CCCLXXV. Heliopolis in Aegypten Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCLXXVI. Bordeaux in Frankreich
CCCLXXVII. Hofer’s Haus
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BORDEAUX

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CCCLXXVI. Bordeaux in Frankreich.




Sieben und zwanzig Menschengeschlechter ruhen in Frankreichs Todtenhügeln, seitdem im Streite von Karl’s des Großen Enkel der Deutschen Macht in Frankreich gebrochen war und der erste Capetinger die Krone trug. Acht Jahrhunderte zogen über das Land hin, mit allen Triumphen und Trophäen und Siegeskronen und allem Ruhme, und aller Arglist und aller Blutschuld des Königthums, bis ihm die Sturmglocken zu Grabe läuteten, welche der Welt die ersten Stunden einer neuen Aera schlugen. Gedanke und Schwert, Krieg und Guillotine hatten des alten Frankreichs Herrlichkeit gefressen; aber auf dem Leichenacker richtete sich ein neues Frankreich auf, größer als das erwürgte. Lebenskräftig, wie eine junge Riesenschlange, hat es sich schon vielmal gehäutet: – Königskrone, Jacobinermütze und Kaisermantel glänzten und vergingen in drei Jahrzehnten. Und als der letztere zerrissen war, verrannen auch die Wegen der neuen Völkerwanderungsfluth; jedes Gewässer kehrte in sein altes Bett zurück und auf den befruchteten Ländern schossen die Saaten des Friedens üppig auf. Seitdem machte Frankreich abermals eine Metamorphose; aber obschon das vierte Häutungswerk, die Julirevolution, manches Reich erbeben machte, ist es doch ruhiger erfolgt, als manches frühere. Vierzehn Jahre hat die Republik gedauert, 10 Jahre hat der Kaiserthron gestanden, 15 Jahre der der ältern Bourbons: – der der Orleans steht nun wieder 12 Jahre, und die Periode abermaliger Häutung mag nicht fern seyn. So stark aber sind die Elemente des Friedens in der Welt geworden, daß auch die fünfte Wandlung nur solche Erschütterungen bringen dürfte, die befruchtend, nicht zerstörend wirken.

In Frankreich selbst herrscht des Friedens Genius jetzt so absolut, und seine Kraft ist in der That so groß gewachsen, daß ein zerstörender Verlauf künftiger Revolutionen kaum mehr gedacht werden kann. Dort, wo dem Repräsentanten des Friedens, dem Mittelstande, aus einer sich täglich verjüngenden Industrie immer neue Kräftemassen quellen, wo er mit aller Gewandtheit, welche eine thatenreiche Zeit bei ihm entwickelte, mit allem Verstande, den vielseitig sich kreuzende Verhältnisse erregten, mit aller Einsicht, die ein versuchtes Leben gewährt, [5] mit allem Feuer, welches die stets fortwährende Reibung unterhält, die Interessen des Friedens ausbeutet und zugleich vertheidigt: da kann von einer Umwälzung, ähnlich jener früheren, welche das alte Frankreich begrub, nicht die Rede seyn. Das gemeinschaftliche Interesse hält die Kraft des Volks gebunden, und so heftig auch die Parteien einander hassen, so können sie doch nicht von einander lassen. Der Streit, den hier Nothwendigkeit und Freiheit führen, das Kriegsspiel der Faktionen, ist gerade genug, daß des Athleten Säfte nicht stagniren: er ist die Turnschule der Nation, in der sich ihre Glieder recken und strecken zu größerer Kräftigung. So lange nun die Regierung Ruhe und Maß behält, besonnen das Steuer führt, fort und fort der Nation den Puls fühlt, ihren Gang beschleunigt, wenn jener rascher geht, inne hält, wenn er langsamer schlägt, Nichts thut, als was das Volk will, sich vor jedem Mißbrauch der Gewalt hütet, – und das wird sie, so lange Ludwig Philipp das Steuer führt, – so lange wird auch der Thron der Orleans feststehen, ob er gleich auf einem Krater gebaut ist. Aber bei dem ersten Vergessen der Pflicht wird das Volk ihn verschlingen und das junge Frankreich friedlich seine fünfte Metamorphose machen. Die Elemente derselben sind längst thätig, und sogar ihre Gestalt ist deutlich zu erkennen. Sie wird die Emancipation des Provinz- und Gemeindelebens seyn: – denn unverkennbar streben alle Provinzen des Reichs nach einer selbstständigern Entwickelung. Das verhaßte Reich der Centralisation sinkt; die Macht von Paris hat ihr Zenith hinter sich; sie steigt abwärts und sie muß in eben dem Maße fallen, als die Bedeutung der Hauptstädte in den Provinzen wächst, weil bei einem gemeinschaftlichem Fortschreiten derjenige stets zurück kömmt, welcher am langsamsten weitergeht.

Alle Provinzhauptstädte aber haben notorisch seit zwei Jahrzehnten im Verhältniß mehr zugenommen an Bevölkerung, Reichthum und Geltung, als Paris, und mit dem Bewußtseyn größerer Kraft hat sich auch der Anspruch an größeres Recht gemehrt. Die Vorgänge der letzten Jahre beweisen, wie ein Kampf, ein Kampf auf Leben und Tod, mit der Centralisation ganz unvermeidlich ist. Toulouse, Metz, Lille, Rouen, Bordeaux haben bei mehren Anlässen die Bahn des Widerstands betreten, und jedes neue Ereigniß hat bewiesen, wie tief der Emancipationsgedanke im französischen Gemeindeleben Wurzel schlug.

Frankreich hütet und pflegt sein größtes Gut nicht mehr, wie sonst, vorzugsweise in des Reiches Hauptstadt. Während Ludwig Philipp den Parisern so viele Bastillen baut, als die alte Fenster hatte, richtet die Freiheit in den Provinzen sich häuslich ein, und aus einem Feldlager macht sie hundert. –

Bordeaux, Toulouse und Marseille, Herde dieses Strebens, repräsentiren den französischen Süden – jenen glücklichen Süden, wo die Gaieté dem Leben einen Zauberstab in die Hand gibt, wofür der Deutsche nicht einmal einen Namen hat. „Dort wallt,“ sagt Weber, „lauter Weingeist und Quecksilber in den Adern, und die Großmutter dreht sich mit dem Enkel sorglos, wo eine Trommel zum Tanze spielt.“ – In diesem Lande, wo der [6] Witz neben Aufschneiderei das Erbtheil jedes Menschenkinds ist, wo man das Verworfenste und Edelste mit einem Bommot auf gleiche Weise abfertigt, wo joviale Gutmüthigkeit jedes Ereigniß so lange dreht und wendet, bis sie ihm eine lustige Seite abgewonnen hat und diese festhält, – da steckt auch eine vielvermögende Thatkraft, die mit Beharrlichkeit ihre Ziele verfolgt, und ein Unternehmungsgeist, der vor keiner Schwierigkeit zurückschreckt. Es dankt der Süden Frankreichs solchem Geiste die industrielle und commerzielle Betriebsamkeit, welche jede Stadt zu einer Fabrik- und Handelsstadt macht, und die in Bordeaux ihre großartigste Entwickelung erreichte. –

Das heutige Bordeaux ist nach Größe und Bevölkerung die vierte, als Handelsstadt die dritte des Reichs; mit mehr als 100,000 Einwohnern ist sie eine der schönsten in Europa. Sie liegt am linken Ufer der Garonne, die hier, obschon noch fünfzehn Meilen von ihrer Mündung, dennoch fast eine Viertelstunde breit ist und die größten Seeschiffe trägt. – Das alte Bordeaux vor 1743 hüllten Wälle ein; es war ein häßlicher Drt mit dunklen, engen, winklichen Straßen, in denen sich 50,000 Menschen enge zusammen drängten. In jenem Jahre riß man die Schranken weg, und das neue Bordeaux (die Neustadt) entstand nun nach einem schönen, regelmäßigen Plane. Die Pracht vieler der durchgängig massiv aufgeführten Privatwohnungen stempelt sie als Werke des Reichthums. Die Rue Chapeau Rouge besteht fast ganz aus Palästen und sie gilt als eine der schönsten Straßen der Welt. Oeffentliche Prachtgebäude fallen neben den magnifiken Privatwohnungen wenig in’s Auge. Die ehrwürdige Cathedrale, deren ältester Kern im 11ten Jahrhundert entstanden ist, colossal und eins der besten Werke gothischer Baukunst (413 Fuß lang), blieb, obschon man Jahrhunderte lang daran gebaut hat, unvollendet. Ein durch ähnlichen Styl ausgezeichnetes Werk ist der erzbischöfliche Palast. Das Hotel der Präfektur, das Rathhaus, das Hotel der Marine, Börse, Bank, Münze, das Zollhaus, reihen sich unter die Merkwürdigkeiten Bordeaux’s. Imposant ist das große Hospital. Hier wohnt das menschliche Elend wirklich im Palaste. Das Schauspielhaus wetteifert an Umfang, Styl, und an Pracht der äußern und innern Ausschmückung mit dem Herrlichsten, was die Baukunst Gleichartiges irgendwo schuf. Es hat 6½ Millionen Franks gekostet. Die Plätze: Royal, Louis Philippe, Dauphin und St. Germain wetteifern mit einander an Schönheit. Die Place Royal (vergl. den Stahlstich) öffnet sich gegen die schönen Kayen an der Garonne, welche hier eine Breite von 2500 Fuß hat, und unfern davon verbindet ein kühner, gewaltiger Brückenbau die Stadt mit dem jenseitigen Ufer und der Vorstadt la Bartidé. Die Brücke kostete 5 Millionen.

Bordeaux ist auch einer der ältesten Sitze des Christenthums in Westeuropa; das hiesige Erzbisthum bestand schon im dritten Jahrhundert.

[7] Eine Menge Institute für Kunst und Wissenschaft werden von einem im Ganzen sehr gebildeten Publikum genährt, und fördern die wachsende Verbreitung der Intelligenz. Außer den Staatsanstalten: einer königl. Academie der Wissenschaften und Künste, der Universität mit Sternwarte etc., 2 Gymnasien, Bau- und Kunstschule, Schifffahrts- und Handelsschule, den academischen Schulen für Medizin, Chirurgie etc. etc., wirken hier eine Menge Privatvereine für gelehrte und wissenschaftliche Zwecke, und eben so zahlreich sind jene, welche die Ausübung der Pflichten der Nächstenliebe zum Zwecke haben. Der Wohlthätigkeitssinn der Bordeauxer ist sprichwörtlich. An Hülfsmitteln zu wissenschaftlichem Studium ist auch kein Mangel. – Die öffentlichen Bibliotheken zählen über 100,000 Bände; der botanische Garten ist einer der vollständigsten Frankreichs; Kunst und naturhistorische Sammlungen, sowohl öffentliche, als Privatpersonen gehörige, sind dem Wissensdurste bereitwillig geöffnet. –

Das lebendige Gewühl der Menschen von vielerlei Raçen und Trachten auf Straßen und Plätzen, an den Kayen und auf dem Strome kündigt dem Fremden sogleich die große Welthandelsstadt an. In der That steht Bordeaux’s Industrie, so tüchtig sie auch betrieben wird, neben dem Handel doch nur wie eine Magd neben der Gebieterin. Bordeaux’s Verkehr umspannt jest die halbe Erde; nur der von Marseille kann sich der Masse nach mit ihm messen; der von Bordeaux aber stellt sich in weit ausgedehnteren Verhältnissen vor’s Auge. Er gründet sich auf eine vortreffliche Lage, auf Verhältnisse, welche sich im Laufe der Jahrhunderte nach und nach ausbildeten, auf den den Bordeauxern innewohnenden unternehmenden und geschäftlichen Geist, endlich auf eine Fülle von Capitalien, welche selbst die von Marseille weit überragt.

Es gibt eine Menge Häuser hier, welche Millionen besitzen. Wenn man Bordeaux mit einem andern Markte vergleichen wollte, so müßte man Hamburg nennen: – der nämliche Combinationssinn, dieselbe Neigung für vielfach in einander greifende überseeische Unternehmungen, dieselbe Liebe auch für den Waarenhandel, die nämliche Scheu vor dem unfruchtbaren verderblichen Fondsspiel! – Landwärts ist Bordeaux’s Handel sehr groß. Durch die Garonne, die aufwärts noch 50 geographische Meilen weit große Boote trägt, durch die schiffbare Dordogne und durch den Languedok-Canal, welcher der Stadt die direkte Wasserverbindung mit dem Mittelmeere schenkt, wird dem Binnenverkehr ein weites Gebiet erschlossen. Bordeaux versorgt, vermittelst seiner Wasserstraßen, drei Viertheile des südlichen Frankreichs mit den Erzeugnissen der Colonien, und führt dagegen die Produkte des Landes auf 400 Seeschiffen und 800 Küstenfahrzeugen aus. – Sein großartigster Export ist der von Wein und Branntwein: – dieser allein beschäftigt über 125 Mill. Franks Capital, und die Gesammtmenge des Exports dieser zwei Artikel übersteigt jährlich 280,000 Stück. Ueber ein Viertheil davon trinkt Paris, der Rest vertheilt sich in die Länder des europäischen Nordens, an England und Amerika. Gegen manchen Bordeauxer [8] Weinkeller würde der Bremer Rathskeller erscheinen wie ein Ei gegen das Heidelberger Faß: – denn einer faßt 30,000 Stück. Es ist aber auch die Kunst der Weinbrauerei nirgends in der Welt so weit gebracht, oder wird irgendwo in so großem Maßstabe und so – ohne Scheu ausgeübt, als in Bordeaux. Man macht hier dieselbe Sorte für jede Nation anders.„Jedem maulrecht!“ ist oberstes Gesetz, und der ehrlichste Bordeauxer Weinhändler hält es für keine Sünde, wenn seine Kunst die Mängel der Natur verbessert und ein Wein, der als schlechter, herber Cotes in seine Hallen kam, als feiner Chateau Margeaux oder Lafitte wieder hinaus und in die weite Welt geht.

Der Werth der transatlantischen Einfuhr in Bordeaux wird auf jährlich 25–35 Millionen Franks veranschlagt, jener der Ausfuhr aber ist noch viel größer, und wohl nicht unter 100 Millionen zu schätzen: – Zahlen, welche hinreichen, den Umfang des Bordeauxer Verkehrs überhaupt zu bemessen.