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Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46

aufzunehmen, nach der krüppelhaft erscheinende Kinder sofort beseitigt wurden. Gegen diese praktische Folgerung ist zunächst zu sagen, daß der Wert der menschlichen Individualität ein viel zu verwickelter ist, um in der Mehrheit der Fälle hier ein Normalschema durchführbar zu machen. Goethe wurde als äußerst schwaches Kind scheintot geboren und wäre sicherlich jenem Spartanergesetz verfallen. Die Veranlagung zur Schwindsucht hätte Spinoza ausgemerzt, ehe er die Möglichkeit gehabt hätte, sein der Menschheit unschätzbares Gehirn in Aktion zu bringen. In unserer Kultur kann „Individualität“ einen so raffinierten Geisteswert für irgendeine Spezialität bedeuten, daß das physische Wort „Krüppel“ unmöglich dagegen aufkommt. Wo aber wirklich die unheilbare Minusvariante, der geborene Idiot, der trostlos Sieche in Frage kommen, da scheint es mir unendlich viel wichtiger, daß selbst er als Probeobjekt der absoluten gegenseitigen Hilfe diene und so zu unserer ethischen Gesamterziehung beitrage, als daß er uns zu einer kulturell verjährten Barbarei zurück nötige. Auf den entscheidenden praktischen Ausweg für die Dauer aber hat vor Jahren schon Alfred Plötz[WS 1] hingewiesen: daß es nämlich die Parallelaufgabe unserer Kultur neben der Durchführung des absoluten Hilfs- und Mitleidsprinzip sein müsse, durch immer weitergehende Fürsorge und Umsicht teils wirtschaftlicher, teils medizinischer Art die Entstehungsmöglichkeiten solcher völligen Minusvarianten vorsorgend immer mehr auszuschalten. Wenn wir im Menschen das Wesen sehen, bei dem überall die blinden Auslesen der Natur in das abgekürzte Verfahren der überschauenden Zweckhandlungen eingetreten sind, so dürfen wir da logischerweise nicht bei irgendeinem einzigen Prinzip Halt machen, sondern wir müssen ihm auch die Möglichkeit lassen, alle die Fäden des großen Werks in dieser Weise allmählich für sich aufzunehmen und fortzuspinnen: also zu dem Prinzip der Hilfe auch die vor Mißbrauch schützenden entsprechenden Ersatzprinzipe anderer Art.

So lösen sich auch diese Fragen im ganzen dahin, daß eine entwicklungsgeschichtliche Anschauung der Dinge uns Menschen im Lichte unseres Gegenwartstages nicht ärmer macht. Man mag über einen imaginären Wert absoluter Wahrheitssuche im Sinne des alten „Fiat justitia pereat mundus[1] denken, wie man will: das bleibt gewiß, daß gerade das Darwinsche Nützlichkeitsgesetz auf die Dauer keine Auffassung vom Menschen bei uns bestehen lassen würde, die uns irgendwo in dem innersten Lebensnerv unserer Kultur dauernd störte und lähmte. Das Prinzip der Hilfe ist ein solcher Kulturnerv, mit dem wir stehen oder fallen. Obwohl Darwin es uns nicht gesagt hat, dürfen wir es doch ihm nachträglich beruhigend sagen: seine Lehre ist im Einklang mit der Kultur.


  1. Gerechtigkeit muß sein und gehe die Welt darüber zugrunde!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Alfred Ploetz, deutscher Arzt und Eugeniker
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46. Franck'sche Verlagshandlung, Stuttgart 1909, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:B%C3%B6lsche_Daseinskampf_S46.pdf&oldid=- (Version vom 31.7.2018)