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Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46

eines Gartens, die eine einheitliche Grasnarbe verknüpft. Vögel klettern in den Zweigen und suchen nach Insekten. Den See dahinter beleben Schwärme von Wildenten. Menschen fahren in einem Boot vorbei. Ein Raubvogel kreist im Blau. Fern über der Wasserfläche grenzt den Horizont ein braun verwelkter Schilfrand, eine bläuliche Waldsilhouette ab. Alles, was dieser Blick an sichtbaren Lebensgestalten umfaßt, sind Lebensverbände zu gegenseitiger Hilfe. Ich meine dabei jetzt keineswegs die Art und Weise, wie etwa die Wasservögel dort zu einem Trupp zusammenhalten oder gar die Fischer im Kahn gemeinsam handeln und einem Volksverbande angehören. Ich meine es in dem Sinne, daß Gras wie Strauch, wie Baum, Vogel, Insekt wie Mensch ungeheure Verbände von Zellen sind, Verbände, in denen Einzelzellen zu gemeinsamer Arbeit auf Gegenseitigkeit, zu Arbeitsteilung im Wohle des Ganzen zusammenhalten.

Der Körper jedes einzelnen der Menschen dort ist das wunderbarste Erzeugnis eines solchen Zusammenhaltens von Milliarden von Lebewesen in Gestalt solcher Zellen, die einen verwickelten Staat bilden, aufgebaut auf das vollkommenste Prinzip gegenseitiger Hilfe. Niemand wird bei normalem Stande der Dinge, also vollkräftiger Gesundheit, vergewaltigt in diesem Staate. Alles dient dem Ganzen, und dieses Ganze garantiert das höchste Wohlergehen des Einzelnen. Niemals ist von menschlicher Phantasie eine Idealform des Staates zu absolutem Bürgerwohl erdacht worden, die sich mit dem messen könnte, was der Zellenstaat eines gesunden Menschenkörpers in Wirklichkeit darstellt. Genau so ist es mit dem Vogel dort. Sein Flug ist ein Staatsakt in einer bewundernswerten Arbeitsteilung. Der Strauch, der Baum dort sind sogar in doppeltem Sinne noch einmal solche Genossenschaftsprodukte. Eine Masse vielzelliger Individuen wie der Einzelmensch, die Einzelente eines darstellt (jeder Sproß dort ist ein solches) ist zusammengewachsen zu einer nochmals umfassenderen Sozialeinheit mit gemeinsamen Haushalt. Bei den Siphonophoren[WS 1] verwachsen in ähnlicher Weise Tausende von Einzelquallen zur „Staatsqualle“. Und nicht nur die Arbeit all dieser Objekte da vor mir ist Genossenschaftsarbeit. Daß ich sie räumlich überhaupt sehe, verdanke ich diesem ihrem Zusammenhalten in riesigen Verbänden. Wenn sie sich wieder auflösten in ihre durchweg mikroskopisch kleinen Staatsbürger, ihre Einzelzellen, so würden Mensch und Vogel und Baum sich vor mir plötzlich verflüchtigen wie Nebel, würden größtenteils ins Unsichtbare zerfließen.

Wie man sich auch wenden mag: es erscheint kein Schritt in der ganzen organischen Entwicklung bedeutender, grundlegender als dieser große vom Einzeller zum Vielzeller. Wohl sehen wir im Einzeller schon die Grundveranlagungen des Lebens als solche angedeutet. Auch erste Anläufe zu Organen sehen wir in ihm hervortreten. Aber der echte Ausbau dieser Organe liegt doch erst in der Arbeitsteilung des Vielzellers. Erst dort, in der gemeinsam produzierenden Genossenschaft, wird aus einem lichtempfindenden Pigmentfleck ein echtes Auge. Erst dort ist das Gehirn geschaffen worden und in engeren noch einmal wieder mit ihm die Möglichkeit des Menschen als Denkwesen. Die kleinen grünen Volvoxkugeln[WS 2], die man aus unsern Tümpeln fischt, führen uns noch heute vor Augen, wie primitiv auch diese großartigste Wende einst angefangen hat: mit ein paar Dutzend oder Hundert Zellen, die einfach gemeinsam, gleichsam Hand in Hand, ihr Element durchrudern, fast noch ohne jede Arbeitsteilung. Was für eine Kraft des größeren Zuchtwahlnutzens muß aber in dieser schlichten Variante gegenüber dem alten Einsiedlertum sofort gelegen haben, daß es zu diesem Heraufgang jetzt kommen konnte, vom Volvox bis zum Menschen! Der Leser kennt jene merkwürdigen kleinen Radiolarien[WS 3], einzellige tierähnliche Geschöpfe, die aus Kieselstoff tausenderlei höchst zierliche, allerhand menschliche Kunstornamente vorweg nehmende Gebilde in ihrem weichen Zellleibe erzeugen, die Haeckel[WS 4] beschrieben und volkstümlich gemacht hat. In die nach allen Seiten wie zäher Schleim verfließende Protoplasmamasse[WS 5] eines solchen mikroskopisch winzigen Rädertierchens[WS 6] sieht man bei kolossaler Vergrößerung oft gelbe Körperchen eingebettet, die man anfangs für Genossenschaftszellen im Sinne eines Volvox gehalten hat, bis man merkte, daß jedes dieser Kügelchen ebenfalls ein selbständiges Zellwesen und zwar im Gegensatz zu dem umschließenden einzelligen Radiolarientier eine einzellige Pflanze verkörperte. Das einzellige Tier verzehrt diese einzellige Pflanze nicht, noch sucht die Pflanze das Tier zu seinem Schaden zu überwältigen. Beide hausen eng gesellt miteinander in einem Sozialverhältnis gegenseitiger Arbeitsleistung, gegenseitiger Hilfe. Auf so früher Stufe ist diesem Prinzip also schon gelungen, selbst zwei so heterogene Dinge zu einer festen Schutzgenossenschaft zusammenzuzwingen, wie eine Pflanze und ein Tier. Kein

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Staatsquallen (Siphonophorae), aus vielen einzelnen Polypen bestehend
  2. Volvox, Gattung mehrzelliger Grünalgen
  3. Strahlentierchen, Gruppe einzelliger Lebewesen
  4. Ernst Haeckel, deutscher Philosoph und Zoologe
  5. Protoplasma, innere Masse lebender Zellen (veraltet)
  6. Rädertierchen, Stamm vielzelliger Tiere
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46. Franck'sche Verlagshandlung, Stuttgart 1909, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:B%C3%B6lsche_Daseinskampf_S43.pdf&oldid=- (Version vom 31.7.2018)