Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung

Textdaten
Autor: Wilhelm Bölsche
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Titel: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung
Untertitel:
aus: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd. 6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46
Herausgeber: Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1909
Verlag: Franck’sche Verlagshandlung
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[14]
Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung.
Von Wilhelm Bölsche.
I.

Als Darwin[WS 1] nach vieljährigem Zaudern endlich mit der Veröffentlichung seiner großen Lehre begann, war er sich über eines absolut klar: die allgemeine Tragweite seiner Idee. Darwin war kein Mann der Studierstube in dem Sinne, daß er einer Wahrheit nachging ohne jede Frage, was sie für den praktischen Gebrauch der Menschheit bedeute. Es ist rührend, in seinen Aufzeichnungen und Briefen zu lesen, wie er persönlich mit seinen eigenen Konsequenzen gerungen hat. Durchaus sollte seine Theorie über die Wege der Entwicklung den warmherzigen, um alles Edelste der Menschheit fort und fort besorgten, wahrhaft idealistischen Menschen in ihm segnen, und es war die Bitterkeit seines reichen Geisteslebens und Geisteserfolgs, daß ihm und andern dieses Segnen nicht immer ganz gelingen wollte. Seine Weltreise hatte ihm scheußliche Bilder menschlicher Qual (vor allem auf dem Gebiete der damals noch unbeirrt blühenden Negersklaverei) [15] eingeprägt. Sein ganzer Zorn und Abscheu galt bei jeder Gelegenheit diesen Erscheinungen. Die Schlußstelle des Buches von der „Entstehung der Arten“[WS 2] ist daneben bekannt: wie als letzter Trost die „wahrlich großartige Ansicht“ ausgespielt wird, es gehe „aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod“ unmittelbar die Lösung des „höchsten Problems“ hervor, das wir zu fassen vermochten, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Wesen. Lag aber eine Erscheinung wie die rücksichtslose Ausbeutung des Schwachen durch den Starken in der Sklaverei, lagen nicht alle Frevel menschlicher Rohheit, Unterdrückung und Folter auch in dieser Voraussetzung des „Kampfes der Natur", bildeten also selber eine notwendige Voraussetzung des Fortschritts, an der im streng darwinistischen Sinne nicht gerüttelt werden durfte? Ich kann nicht finden, daß in Darwins Werken selbst eine ganz klärende Auseinandersetzung mit diesem brennendsten Problem gegeben ist, dem eigentlich aktuellen Problem doch der ganzen Zuchtwahllehre, das nicht bloß Dinge betrifft, die sich vor Hunderttausenden von Jahren einmal geschichtlich zugetragen haben könnten, sondern Dinge, an denen unser täglicher Entschluß über unsere Lebensführung noch immer hängen muß. Auch unter seinen Schülern ist (mit vereinzelten Ausnahmen) die Schärfe des Problems eher verschleiert, als weiter ausgefeilt worden. In der allgemeinen Stimmung, die sich auf die Dauer wenigstens immer zu einer gewissen Logik der Konsequenz durchfindet, ist aber der Schluß ganz unzweideutig allmählich gezogen worden: für Darwin beruhe der Fortschritt in Tier- wie Menschenleben auf dem brutalen Kampf aller gegen alle und dem wüsten Niedertreten unzähliger Opfer. Demgegenüber steht dann unser menschliches Mitgefühl als Kulturmacht, und die Forderung muß auftauchen, entweder dieses Mitleid für die größte Gefahr des Fortschritts zu erklären oder Darwins Idee für falsch zu halten. Nach Jahrtausenden indischer, griechischer, christlicher Mitleidslehre, nach Konstituierung der Moralgebote als Gewissensgesetzen, nach endlosem Experimentieren um eine friedlich garantierte Kulturgemeinschaft, in einem Zeitalter, das jene Negersklaverei allgemein verworfen hat, das die verzweifeltsten Anstrengungen nach verbesserten Sozialordnungen in unseren Kulturstaaten macht, das wenigstens theoretisch den politischen Krieg zu beanstanden beginnt, das sich um Invaliden- und Alterspflege immer intensiver müht, das Wunder der Medizin als Hilfsmittel dazu vollbringt, das bis zum Tierschutz übergegangen ist nicht nur als einer gelegentlichen religiösen, sondern einer Staatsinstitution, - unter diesen Zeichen am ganzen Kulturhimmel sollen wir wählen: entweder diese ganze Bewegung ist auf dem Holzwege, oder Darwin ist es.

Man kann an dieser ganzen schiefen Fragestellung - denn das ist sie - den Schaden kennen lernen, den es unter Umständen anrichtet, wenn ein bestimmtes Buch nicht geschrieben worden ist. Unter Darwins Werken fehlt ein Band, der sich mit der „gegenseitigen Hilfe“ als einem biologischen Grundprinzip auseinandersetzte. Krapotkin[WS 3] hat in neuerer Zeit in einem geistvoll-subjektiven Buche[WS 4] dieses Ergänzungswerk zu liefern versucht, er ist aber gleich auf den Menschen übergegangen und hat den eigentlichen biologischen Unterbau kaum gestreift. Um den aber handelt es sich eben. Rein theoretisch kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der organischen Entwicklung gegenseitige Hilfe (also die Urbasis all jener menschlichen Kulturerscheinungen) gar nicht im Gegensatz stehen kann zu Darwins Zuchtwahllehre. Die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl nimmt an, daß der Weg der Entwicklung in Tier- und Pflanzenwelt gegeben sei durch dauernde Erhaltung der guten und Ausmerzung der schlechten Varianten in den Eigenschaften der Tier- und Pflanzengenerationen. Das Prinzip gegenseitiger Hilfe ist nun eine solche Variante unter vielen. Die Frage kann nur sein, ob sie eine nützliche war und ist. Auch das läßt sich theoretisch wohl für die Nützlichkeit entscheiden, je nachdem man die Umstände setzt. Wenn drei Wesen zusammentreffen, kann die Auslese sich so vollziehen, daß alle drei sich wütend befehden, bis das stärkste die beiden schwächeren gefressen hat. Es kann aber auch die Konstellation sich ergeben, daß zwei zusammenhalten und so den dritten bewältigen. Das Zusammenhalten bedingt hier die Stärke. Noch aber ein Fall: alle drei können zusammenhalten gegen gewisse allgemeine Anforderungen des Lebens, der Umgebung. Diese drei können sich so als starker Einheitskämpfer gegen diese Anforderungen erhalten, als bessere Variante, wo drei Einzelwesen isoliert abfielen. Das ist ja von jeher Darwins Definition des Daseinskampfes gewesen: daß er nicht etwa bloß einen direkten Kampf der Lebewesen untereinander bedeute, sondern auch ein Ringen aller mit den allgemeinen Bedingungen unseres Planeten. Gerade jener letzte Fall ist aber zum Beispiel unser speziell menschlicher [16] Kulturfall heute. Für uns wird immer nützlicher, daß wir Menschen alle in gegenseitigem Hilfsverbande zusammenhalten, da es uns so am leichtesten wird, die großen unteren Naturgewalten unseres Planeten gemeinsam zu bekämpfen und allmählich in unseren Dienst zu zwingen. Ganz zweifellos liegen im Sinne strenger Fortzüchtung des Passendsten bei uns Menschen die Umstände praktisch so, daß die gegenseitige Hilfe aller immer mehr Trumpf wird. Im weiteren wäre jetzt praktisch zu untersuchen, ob auch auf früheren Entwicklungsstufen und vielleicht von Anfang an im biologischen Geschehen Umstände bestanden haben, die diese Variante der „gegenseitigen Hilfe“ begünstigen und fortzüchten mußten. Sowie man diesen unbefangenen Standpunkt aber überhaupt einmal gewonnen hat, muß es einem wie Schuppen von den Augen fallen: von Beginn der organischen Entwicklung an ist die gegenseitige Hilfe schlechterdings die stärkste Macht im Verhältnis der Lebewesen zueinander gewesen, die überhaupt im Spiel war.

Sie ist die absolute Grundlage aller höheren Entwicklung in der Tier- und Pflanzenwelt gewesen. Ohne sie existierte der Mensch nicht, er existierte nicht einmal in der Form von Einzelindividuen. Wenn die Einzelorganismen sich von Beginn an bloß befehdet, gefressen, auf rohe Kraftauslesen, bei denen immer nur ein Individuum als Sieger triumphierte, auf der Blutstatt aller Konkurrenten, beschränkt hätten, so fehlte uns heute, nach hundert und mehr Millionen Jahren organischer Entwicklung, nichts Geringeres auf der Erde, als gerade das ganze Naturbild dieses Lebens, wie wir es mit bloßem Auge zu sehen gewohnt sind. Die Lebewesen würden nämlich zunächst und als Hauptsache noch heute beschränkt sein auf die Urstufe des einzelligen (bloß aus einer einzigen lebenden Zelle bestehenden) Geschöpfs.

[42]
II.

Wenn ich in diesem Augenblick von meiner Arbeit aufschaue, den Blick in die Landschaft unter meinem Fenster hinausschweifen lasse, so umfaßt dieser Blick zahllose Lebensformen. Er gleitet über eine Masse Sträucher und Bäume [43] eines Gartens, die eine einheitliche Grasnarbe verknüpft. Vögel klettern in den Zweigen und suchen nach Insekten. Den See dahinter beleben Schwärme von Wildenten. Menschen fahren in einem Boot vorbei. Ein Raubvogel kreist im Blau. Fern über der Wasserfläche grenzt den Horizont ein braun verwelkter Schilfrand, eine bläuliche Waldsilhouette ab. Alles, was dieser Blick an sichtbaren Lebensgestalten umfaßt, sind Lebensverbände zu gegenseitiger Hilfe. Ich meine dabei jetzt keineswegs die Art und Weise, wie etwa die Wasservögel dort zu einem Trupp zusammenhalten oder gar die Fischer im Kahn gemeinsam handeln und einem Volksverbande angehören. Ich meine es in dem Sinne, daß Gras wie Strauch, wie Baum, Vogel, Insekt wie Mensch ungeheure Verbände von Zellen sind, Verbände, in denen Einzelzellen zu gemeinsamer Arbeit auf Gegenseitigkeit, zu Arbeitsteilung im Wohle des Ganzen zusammenhalten.

Der Körper jedes einzelnen der Menschen dort ist das wunderbarste Erzeugnis eines solchen Zusammenhaltens von Milliarden von Lebewesen in Gestalt solcher Zellen, die einen verwickelten Staat bilden, aufgebaut auf das vollkommenste Prinzip gegenseitiger Hilfe. Niemand wird bei normalem Stande der Dinge, also vollkräftiger Gesundheit, vergewaltigt in diesem Staate. Alles dient dem Ganzen, und dieses Ganze garantiert das höchste Wohlergehen des Einzelnen. Niemals ist von menschlicher Phantasie eine Idealform des Staates zu absolutem Bürgerwohl erdacht worden, die sich mit dem messen könnte, was der Zellenstaat eines gesunden Menschenkörpers in Wirklichkeit darstellt. Genau so ist es mit dem Vogel dort. Sein Flug ist ein Staatsakt in einer bewundernswerten Arbeitsteilung. Der Strauch, der Baum dort sind sogar in doppeltem Sinne noch einmal solche Genossenschaftsprodukte. Eine Masse vielzelliger Individuen wie der Einzelmensch, die Einzelente eines darstellt (jeder Sproß dort ist ein solches) ist zusammengewachsen zu einer nochmals umfassenderen Sozialeinheit mit gemeinsamen Haushalt. Bei den Siphonophoren[WS 5] verwachsen in ähnlicher Weise Tausende von Einzelquallen zur „Staatsqualle“. Und nicht nur die Arbeit all dieser Objekte da vor mir ist Genossenschaftsarbeit. Daß ich sie räumlich überhaupt sehe, verdanke ich diesem ihrem Zusammenhalten in riesigen Verbänden. Wenn sie sich wieder auflösten in ihre durchweg mikroskopisch kleinen Staatsbürger, ihre Einzelzellen, so würden Mensch und Vogel und Baum sich vor mir plötzlich verflüchtigen wie Nebel, würden größtenteils ins Unsichtbare zerfließen.

Wie man sich auch wenden mag: es erscheint kein Schritt in der ganzen organischen Entwicklung bedeutender, grundlegender als dieser große vom Einzeller zum Vielzeller. Wohl sehen wir im Einzeller schon die Grundveranlagungen des Lebens als solche angedeutet. Auch erste Anläufe zu Organen sehen wir in ihm hervortreten. Aber der echte Ausbau dieser Organe liegt doch erst in der Arbeitsteilung des Vielzellers. Erst dort, in der gemeinsam produzierenden Genossenschaft, wird aus einem lichtempfindenden Pigmentfleck ein echtes Auge. Erst dort ist das Gehirn geschaffen worden und in engeren noch einmal wieder mit ihm die Möglichkeit des Menschen als Denkwesen. Die kleinen grünen Volvoxkugeln[WS 6], die man aus unsern Tümpeln fischt, führen uns noch heute vor Augen, wie primitiv auch diese großartigste Wende einst angefangen hat: mit ein paar Dutzend oder Hundert Zellen, die einfach gemeinsam, gleichsam Hand in Hand, ihr Element durchrudern, fast noch ohne jede Arbeitsteilung. Was für eine Kraft des größeren Zuchtwahlnutzens muß aber in dieser schlichten Variante gegenüber dem alten Einsiedlertum sofort gelegen haben, daß es zu diesem Heraufgang jetzt kommen konnte, vom Volvox bis zum Menschen! Der Leser kennt jene merkwürdigen kleinen Radiolarien[WS 7], einzellige tierähnliche Geschöpfe, die aus Kieselstoff tausenderlei höchst zierliche, allerhand menschliche Kunstornamente vorweg nehmende Gebilde in ihrem weichen Zellleibe erzeugen, die Haeckel[WS 8] beschrieben und volkstümlich gemacht hat. In die nach allen Seiten wie zäher Schleim verfließende Protoplasmamasse[WS 9] eines solchen mikroskopisch winzigen Rädertierchens[WS 10] sieht man bei kolossaler Vergrößerung oft gelbe Körperchen eingebettet, die man anfangs für Genossenschaftszellen im Sinne eines Volvox gehalten hat, bis man merkte, daß jedes dieser Kügelchen ebenfalls ein selbständiges Zellwesen und zwar im Gegensatz zu dem umschließenden einzelligen Radiolarientier eine einzellige Pflanze verkörperte. Das einzellige Tier verzehrt diese einzellige Pflanze nicht, noch sucht die Pflanze das Tier zu seinem Schaden zu überwältigen. Beide hausen eng gesellt miteinander in einem Sozialverhältnis gegenseitiger Arbeitsleistung, gegenseitiger Hilfe. Auf so früher Stufe ist diesem Prinzip also schon gelungen, selbst zwei so heterogene Dinge zu einer festen Schutzgenossenschaft zusammenzuzwingen, wie eine Pflanze und ein Tier. Kein [44] Wunder, wenn auf der einmal errungenen Stufe des Vielzellers die verwickeltsten Zusammenschlüsse noch wieder aus solchen Vielzellern ganz verschiedener Art möglich wurden. Auch solche Hilfsgenossenschaften beherrschen ganze Naturbilder unseres Planeten, die zu unsern geläufigsten gehören. Die Flechte, die im vereisten Hochgebirge, wie an der Polargrenze das pflanzliche Leben beschließt, verdankt ihr Dasein einer solchen innigsten Verschränkung und Vereinheitlichung einer Alge und eines Pilzes, also himmelweit verschiedener Sonderpflanzen. Die Herrlichkeit des Frühlings mit seiner prangenden Blütenpracht schulden wir wesentlich einem friedlichen Wechselverhältnis gemeinsamer Interessen bei der höchsten Pflanze und den höchst entwickelten Insekten. Das Gebiet sogenannter „Symbiosen"[WS 11], das hier beginnt, ist aber geradezu uferlos. Anfangs, als man einzelne eklatante Fälle kennen lernte, wie das Zusammenhalten von Ameisen und Blattläusen, von Krebsen und Seerosen, konnte es scheinen, als handle es sich hier bloß um ein paar Naturkuriosa. Heute wissen wir, daß die extremsten Fälle sich auf Schritt und Tritt wiederholen. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt ist ein ungeheures Gewirre und Gewebe von lauter Symbiosen. Sie sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Naturhaushalt des Lebens auf unserm Planeten stände augenblicklich still, wie wenn man die Sonne löschte: wenn man diesen Genossenschaftsfaktor herauslöste. Wir Menschen hängen auf Tod und Leben an der Symbiose mit Pflanzen, und diese Pflanzen wieder an der mit Bakterien.

Das alles erreicht aber noch immer nicht die volle Größe dessen, was historisch von dem Gemeinsamkeitsprinzip in vollkommenem Friedensschluß geleistet worden ist. Das gesamte Liebesleben im Sinne einer Einigung zweier Geschlechter baut sich auf diesem, und nur auf diesem Boden auf. Wir wissen heute, daß das Entscheidende dabei die Vereinigung einer Samenzelle mit einer Eizelle ist. Der wesentliche Zweck dieser Vereinigung liegt nicht bloß in der Anregung zur Teilung, zur Fortentwicklung der befruchteten Eizelle. Es ist bekannt heute, daß es auch Eizellen gibt, die sich unbefruchtet fortentwickeln, und der anregende Reiz kann in andern Fällen auch durch irgendeinen künstlichen Ersatz, eine chemische oder mechanische Reizung erfolgen. Um was es sich in Wahrheit handelt, ist die Mischung der Charaktere zweier verschiedener Individuen bei der Vereinheitlichung von Samenzelle und Eizelle. In der Möglichkeit, im Erfolg solcher Mischung liegt ein Grundelement aller Fortentwicklung, es liegt zuletzt der größte Einsatz hier für das Inkrafttreten und Walten der ganzen Darwinschen Gesetze. In ihren geheimnisvollen Vererbungskörperchen, den Chromosomen, bringt jede der beiden Liebeszellen ihr Teil Sondercharaktere mit in das Spiel. Das höchste und entscheidendste Wunder aber dabei ist, daß diese beiden Zellen im Akt der Begegnung nicht miteinander kämpfen, daß nicht die eine die andere als stärkere vergewaltigt und vernichtet, sondern daß auch sie in die innigste aller Symbiosen treten. Eine Symbiose, bei der ihre beiderseitigen Chromosomen sich so friedlich zugleich und so einig verbinden, daß ihr Werk fortan ein vollkommen harmonischer Doppelbau wird bis zu dem Grade, daß das Produkt, das Kind, durchaus wieder als Individuum erscheint, obwohl es bis in jede Faser doch den Doppelursprung noch in sich zur Schau trägt. Gegen diesen Akt des Zusammenhaltens der Chromosomen müssen alle andern Symbiosen weit zurücktreten. Es ist der Höhepunkt einer friedlichen Vereinheitlichung: diese gegenseitige Hilfe des Vater- und Mutteranteils zum Bau des Kindes. Schon vom Einzeller anhebend aber sehen wir gerade auch diesen Akt sich immer mehr in alle Zweige des Stammbaums hinein ausbreiten und festsetzen, bis endlich die ganze Fortpflanzung gar nicht mehr geht ohne ihn. Auch in diesem Sinne wäre kein Mensch, wenn er nicht wäre. Und wieder sehen wir gerade ihn dann alle jene Vorgänge, jenen ganzen Zauber mitheraufführen, die das höhere Liebesleben der Organismen auch sonst umgeben und beherrschen. Um diese beiden Zellen und ihre Chromosomen zu dem geheimnisvollen Genossenschaftswerk zu führen, sehen wir die vielzelligen Elternindividuen allenthalben noch einmal wieder, unabhängig von all jenen Symbiosen und Sozialhandlungen sonst, zu Friedensschlüssen, zu Gemeinschaften und gemeinschaftlichen Handlungen sich verknüpfen. Wir sehen Mutter und Kind, Eltern und Kind verknüpft. Es wächst das herauf, was endlich zur Ehe geführt hat. Es wächst, tief unten schon im Tierreich beginnend, das Genossenschaftsverhältnis von Eltern und Kindern, es wächst die Familie als eine Hochburg gegenseitiger Hilfe herauf. Auf der andern Seite schließt sich ebenso sinnfällig hier das Gebiet der „geschlechtlichen Zuchtwahl“[WS 12] an, das Darwin selber noch bearbeitet hat. Wenn Darwins Deutungen richtig sind, so sehen wir die Liebe hier sogar [45] unmittelbar noch einmal besonders eingreifen in die Gestaltung der Lebewesen, sehen sie selber eine Zuchtwahl inszenieren, die aber auf jeden Fall auch wieder sehr viel friedlichere Wege geht als der rohe Existenzkampf des Fressens und Gefressenwerdens.

Überblickt man diese ganze erdrückende Tatsachenkette, so kann man sich dem Schluß wirklich nicht gut entziehen, daß friedliche Einigung, Gemeinschaft, gegenseitige Ergänzung und Hilfe die glücklichste Erfolgsvariante des ganzen Zuchtwahlspiels der organischen Entwicklung in Darwins Sinne gewesen ist. In einer überwältigenden Weise geradezu hat sie sich als die stärkste Macht durchgesetzt, und wenn im Menschengeiste endlich die Karten des großen Spiels aufgedeckt worden sind und die Partie jetzt mit Bewußtsein weitergespielt wird, so darf es wahrlich weder wundernehmen, noch gar als Gegensatz zu dem großen Naturwerden des unteren Stockwerts erscheinen, wenn dieser Mensch auf der ganzen Linie bewußt das Ideal vollkommenen Zusammenschlusses zu einheitlich-friedlichem Kulturwirken bei sich ausspielt. Nach wie vor heiligen wir in diesem Prinzip das Nützlichste, was uns geboten ist.

Allerdings hat das Prinzip der Hilfe im Laufe der langen organischen Entwicklung bis zu uns herauf hinsichtlich seiner Anwendung selbst noch Steigerungen erfahren. Wie sollte es nicht? Diesen Zug gewahren wir doch allenthalben im Stammbaum des Lebens. So sehen wir auf niederen Stufen der Entwicklung das Prinzip zwar schon zum Nutzen der Erhaltung der Art vielfach glänzend durchgeführt, wir sehen es aber doch gleichzeitig nur erst gehalten durch starke Opfer an Individuen. Auf höheren Stufen sehen wir dagegen das Individuum als solches immer wertvoller werden, und die Hilfe nimmt sich entsprechend auch seiner immer energischer an. Wenn bei uns Menschen die christliche Idealforderung auftaucht: jeder Mensch sei als unser Bruder zu achten, so ist das nichts anderes als der höchste Ausdruck der Tatsache, daß jedes Menschenindividuum bereits einen höchsten Wert vor dem großen Prinzip darstelle. Auf das niedere, ältere Verhältnis stoßen wir dagegen noch, wenn wir die Art unseres gegenseitigen Hilfsverhältnisses etwa zu unsern Kulturpflanzen anschauen. Kein Zweifel, daß zwischen Mensch und unsern Getreidearten eine Symbiose besteht. Der Mensch braucht sie unbedingt. Die Pflanze in diesem Falle aber gedeiht in der Erhaltung und Ausbreitung aufs glänzendste seit Jahrtausenden durch den Schutz des Menschen. Diese Schutz im ganzen wird aber nur erreicht durch Preisgabe einer Masse von Individuen oder doch Individuumkeimen in den Körnern an die Bedürfnisse des Menschen. Der Mensch dezimiert die Pflanze, ersetzt und überbietet den Ausfall aber durch seine planmäßige Hegung und Aussaat, so daß im Rechnungsabschluß die Art Vorteil hat. Das Gleiche gilt von unsern schlachtbaren Haustieren und dem gehegten und besonnen nur in bestimmtem Prozentverhältnis abgeschossenen Wildbestande unserer Kulturwälder. Umgekehrt sehen wir bei gewissen Haustieren, dem Pferde und vor allen Dingen dem Hunde das Schutz- und Achtungsverhältnis aber schon ausgesprochen mit dem Werte des Individuums als solchem rechnen. Das Einzelpferd, der Einzelhund werden uns wegen ihrer individuellen Vorzüge unschätzbar. Und diese Achtung vor dem Individuum feiert dann ihren höchsten Triumph beim Menschen selbst. Artschutz und Individuenschutz werden hier eines. Was du einem Menschen tust, hast du allen getan. Durchaus aber ist auch hier die Auffassung des höchsten Menschentums nur eine einfache Steigerung innerhalb einer mindestens beim höheren Tier längst angelegten Linie. Der gewissenhafte Naturbeobachter, der nicht Theorien in die Tiere hineinsieht, sondern sich vom Gesehenen schlicht belehren läßt, muß immer wieder staunen, wie tief der auffällige Unterschied des individuellen Benehmens, der Begriff des „klugen“ oder „dummen“ Exemplars schon in die obere und mittlere Tierwelt hineinreicht. Solche Werte konnten aber nicht dauernd belanglos vor dem Vorteil auch für die Art bleiben. Es mußte sich rein im Sinne der Darwinschen Gesetze eine wachsende Tendenz durchsetzen, den großen Vorteil der gegenseitigen Hilfe vor allem zum Schutz der Individuen durchzudrücken. Jedes Verpulvern von Individuen umschloß allmählich die Gefahr, daß der beste Einzelwert mit unterging, den keine Masse eventuell ersetzen konnte.

Gerade diese „Heiligung des Individuums“ hat man freilich wieder „darwinistisch“ noch einmal besonders anfechten wollen. Der absolute Gesellschaftsschutz für jedes Individuum bei uns Menschen soll allmählich die Rasse verschlechtern, indem das ewig und wahllos hilfsbereite Mitleid auch alle Krüppel und Minusvarianten aufpäppelt und weiterzüchten hilft. Nicht Darwin, aber der eine oder andere Hyperdarwianer hat uns nahe gelegt, die Methode der alten Spartaner wieder in unsern Moralkodex [46] aufzunehmen, nach der krüppelhaft erscheinende Kinder sofort beseitigt wurden. Gegen diese praktische Folgerung ist zunächst zu sagen, daß der Wert der menschlichen Individualität ein viel zu verwickelter ist, um in der Mehrheit der Fälle hier ein Normalschema durchführbar zu machen. Goethe wurde als äußerst schwaches Kind scheintot geboren und wäre sicherlich jenem Spartanergesetz verfallen. Die Veranlagung zur Schwindsucht hätte Spinoza ausgemerzt, ehe er die Möglichkeit gehabt hätte, sein der Menschheit unschätzbares Gehirn in Aktion zu bringen. In unserer Kultur kann „Individualität“ einen so raffinierten Geisteswert für irgendeine Spezialität bedeuten, daß das physische Wort „Krüppel“ unmöglich dagegen aufkommt. Wo aber wirklich die unheilbare Minusvariante, der geborene Idiot, der trostlos Sieche in Frage kommen, da scheint es mir unendlich viel wichtiger, daß selbst er als Probeobjekt der absoluten gegenseitigen Hilfe diene und so zu unserer ethischen Gesamterziehung beitrage, als daß er uns zu einer kulturell verjährten Barbarei zurück nötige. Auf den entscheidenden praktischen Ausweg für die Dauer aber hat vor Jahren schon Alfred Plötz[WS 13] hingewiesen: daß es nämlich die Parallelaufgabe unserer Kultur neben der Durchführung des absoluten Hilfs- und Mitleidsprinzip sein müsse, durch immer weitergehende Fürsorge und Umsicht teils wirtschaftlicher, teils medizinischer Art die Entstehungsmöglichkeiten solcher völligen Minusvarianten vorsorgend immer mehr auszuschalten. Wenn wir im Menschen das Wesen sehen, bei dem überall die blinden Auslesen der Natur in das abgekürzte Verfahren der überschauenden Zweckhandlungen eingetreten sind, so dürfen wir da logischerweise nicht bei irgendeinem einzigen Prinzip Halt machen, sondern wir müssen ihm auch die Möglichkeit lassen, alle die Fäden des großen Werks in dieser Weise allmählich für sich aufzunehmen und fortzuspinnen: also zu dem Prinzip der Hilfe auch die vor Mißbrauch schützenden entsprechenden Ersatzprinzipe anderer Art.

So lösen sich auch diese Fragen im ganzen dahin, daß eine entwicklungsgeschichtliche Anschauung der Dinge uns Menschen im Lichte unseres Gegenwartstages nicht ärmer macht. Man mag über einen imaginären Wert absoluter Wahrheitssuche im Sinne des alten „Fiat justitia pereat mundus[1] denken, wie man will: das bleibt gewiß, daß gerade das Darwinsche Nützlichkeitsgesetz auf die Dauer keine Auffassung vom Menschen bei uns bestehen lassen würde, die uns irgendwo in dem innersten Lebensnerv unserer Kultur dauernd störte und lähmte. Das Prinzip der Hilfe ist ein solcher Kulturnerv, mit dem wir stehen oder fallen. Obwohl Darwin es uns nicht gesagt hat, dürfen wir es doch ihm nachträglich beruhigend sagen: seine Lehre ist im Einklang mit der Kultur.


  1. Gerechtigkeit muß sein und gehe die Welt darüber zugrunde!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Charles Darwin, britischer Naturforscher
  2. Über die Entstehung der Arten, On the Origin of Species (1859)
  3. Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, russischer Anarchist, Geograph und Schriftsteller
  4. Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Mutual Aid: A Factor of Evolution (1902)
  5. Staatsquallen (Siphonophorae), aus vielen einzelnen Polypen bestehend
  6. Volvox, Gattung mehrzelliger Grünalgen
  7. Strahlentierchen, Gruppe einzelliger Lebewesen
  8. Ernst Haeckel, deutscher Philosoph und Zoologe
  9. Protoplasma, innere Masse lebender Zellen (veraltet)
  10. Rädertierchen, Stamm vielzelliger Tiere
  11. Symbiose, Vergesellschaftung von Individuen unterschiedlicher Arten
  12. Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871)
  13. Alfred Ploetz, deutscher Arzt und Eugeniker