Polen Sitte ist) ausfuhren.

Um 5 Uhr kehrten wir in der Regel zurück, worauf man Früchte verspeiste und später musicirte und tanzte. Erst um 8 Uhr soupirte man und zwar auf folgende eigenthümliche Weise: die Bedienten deckten in einem der Gesellschaftszimmer, nicht im Speisesaale, eine Tafel, um welche sich der Graf, die Gräfin und die Eltern der anwesenden jungen Personen setzten. Die Gräfin legte vor und die Bedienten präsentirten Jedem einen Teller, eine Serviette, in welcher ein Stück Brod eingeschlagen war, nebst Messer und Gabel, worauf man sich gruppen- oder paarweise nach Belieben in den Sälen und Zimmern vertheilte.

Diese Art zu soupiren gab besonders den jungen Leuten Gelegenheit, sich ungenirt zu unterhalten und mit einander zu scherzen.

Nicht selten versammelten sich hier die zahlreichen Verwandten und Freunde auch zum Diner und noch häufiger zum Kaffee, welche Assembleen dann stets mit Ball und Souper einen heitern Schluß fanden.

Bei derartigen Gelegenheiten entfaltete die gräfliche Familie eine pompöse Gastfreiheit. Die brillant erleuchteten Räume wurden mit Allem, was Küche und Keller nur zu liefern vermochten, förmlich voll gestopft, und wie so mancher Arme und Elende hätte sich an den Resten [302] der Mähler laben können, die selbst von dem überfütterten Gesinde verschmäht, dem Abraume überliefert wurden.

Nirgends habe ich eine solche Pietät beobachtet, welche die Eltern gegen die Lehrer und Erzieher ihrer Kinder der Welt gegenüber an den Tag legten, als gerade hier. Nur der Eingeweihte vermochte bei unsern Zirkeln die Herrschaft von dem Erzieher oder der Erzieherin zu unterscheiden, weil kein Wort, kein Blick Seitens der Prinzipale dies verrieth, und erstere die unbedingte Erlaubniß hatten, sich jeder Formalität zu enthalten. Hier war bunte Reihe bei Spiel und Tanz, und mein anfängliches Sträuben, mit vornehmen Herren in die Reihe der Tänzer zu treten, gab Anlaß zu vielerlei Neckereien, bis ich es durch Privatübungen so weit gebracht hatte, die Mazurka erträglich mitzumachen.

Diesen Tanz kann man in seiner Vollendung nur von Polen ausführen sehen, welche demselben eine solche Eleganz und Grazie beizulegen wissen, daß er das gewisse begeisternde Gefühl dem Zuschauer erweckt wie die Tarantella dem Neapolitaner oder die Madrilena dem Spanier.

Am tollsten ging es bei uns während der Zeit zu, wo der junge Graf Ferien halber gegenwärtig war. Unaufhörlich ertönte der Hof von „Hörnerschall und Peitschenknall,“ und das Klingen der Gläser und Jubiliren der übermüthigen jungen Schaar wollte kein Ende mehr nehmen. Bei dieser Gelegenheit ereignete es sich, daß einer der Gäste des jungen Grafen durch einen unglücklichen Schuß auf der Jagd beinahe sein Augenlicht eingebüßt hätte, wenn nicht zum Glück noch ein recht tüchtiger Arzt schnell bei der Hand gewesen wäre. Da ich selbst früher einmal einen Augenleidenden längere Zeit gepflegt hatte, so fühlte ich mich dazu berufen, dem Armen mit Rath und That beizustehen und erlebte die Genugthuung, daß er binnen einigen Wochen wieder gesund wurde und für diesmal mit dem Schreck und einem verbrannten Gesicht davon kam. Als Lohn für meine Mühe dichtete er mir mehrere hübsche französische und lateinische Verse, in welcher Kunst ihn die Muse etwas besser bedacht hatte als andere Menschen, wie es schien.

Die Frau Gräfin interessirte sich in letzterer Zeit mehr für mich als früher; mir sollte das Warum sehr bald klar werden.

Der Musiklehrer H…s nämlich, Herr S., trieb die Liaison mit seiner Schülerin auf einen Punkt, vor welchem die Mutter doch zurückschreckte, und es war sogar zwischen ihr und ihm darüber zu einer Scene gekommen, deren Resultat sich dahin gestaltete, daß die Gräfin ihm die [303] Alternative stellte zwischen möglichst beschleunigter Verheirathung seinerseits oder gänzlicher Verbannung aus der Familie; Herr S. besann sich nicht lange, sondern bot mir 8 Tage später schriftlich Herz und Hand unter ganz besonderem Protectorat der Frau Gräfin, welche mir unter allen möglichen Prätexten den Wunsch durchblicken ließ, diese Verbindung einzugehen.

Sie agirte natürlich ganz vergeblich, denn auch abgesehen von meinem Abscheu, eine Verbindung einzugehen, welche sich besonders auf egoistische Zwecke basirte, so war mir Herr S. wegen seiner niedrigen Immoralität doch schon längst ein Gegenstand der Verachtung geworden.

Glücklicherweise erheischte eine wichtige Familienangelegenheit plötzlich einen längeren Aufenthalt in D**. Dies entrückte mich unerwartet der drohenden Zukunft, welche mir aus meiner beständigen Weigerung, den Absichten der Gräfin zu huldigen, zu leuchten begann.

Beim Abschiede von der Familie des Grafen * wurde mir leicht und wohl, während ich eine gewisse Wehmuth nicht bemeistern konnte, als ich ihm Lebewohl sagte, indem ich wußte, daß ich Seinesgleichen vielleicht nie wiederfinden würde.

Eine Equipage meiner nunmehr gewesenen Herrschaft brachte mich nach Glogau, von wo aus ich mit Windeseile wieder dem geliebten heimathlichen Boden entgegenflog.