Textdaten
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Autor: A. Goeschen
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Titel: Bilder aus dem Schwurgericht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 40-42
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Bilder aus dem Schwurgericht.
Von A. Goeschen.

Ich will gar nicht leugnen, daß mich, trotz meiner Sympathien für jede Art von Fortschritt, mancherlei Bedenken überkamen, als ich zum ersten Mal die Aufforderung erhielt, als Geschworener zu fungieren.

Unter den Errungenschaften, die uns in Preußen aus dem Jahre 1848 noch erhalten sind, zählt das Schwurgerichts-Verfahren unbedingt zu den werthvollsten. Zwar sind seiner Wirksamkeit die bedeutendsten und edelsten Aufgaben in den politischen und Preß-Processen entzogen, bleibt aber die Institution nur überall bestehen, so wird mit der Zeit auch das ihr wieder zufallen, was eine ängstliche Reaction ihr genommen. Weder durch die Lasten, die den Einzelnen aus der Ausübung dieser Staatsbürgerpflicht erwachsen, noch durch etwa auftauchende Mißstimmung über die und jene Entscheidung eines Schwurgerichtshofes dürfen wir uns die Freude an dieser so schönen und segensreichen Einrichtung trüben lassen. Opfer aller Art fordert nun einmal das neue Leben, das frischere Bewegen, welches in unseren Tagen in die Staatskörper gekommen, und es ist an Jedem, welchem Lebenskreise er immer angeboren mag, sich der hohen Aufgabe bewußt zu werden, daß nicht an das eigene liebe Ich, an das eigene Haus, das eigene Geschäft allein zu denken ist, nein, daß er, je nach Kraft und Gabe, dem Wohl der Gemeinde, des Staates den fälligen Tribut zu zahlen hat. Das läßt sich eben, wie Zeit und Verhältnisse sich geändert haben, nicht mehr mit dem einfachen Steuerzahlen abmachen; die Gemeinde, der Staat beanspruchen ihr Theil von unserer Fähigkeit, unserer Thätigkeit und damit den Beweis, daß wir reif und würdig sind der freieren Entwickelung und Gestaltung des staatlichen Lebens und seiner Vortheile.

Gerade in jüngster Zeit erst machten zwei Criminalprocesse gewaltig viel von sich reden und konnten auf’s Neue allerlei Scrupel bei Dem und Jenem wachrufen, ich meine den Proceß Müller in London und den schmutzigen Fall Gregy-Grote in Berlin. Nun, der eine hat eben wieder bewiesen, wie es auch in dem vielgepriesenen Musterstaate England an Mängeln und Bedenklichkeiten selbst bei lang eingebürgerten Dingen nicht fehlt, wobei wir immer an die volle Gerechtigkeit des Todesurtheiles glauben wollen, und was bei dem Wahrspruch gegen Grote, die Quinche und die Fischer etwa an Bedenken aufgetaucht, ist den Geschworenen durchaus nicht zur Last zu legen, sondern, wenn überhaupt haltbar, etwa der Vertheidigung, und daß den Geschworenen gewisse Schwierigkeiten der Fragestellung nicht deutlich genug vor Augen gestellt wurden. Vorkommnisse aber, wie die genannten, können und dürfen die großen Vortheile der Schwurgerichte, die rege Theilnahme der Bevölkerung für sie nicht berühren.

Es war im Monat Juli, als das Schwurgericht zusammentrat, bei dem ich mitwirken sollte. Der Juli pflegt in Berlin vorzugsweise unbehaglich zu sein und nicht eben Lust zu machen, sich durch Lösung ungewohnter Aufgaben noch besondere Beschwerden zu verursachen. Und gewiß hatte mein neues Amf der Beschwerden genug, dafür aber war ich nach Ablauf der vier Wochen um so viel reicher an merkwürdigen Erfahrungen und Beobachtungen, daß ich sie um keinen Preis aus meinem Leben hätte missen mögen. Manche jener Beobachtungen und Erfahrungen bietet wohl auch ein allgemeineres Interesse und rechtfertigt mich, wemn ich sie den Lesern der Gartenlaube mittheile, nicht um Criminalgeschichten zu schreiben, sondern um einen und den andern Blick in des Menschen Herz und Treiben zu öffnen, freilich zunächst nur nach dunklen, nächtlichen Seiten hin. – Der Tag unserer ersten Sitzung war sehr heiß, und neben den acht Personen, die auf der Anklagebank Platz zu nehmen hatten, gab es eine große Zahl Zeugen, unter ihnen auch Sachverständige zu vernehmen, was Alles denn eine Verhandlung von ungewöhnlicher Dauer verhieß. Wenn trotzdem kaum ein Wunsch um Dispens laut geworden; wenn selbst die Mehrzahl der Geschworenen, die sich freigeloost hatten, auf den Zuhörerbänken Platz nahmen, so war es, weil die Verbandlung einer cause célèbre galt. Um sie vor jeder Unterbrechung durch etwaiges Erkranken eines Geschworenen zu schützen, war sogar ein Ersatz-Geschworener an dem unglücklichen Trompetertischchen vor den geschlossenen Reihen der Zwölf zur Stelle, und ich will nicht verschweigen, daß er damit eine der traurigsten Rollen übernahm, zu der ein Mensch in derartiger öffentlicher Thätigkeit verdammt werden kann. Nachdem ein solcher Unglücklicher den Verhandlungen von A bis Z beigewohnt hat, bleibt er, wenn die Geschworenen sich zur Berathung zurückziehen, d. h. wenn ihr Hauptgeschäft beginnt, hübsch fein vor der Thür und wartet in stiller Ergebung, bis er nach ihrem Wiedereintritt in den Sitzungssaal, was, nebenbei gesagt, an jenem Tage lange genug währte, auch sein bescheiden Stühlchen auf’s Neue einzunehmen hat.

Um eine cause célèbre handelte es sich, wie ich sagte, und das theils wegen der schweren Einbrüche, die ihrer Zeit durch besondere Frechheit der Ausübung, durch die rasche Aufeinanderfolge die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt auf sich gezogen hatten, theils wegen des Einen der drei Hauptangeklagten, mit dem ein paar Tage lang um der Art willen, wie er seinem verborgenen Wirkungskreise entrissen wurde, ganz Berlin sich beschäftigt hatte. Vor drei Jahren etwa hatte er sich ganz gegen die Bestimmung der Richter, ganz wider den Willen der Wärter, nur dem eigenen Drange nach Freiheit folgend, nächtlicher Weile aus dem Zuchthause entfernt und dann, während, wie der Vertheidiger emphatisch sagte, das Damoklesschwert in Gestalt des Steckbriefes über ihm schwebte, seine verbrecherische Laufbahn mit Geschick und Glück fortgesetzt. Zum größten Theil geschah das in Berlin, und nur wenn die Luft ihm dort zu heiß zu werden schien, zog er sich in angenehmere Gegenden zurück, wo er unbekannt, ungestört von dem wachsamen Auge der Residenzpolizei, seinem Hange nach nächtlicher Beschäftigung, wenn auch mit geringerem Erfolg, nachgehen konnte. Um solch störenden Geschäftsreisen zu entgeben, um der Hauptstadt seine Thätigkeit ganz und ausschließlich widmen zu können, hielt er es endlich für angemessen, die Verborgenheit, das Versteckenspiel aufzugeben und sich dicht vor den Thoren in einer der am meisten bevölkerten Vorstädte als „Gentleman“ einzumiethen. Er galt hier für einen edlen Menschenfreund, der sich der vielen Armen, die um ihn her wohnten, freundlich annahm und sich, so fremd er eigentlich war, der besten Nachrede rühmen konnte. Da wurde die Nachbarschaft an einem heitern Herbstmorgen durch die Wahrnehmung überrascht, daß sich eine größere Menge von Schutzleuten in etwas auffälliger Weise mit und in dem Hause zu thun machten, welches B., so wollen wir unsern Mann nennen, bewohnte, mehr aber noch in Erstaunen gesetzt, als nach längerer Zeit dieser selbst, offenbar nicht freiwillig, in Mitte der Polizisten der Stadt zuwanderte. Man hörte dann später, die Polizei habe B. in einem gut meublirten Zimmer, in eleganler Morgentracht bei wohlriechendem Mocca und vortrefflichem Cigarrenduft überrascht, der Vielerfahrene sich aber noch einmal ihren Händen zu entziehen verstanden. Man fand ihn endlich in einem scheinbar sehr sicheren Versteck, und da nun in seiner Gegenwart die genauere Durchsuchung der Zimmer vor sich ging, wurde B. besonders schmerzlich berührt, als die bösen Schutzleute eine überaus werthvolle Sammlung, auf die er großen Fleiß und viel Mühe verwandt hatte, in buntem Durcheinander in kleinen Säcken verschwinden ließen.

Die Sammlung bestand aus einer langen Reihe kunstvoller Dietriche und Schlüssel, auf das Sorgfältigste mit reinlichen Etiquetten versehen, welche Namen der Straße und Nummer der Häuser anzeigten, die des eifrigen Sammlers Thätigkeit in Anspruch genommen hatten oder noch nehmen sollten. Hätte B. diesem Steckenpferde nicht so besondere Aufmerksamkeit zugewendet, so wäre es vielleicht langsamer mit der Verurtheilung gegangen, die ihn nun bereits seit zwei Monaten wieder hinter Schloß und Riegel hielt. Was jetzt gegen ihn verhandelt werden sollte, konnte eine achtjährige Zuchthausstrafe, die über ihn verhängt war, nur in eine zwanzigjährige verwandeln, wie es denn auch geschah. B. stellte sich uns als ein hübscher junger Mann mit klugem, ich kann nicht etwa sagen verschmitztem, Ausdruck vor, von einer gewissen Feinheit des Benehmens, leichten, gefälligen Manieren, und als er vollends jede Auslassung über den Verbleib besonders werthvoller Sachen verweigerte, offenbar weil es sich um ein Verhältniß zartester Natur handelte, so geschah das in einer chevaleresken Weise, die lebhaft an die längst verklungenen Räuberromane aus der früher so bekannten Nordhäuser Niederlage von Fürst erinnerte.

Neben B. saßen als Theilnehmer an jenen schweren Einbrüchen [41] zwei gleichfalls schon wiederholt bestrafte Diebe A. und C. Auf jenen werde ich gleich wieder zurückkommen, dieser, eine stupide, rohe Natur, erregte irgend ein Interesse nicht. Der Hehlerei bezichtigt und somit Complicen der Hauptangeklagten waren zwei Männer und drei Frauen. Der Hehler E., ein gut aussehender, wohlgekleideter, noch junger Mann, der sich im Hause der Verhandlungen wohl mit Absicht dümmer gab, als er war, hatte sich bisher jedem Zusammenstoß mit der Polizei und dem Criminalgericht zu entziehen verstanden, obwohl er seit einer ganzen Reihe von Jahren einer der gefährlichsten Vertreter seines schmählichen Gewerbes gewesen. Er betrieb dasselbe mit seiner Ehefrau der Art en gros, daß Eines von ihnen jede Leipziger Messe besuchte, um die hier auf Lager gesammelten Waaren, fast ausnahmslos gestohlenes Gut, vortheilhaft und ohne Gefahr der Entdeckung an den Mann zu bringen, gleichzeitig aber mit dortigen Dieben in Verkehr zu treten und die neuerworbenen Güter wieder hierher zu senden. Es erscheint räthselhaft, wie dieses würdige Paar – die Frau war übrigens noch nicht zur Haft gebracht – Jahre lang in einem sehr frequenten Geschäftstheil der Stadt, der Rosenthaler Straße, im großartigsten Maßstabe die Hehlerei betreiben konnte, ohne die Blicke der Polizei auf sich zu ziehen, und das ist vielleicht nur aus der Offenheit zu erklären, mit der in dem dürftigen Kellerlocal das anscheinend ehrliche Verkaufsgeschäft betrieben wurde. Gerade der lebhafte Verkehr auf der Straße erleichterte dabei wohl den Verbrechern unbemerkt aus- und einzugehen. Zuletzt hatte das Geständniß eines Betheiligten diesen gemeingefährlichen Menschen zur Untersuchung gebracht, aus der er, obwohl noch unbestraft, zu mehrjähriger Zuchthausstrafe wanderte. Dem F., auch einem noch jungen, aber schon wiederholt bestraften Menschen, war das gewiß seltene Geschick zugefallen, neben seiner Mutter und einer Geliebten, die fast seine Mutter sein konnte, unter der nämlichen Anklage vor Gericht zu erscheinen.

Unter den verschiedenen Einbrüchen, die hier zur Sprache kamen, verdient der eine wohl näherer Erwähnung, und das um so mehr, als er gerade dem Angeklagten A. Gelegenheit bot, bei der Verhandlung in den Vordergrund zu treten und besonderes Interesse in Anspruch zu nehmen. Das Kleeblatt A., B., C. bedurfte zu besserer Uebung seiner nächtlichen Künste dringend verschiedene Geräthschaften und glaubte sie in erster Güte in einer Eisenhandlung finden zu können, deren Solidität A. aus den Zeiten ehrlicher Arbeit bekannt war. In dem offenen Geschäft war es leicht, genaue Kenntniß der Localität zu gewinnen und als richtigsten Angriffspunkt eine Thür zu wählen, die aus dem geräumigen Flur des Hauses in den Laden führte. Den Schlüssel zur Hausthür zu beschaffen, war dem genannten B. Kleinigkeit, aber auch der schwierigeren Aufgabe unterzog er sich, in Gemeinschaft mit C. am hellen Tage im Flur eines Hauses an der größten Verkehrsader Berlins die Schrauben an den Eisenstangen der erwähnten Thür zu lockern und so die Arbeit der Nacht abzukürzen. Der so vorbereitete Einbruch gelang, allein trotz allen Suchens fand man die gewünschten Geräthschaften nicht, und da auch der gelegentliche Griff in die Ladencasse nur einen geringen Erfolg gab, schien das Geschäft ein sehr klägliches, der Mühe wenig werthes sein zu sollen.

Da entdeckte A. hinter einer Gardine im zweiten Zimmer, dem Comptoir, einen eisernen Geldschrank, und kurz entschlossen gingen die drei verwegenen Menschen, ohne irgendwie auf eine solche Arbeit vorbereitet zu sein, daran, den mehr als sechs Centner schweren Schrank zu stehlen und so sich gründlich für die sonstigen Täuschungen zu entschädigen. Ohne viel Lärm brachten sie ihn von der Stellage durch zwei Zimmer bis auf den Flur, nun aber war guter Rath theuer, denn wie wollte man ihn durch die Stadt an einen sichern Ort bringen? Zur guten Stunde erinnert sich C., daß in einem Hofe am Alexanderplatz, wohl eine halbe Stunde vom Schauplatz der That, ein Handwagen stehe, und wußte denselben, obschon auch dazu wieder ein Einbruch nöthig war, noch vor Tagesanbruch herbeizuschaffen. Von zwei Menschen, denn der dritte mußte Wache stehen, wurde der schwere Schrank glücklich auf den Wagen gebracht und dann, der Morgen dämmerte bereits, nach dem Keller des Hehler E. gefahren und hier über schnell herbeigeholte Betten geräuschlos die Treppe herunter gewürfelt. Was könnten Menschen von solcher Entschlossenheit, Arbeitskraft und Ausdauer vor sich bringen, wenn sie den ruhigen Gang ehrlichen Geschäftes wandelten!

Um den Schrank seines Inhaltes berauben zu können, war es nöthig, eine kreisrunde Scheibe auszubohren, und als auch das dem kundigen A. geglückt, wurde das Möbel in eine Kiste verpackt und unter fingirter Adresse der niederschlesisch-märkischen Eisenbahn zum Transport nach X. Eisenbahn restante übergeben. Da Nachfrage nach der schweren Kiste nicht erfolgte, wurde diese endlich geöffnet und so der Anfang des Fadens gefunden, der schließlich zur Entdeckung der Verbrecher führte, die durch ihre frechen Einbrüche die Stadt Berlin vollständig alarmirt hatten.

Und nun zu A., in dem der schlaue, gewandte B. in jeder Richtung einen würdigen Kumpan für seine verbrecherische Thätigkeit gefunden hatte. Nicht allein, daß er große technische Geschicklichkeit besaß, daß er in den verschiedensten Hantirungen wohl Bescheid wußte, daß er von großer Körperkraft war und dabei in seinem äußeren Erscheinen eher einen soliden, biederen Eindruck machte, besaß er eine geistige Ausbildung, die weit über das gewöhnliche Maß des Arbeiterstandes hinausreichte. Er nahm Gelegenheit, uns in drei schwunghaften Reden, die nach Form und Inhalt wahrlich einer besseren Sache würdig gewesen wären, davon Probe zu geben. Die eine, mit viel Sarkasmus und einzelnen beißenden Witzworten gewürzt, galt einer technischen Frage und übte Kritik an dem Kunstschlosser, der als sachverständiger Zeuge vernommen wurde. A. leugnete die Mitthäterschaft an einem der Einbrüche, bei dem es sich gleichfalls um einen Geldschrank handelte und wo aus der Art einer vorliegenden Scheibe sich nach weitläufiger Auslassung des Zeugen ergeben sollte, daß dieselbe Hand mit demselben Instrument in diesem Falle hantirt habe, welche den Schrank in E.’s Keller eröffnete, und das war geständigermaßen die des A. gewesen.

Während dieser nun Schritt für Schritt des Zeugen Auseinandersetzung widerlegte, flüsterte mir mein Nachbar, zufällig auch ein Sachverständiger, ein über das andere Mal zu: „Der Mensch hat ganz Recht,“ und im weitern Verfolg der Zeugenaufnahmen ergab sich zu allem Ueberfluß noch, daß die ganze Frage durch ein Mißverständniß in die Untersuchungsacten gekommen und der eigentliche Zusammenhang ein ganz anderer war, als hier vorausgesetzt wurde. Erschreckend in Bezug auf die traurigen Folgen des Gefängnißlebens klang des A. Aeußerung, wie es eine ganz falsche Annahme sei, daß überall zu solchen scheinbar kunstgemäßen Arbeiten, wie sie im Diebeshandwerk vorkommen, Leute vom Fach gehörten; das lerne sich im Gefängniß durch gegenseitige Mittheilung schnell und leicht, und er sei gar nicht in Zweifel, daß z. B. der Mitangeklagte C., obschon seines Zeichens ein Tischler, Alles, was ihm als Schlosser bei den gemeinsamen Einbrüchen zugefallen, ebensogut hätte verrichten können.

A. blieb dabei stehen, an dem einen Einbruch nicht Theil genommen zu haben, und als der Vorsitzende Richter noch einige weitere Querfragen deshalb an ihn stellte, erbat er sich noch einmal das Wort, um uns daran zu erinnern, wie es ja ganz lächerlich von ihm sein würde, zu leugnen, wo er, wie wir, wüßte, daß das auf das Maß der Strafe gar keinen Einfluß habe. Er bleibe dabei, seine Unschuld zu behaupten, weil es Princip bei ihm sei, keine Schuld auf sich zu nehmen, an der er nicht betheiligt sei. Das Alles brachte er mit einem Nachdruck, einer Sicherheit vor, als stehe er auf irgend einer Rednerbühne und spräche zu einer seinen Worten lauschenden Versammlung. Es widersprach seiner Verbrecherehre, sich zu einer That zu bekennen, mit der er nichts zu schaffen gehabt!

Den größten Eindruck auf Geschworene, Richter und Zuhörer machte aber die erste Rede des A., mit der er den Geschworenen es an’s Herz legte, mildernde Umstände für ihn anzunehmen. Er betrat mit ihr ein Gebiet, auf dem es leicht ist, warme Theilnahme zu erregen, weil es ganz bestimmte, leider nicht wegzuleugnende Schäden unserer socialen Verhältnisse deutlich erkennen läßt. Als A. das zweite Mal der Haft entlassen war, hatte er seinen Versicherungen nach den festen Entschluß gefaßt, ein für allemal dem Verbrechen den Rücken zu kehren. Bei seiner Tüchtigkeit als Schlosser konnte es ihm ja nicht fehlen, durch ehrliche Arbeit sich den nöthigen Unterhalt zu verdienen. Seine guten Absichten wurden vereitelt durch, wie er sagte, die Polizei. „Indem sie mich unter ihre Controle nahm, indem sie mich jedem Brodherrn, bei dem ich Arbeit fand, als bestraften Dieb signalisirte und dies unter meinen Mitarbeitern nur zu schnell bekannt wurde, stand ich überall bald als Gemiedener, Geächteter, von dem Verkehr [42] mit den andern Ausgeschlossener da. Mißtrauen, Beschimpfung folgten mir, wo ich ging und stand. Die einzige Erholung, die es für mich gab, nach ermüdender Arbeit an schönen Sommerabenden mich in freier, frischer Luft vor den Thoren zu ergehen, brachte mich in neue Conflicte mit der Polizei, da ich bei gelegentlichen Visitationen ein paar Mal nicht schlag neun Uhr zu Hause angetroffen wurde. Hierdurch verlor ich zwei Mal die besten Dienste; andere zu suchen und zu finden, wurde mir mehr und mehr Lust und Möglichkeit genommen. Ja, meine Herren Geschworenen,“ so schloß A., „die trostlose Lage des Bestraften nach seiner Entlassung aus dem Gefängnisse, das Auge der Polizei, das ihm auf Schritt und Tritt folgt, ihre Organe, die den Makel, der ihm anhaftet, bei den verschiedensten Gelegenheiten offenkundig machen, sie schneiden ihm die Möglichkeit ehrlichen Erwerbes ab, benehmen ihm Muth und Kraft, die guten Vorsätze auszuführen, und treiben ihn endlich der Verzweiflung und so auf’s Neue dem Verbrechen in die Arme. Das ist mein Schicksal gewesen, wie es das Schicksal so Vieler vor mir war. Nehmen Sie, meine Herren Geschworenen, mit Rücksicht auf so trostlose Zustände, für mich, einen Unglücklichen, der die ganze Schwere seiner Verbrechen reuig erkennt, mildernde Umstände an.“

Wenn ich erwähne, daß der Vorsitzende des Gerichtshofes in seinem Resumé den mächtigen Eindruck betonte, den des A. Rede gemacht, die ich natürlich hier nur in kurzen allgemeinen Zügen wieder gab; wenn er dessen ganzes Benehmen und Auftreten als ein ungewöhnliches, auf der Anklagebank dieses Saales wohl kaum vorgekommenes bezeichnete und es natürlich fand, wenn die Geschworenen dadurch für ihn eingenommen wären, so wird man es begreiflich finden, daß es uns allen sehr schwer wurde, unbedingt das „Schuldig“ zu sprechen. Wir konnten nach Lage der Sache nicht anders, aber ich bedauerte von Herzen den Armen, der bei besserer Einsicht, bei gutem Willen durch die Macht der Verhältnisse, nicht durch Lust am Bösen, auf’s Neue zum Verbrecher geworden und nun einer zwölfjährigen Zuchthausstrafe entgegenging. Es sollte diese Stimmung indeß nicht lange anhalten: nur zu bald sollte ich erfahren, daß A. uns eine wohl überlegte Komödie vorgespielt hatte, daß wir mit unsern Bedenken und Gewissensscrupeln die Betrogenen eines Gauners gewesen waren, der vielleicht unter den acht Angeklagten der geriebenste. Als die Drei, A., B., C., in das sichere Arrestzimmer abgeführt waren, konnte ich mir einen Blick durch das Loch in der Thür desselben nicht versagen. Da sah ich sie denn in tollster Aussgelassenheit singen, springen, sich umarmend, lachend über den Gang der Verhandlungen und auch der Geschworenen Gutmüthigkeit nicht schonend. Bald, so hofften alle Drei, würde ihnen der Ausbruch gelingen und nur das bedauerten sie, daß sie nicht in dieselbe Anstalt gebracht werden würden. Dagegen rechneten sie fest darauf, sich nach gelungener Flucht bald wieder zu gemeinsamer Thätigkeit zusammenzufinden. Mich meiner Leichtgläubigkeit schämend ging ich von dannen.

Eine Scene von drastischer Wirkung brachte uns die Verhandlung einer jener betrüglichen Wechselreitereien, wie sie gegenwärtig so häufig Gegenstand gerichtlicher Untersuchung werden. Der Angeklagte war in diesem Falle ein sogenannter Winkel-Advocat und hatte in den verschiedensten unsauberen Geschäften die – um das Wort zu mißbrauchen – juristische Vermittelung übernommen. Es handelte sich nun um die Frage, in wie weit er hierbei auch seinen eigenen Vortheil wahrgenommen und somit die Früchte der Betrügerei mit den Uebrigen getheilt habe. Uebrigens ist es, um das nebenher zu erwähnen, unglaublich, wie viele solcher Pseudo-Advocaten, meistens ehemalige Schreiber bei Rechtsanwalten, in großen Städten sich umhertreiben und – Beschäftigung, oft in großartigsten, und lohnendstem Maße, finden. Unser Mann bot in seinem ganzen Erscheinen, der gekiffenen Physiognomie, den versteckt liegenden Augen, dem magern, schmiegsamen Körper mit langgestreckten Armen, die in schmale, wie abgeschriebene Finger ausliefen, an denen man nur den bekannten Federeindruck des mittleren wegen der Ruhe in der Haft vermißte, ein höchst charakteristisches Bild des Genus Schreiber und hätte sich sofort für die Illustration eines Boz’schen Romanes verwenden lassen. Der Proceß bot an sich nicht viel Bemerkenswerthes und gewann erst Leben, als der Vertheidiger des Winkelschreibers in folgender Art das Wort ergriff: „Ich bitte Sie, meine Herren Geschworenen, werfen Sie vor allen Dingen einen Blick auf meinen Clienten. Ist Ihnen je eine dümmere, nichtssagendere Physiognomie vorgekommen, als diese? Halten Sie es für möglich, daß sich an einen Menschen von so augenfälliger Einfalt, wenn es sich um die Ausführung irgend verwickelter, mißlicher, zweideutiger Geschäfte handelt, wirklich jemand um Hülfe wendet, und glauben Sie, daß er der Mann wäre, dieselben mit auch nur einigem Geschick zu führen? Ich gestehe Ihnen offen, ich kann nicht begreifen, daß er, wie doch aus den Acten hervorgebt, auch nur gewöhnliche Schreiberdienste bei einem Advocaten ordentlich verrichten konnte.“ – Daß meine Augen während der für den Angeklagten wenig schmeichelhaften Einleitung auf ihm ruhten, versteht sich von selbst, und da entging es mir denn nicht, wie er sich unter dieser Schilderung seines Ich’s, die so weit abwich von seinen eigenen Vorstellungen, von der eigenen Werthschätzung, förmlich wand und krümmte vor innerlichem Verdruß; wie er am liebsten laut Protest erboben hätte und doch wieder dankbar schweigen mußte im Hinblick auf den vielleicht guten Eindruck der Rede und die dann erfolgende Freisprechung. Später hörte ich, daß der gute Winkeladvocat – der übrigens, nach kurzer Zeit einer gleichen Schuld angeklagt, seinem Schicksal nicht entging – dem Defensor bittere Vorwürfe ob der Rede gemacht habe, die seinen geschäftlichen Ruf und somit seinen Erwerb arg hätte erschüttern können.

Von den übrigen Fällen, die während dieser Schwurgerichtsperiode zur Verhandlung und Aburtheilung kamen, erregte nur noch ein Meineidsproceß, an sich traurig genug, durch ein komisches Intermezzo Interesse, das nach dem gefällten Spruche den Zuhörerraum in ziemlich laute Heiterkeit versetzte. Die eigentliche Urheberin des Meineids, eine äußerst verschmitzte Berlinerin in höheren Jahren, die ihr unerfahrenes junges Dienstmädchen vom Lande zu dem genannten Verbrechen zu veranlassen gewußt hatte, war, der juristischen Auffassung nach, als „nicht schuldig“ erklärt, das arme Dienstmädchen dagegen verurtheilt worden; da wurde im Auditorium eine tiefe Stimme laut: „Herr Jott, wieder nich in’s Loch, und ich dachte’s doch diesmal ganz sicher!“ Es war die des zärtlichen Ehemanns, der fest darauf gerechnet hatte, auf zwei Jahre seine böse Sieben los zu sein.