Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Witz neben Aufschneiderei das Erbtheil jedes Menschenkinds ist, wo man das Verworfenste und Edelste mit einem Bommot auf gleiche Weise abfertigt, wo joviale Gutmüthigkeit jedes Ereigniß so lange dreht und wendet, bis sie ihm eine lustige Seite abgewonnen hat und diese festhält, – da steckt auch eine vielvermögende Thatkraft, die mit Beharrlichkeit ihre Ziele verfolgt, und ein Unternehmungsgeist, der vor keiner Schwierigkeit zurückschreckt. Es dankt der Süden Frankreichs solchem Geiste die industrielle und commerzielle Betriebsamkeit, welche jede Stadt zu einer Fabrik- und Handelsstadt macht, und die in Bordeaux ihre großartigste Entwickelung erreichte. –
Das heutige Bordeaux ist nach Größe und Bevölkerung die vierte, als Handelsstadt die dritte des Reichs; mit mehr als 100,000 Einwohnern ist sie eine der schönsten in Europa. Sie liegt am linken Ufer der Garonne, die hier, obschon noch fünfzehn Meilen von ihrer Mündung, dennoch fast eine Viertelstunde breit ist und die größten Seeschiffe trägt. – Das alte Bordeaux vor 1743 hüllten Wälle ein; es war ein häßlicher Drt mit dunklen, engen, winklichen Straßen, in denen sich 50,000 Menschen enge zusammen drängten. In jenem Jahre riß man die Schranken weg, und das neue Bordeaux (die Neustadt) entstand nun nach einem schönen, regelmäßigen Plane. Die Pracht vieler der durchgängig massiv aufgeführten Privatwohnungen stempelt sie als Werke des Reichthums. Die Rue Chapeau Rouge besteht fast ganz aus Palästen und sie gilt als eine der schönsten Straßen der Welt. Oeffentliche Prachtgebäude fallen neben den magnifiken Privatwohnungen wenig in’s Auge. Die ehrwürdige Cathedrale, deren ältester Kern im 11ten Jahrhundert entstanden ist, colossal und eins der besten Werke gothischer Baukunst (413 Fuß lang), blieb, obschon man Jahrhunderte lang daran gebaut hat, unvollendet. Ein durch ähnlichen Styl ausgezeichnetes Werk ist der erzbischöfliche Palast. Das Hotel der Präfektur, das Rathhaus, das Hotel der Marine, Börse, Bank, Münze, das Zollhaus, reihen sich unter die Merkwürdigkeiten Bordeaux’s. Imposant ist das große Hospital. Hier wohnt das menschliche Elend wirklich im Palaste. Das Schauspielhaus wetteifert an Umfang, Styl, und an Pracht der äußern und innern Ausschmückung mit dem Herrlichsten, was die Baukunst Gleichartiges irgendwo schuf. Es hat 6½ Millionen Franks gekostet. Die Plätze: Royal, Louis Philippe, Dauphin und St. Germain wetteifern mit einander an Schönheit. Die Place Royal (vergl. den Stahlstich) öffnet sich gegen die schönen Kayen an der Garonne, welche hier eine Breite von 2500 Fuß hat, und unfern davon verbindet ein kühner, gewaltiger Brückenbau die Stadt mit dem jenseitigen Ufer und der Vorstadt la Bartidé. Die Brücke kostete 5 Millionen.
Bordeaux ist auch einer der ältesten Sitze des Christenthums in Westeuropa; das hiesige Erzbisthum bestand schon im dritten Jahrhundert.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/14&oldid=- (Version vom 28.12.2024)