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Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46

eingeprägt. Sein ganzer Zorn und Abscheu galt bei jeder Gelegenheit diesen Erscheinungen. Die Schlußstelle des Buches von der „Entstehung der Arten“[WS 1] ist daneben bekannt: wie als letzter Trost die „wahrlich großartige Ansicht“ ausgespielt wird, es gehe „aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod“ unmittelbar die Lösung des „höchsten Problems“ hervor, das wir zu fassen vermochten, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Wesen. Lag aber eine Erscheinung wie die rücksichtslose Ausbeutung des Schwachen durch den Starken in der Sklaverei, lagen nicht alle Frevel menschlicher Rohheit, Unterdrückung und Folter auch in dieser Voraussetzung des „Kampfes der Natur", bildeten also selber eine notwendige Voraussetzung des Fortschritts, an der im streng darwinistischen Sinne nicht gerüttelt werden durfte? Ich kann nicht finden, daß in Darwins Werken selbst eine ganz klärende Auseinandersetzung mit diesem brennendsten Problem gegeben ist, dem eigentlich aktuellen Problem doch der ganzen Zuchtwahllehre, das nicht bloß Dinge betrifft, die sich vor Hunderttausenden von Jahren einmal geschichtlich zugetragen haben könnten, sondern Dinge, an denen unser täglicher Entschluß über unsere Lebensführung noch immer hängen muß. Auch unter seinen Schülern ist (mit vereinzelten Ausnahmen) die Schärfe des Problems eher verschleiert, als weiter ausgefeilt worden. In der allgemeinen Stimmung, die sich auf die Dauer wenigstens immer zu einer gewissen Logik der Konsequenz durchfindet, ist aber der Schluß ganz unzweideutig allmählich gezogen worden: für Darwin beruhe der Fortschritt in Tier- wie Menschenleben auf dem brutalen Kampf aller gegen alle und dem wüsten Niedertreten unzähliger Opfer. Demgegenüber steht dann unser menschliches Mitgefühl als Kulturmacht, und die Forderung muß auftauchen, entweder dieses Mitleid für die größte Gefahr des Fortschritts zu erklären oder Darwins Idee für falsch zu halten. Nach Jahrtausenden indischer, griechischer, christlicher Mitleidslehre, nach Konstituierung der Moralgebote als Gewissensgesetzen, nach endlosem Experimentieren um eine friedlich garantierte Kulturgemeinschaft, in einem Zeitalter, das jene Negersklaverei allgemein verworfen hat, das die verzweifeltsten Anstrengungen nach verbesserten Sozialordnungen in unseren Kulturstaaten macht, das wenigstens theoretisch den politischen Krieg zu beanstanden beginnt, das sich um Invaliden- und Alterspflege immer intensiver müht, das Wunder der Medizin als Hilfsmittel dazu vollbringt, das bis zum Tierschutz übergegangen ist nicht nur als einer gelegentlichen religiösen, sondern einer Staatsinstitution, - unter diesen Zeichen am ganzen Kulturhimmel sollen wir wählen: entweder diese ganze Bewegung ist auf dem Holzwege, oder Darwin ist es.

Man kann an dieser ganzen schiefen Fragestellung - denn das ist sie - den Schaden kennen lernen, den es unter Umständen anrichtet, wenn ein bestimmtes Buch nicht geschrieben worden ist. Unter Darwins Werken fehlt ein Band, der sich mit der „gegenseitigen Hilfe“ als einem biologischen Grundprinzip auseinandersetzte. Krapotkin[WS 2] hat in neuerer Zeit in einem geistvoll-subjektiven Buche[WS 3] dieses Ergänzungswerk zu liefern versucht, er ist aber gleich auf den Menschen übergegangen und hat den eigentlichen biologischen Unterbau kaum gestreift. Um den aber handelt es sich eben. Rein theoretisch kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der organischen Entwicklung gegenseitige Hilfe (also die Urbasis all jener menschlichen Kulturerscheinungen) gar nicht im Gegensatz stehen kann zu Darwins Zuchtwahllehre. Die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl nimmt an, daß der Weg der Entwicklung in Tier- und Pflanzenwelt gegeben sei durch dauernde Erhaltung der guten und Ausmerzung der schlechten Varianten in den Eigenschaften der Tier- und Pflanzengenerationen. Das Prinzip gegenseitiger Hilfe ist nun eine solche Variante unter vielen. Die Frage kann nur sein, ob sie eine nützliche war und ist. Auch das läßt sich theoretisch wohl für die Nützlichkeit entscheiden, je nachdem man die Umstände setzt. Wenn drei Wesen zusammentreffen, kann die Auslese sich so vollziehen, daß alle drei sich wütend befehden, bis das stärkste die beiden schwächeren gefressen hat. Es kann aber auch die Konstellation sich ergeben, daß zwei zusammenhalten und so den dritten bewältigen. Das Zusammenhalten bedingt hier die Stärke. Noch aber ein Fall: alle drei können zusammenhalten gegen gewisse allgemeine Anforderungen des Lebens, der Umgebung. Diese drei können sich so als starker Einheitskämpfer gegen diese Anforderungen erhalten, als bessere Variante, wo drei Einzelwesen isoliert abfielen. Das ist ja von jeher Darwins Definition des Daseinskampfes gewesen: daß er nicht etwa bloß einen direkten Kampf der Lebewesen untereinander bedeute, sondern auch ein Ringen aller mit den allgemeinen Bedingungen unseres Planeten. Gerade jener letzte Fall ist aber zum Beispiel unser speziell menschlicher

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Über die Entstehung der Arten, On the Origin of Species (1859)
  2. Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, russischer Anarchist, Geograph und Schriftsteller
  3. Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Mutual Aid: A Factor of Evolution (1902)
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46. Franck'sche Verlagshandlung, Stuttgart 1909, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:B%C3%B6lsche_Daseinskampf_S15.pdf&oldid=- (Version vom 31.7.2018)