Beim Untersuchungsrichter
Alle Rechte vorbehalten.
Beim Untersuchungsrichter.
Das heutige Strafverfahren hat von der Kriminalistik gelernt, alle modernen Einrichtungen und alle erdenklichen fremden Wissenschaften und Künste für seine Zwecke auszunutzen. Dadurch gewinnt man unabsehbar viel an Zeit, man hat aber auch Erfolge aufzuweisen, wo man früher die Hände in den Schoß legte und nichts thun konnte. –
Der Untersuchungsrichter kommt des Morgens ins Amt, der Einlauf wird gemeldet, darunter ein August Karl Fricke aus Hannover, wegen bedenklichen Besitzes von offenbar gestohlenen Kostbarkeiten; da der Mann besonders lebhaft seine Unschuld beteuert, wird er zuerst vernommen. Er heißt August Karl Fricke, ist Elektrotechniker aus Hannover, sucht Arbeit, besitzt ein Privatzeugnis auf obigen Namen, Beschäftigung und Herkunft und hat die bei ihm gefundenen Kostbarkeiten von einem Unbekannten gekauft, der sie aus Not billig abgeben mußte; Fricke nahm sie, da er damals Geld hatte und vorteilhaften Weiterverkauf erhoffte.
„Also, Sie sind Elektrotechniker,“ beginnt der Untersuchungsrichter, „wo haben Sie denn gearbeitet?“
Fricke nennt Siemens & Halske, Schuckert, kurz, Firmen, die wir alle aus den Blättern kennen.
„Sehen Sie einmal unsere Glühlampen an – was ist das für ein System?“
„Nun, ein ganz gewöhnliches, wie man es überall hat.“
Der Untersuchungsrichter schellt, ein Diener kommt. „Gehen Sie einmal sofort hinüber in das Elektricitätswerk, ich lasse Herrn Ingenieur Müller auf einen Augenblick zu mir bitten.“
Unterdessen nimmt der Untersuchungsrichter mit Herrn Fricke das herkömmliche Protokoll auf, bis Ingenieur Müller eintritt.
„Herr Ingenieur, ich bitte Sie, sich mit diesem ‚Elektrotechniker‘ ein bißchen zu unterhalten – ich glaub’s ihm nicht, daß er einer ist.“
Der Ingenieur spricht einige Augenblicke mit Herrn Fricke und sagt zum Untersuchungsrichter: „Herr Doktor, dieser Jüngling hat keine Ahnung, was Elektricität ist, und hat nie bei einem Elektrotechniker gearbeitet.“
Der Untersuchungsrichter dankt dem Ingenieur, dieser empfiehlt sich, und ersterer versichert Herrn Fricke, daß er nicht der Herr Fricke ist.
„Ja, wer soll ich denn sein?“ antwortet dieser, und der Untersuchungsrichter erklärt, dies einstweilen noch nicht zu wissen: „aber morgen spätestens sage ich’s Ihnen.“
Nun besieht der Untersuchungsrichter mit dem „Fricke“ die Kostbarkeiten, die dieser vom „Unbekannten“ gekauft hat: goldene Ringe, zwei goldene Uhrketten, eine goldene Uhr, eine silberbeschlagene Cigarrentasche, reichsdeutsches Geld, Edelsteine ohne Fassung, silbernen Stockgriff etc., lauter schöne, teure Sachen. Eine genaue Besichtigung derselben ergiebt, daß die Cigarrentasche ein Silberschild trägt, darauf Studentenwappen weiß-gold-blau, Zirkel und die Widmung: „Hildebrand s. l. Hadubrand“. Die goldene Uhr trägt auf dem Innenmantel ein Wappen und die Inschrift „Zu Weihnacht 1891 von Deinem treuen Vater“. Sonst ist nirgends eine Inschrift, ein Namen etc. zu entdecken, aber der Untersuchungsrichter sagt zu seinem Schriftführer: „Jetzt haben wir ihn schon; das Wappen kennt der Skriptor der hiesigen Bibliothek, ein gewaltiger Heraldiker. Alter und Lebensberuf des Bestohlenen haben wir auch beiläufig; wenn jemand von seinem Vater eine schöne goldene Uhr bekommt, so hat er entweder gerade den Doktor gemacht, oder er ist Leutnant geworden – kurz, er ist gerade ins praktische Leben getreten. Da ist man also so etwa 22, 23 Jahre alt, also 91 von 99 abgezogen, giebt 8, der Bestohlene ist also 30 bis 31 Jahre alt, also junger Beamter, Oberleutnant oder Rittmeister – kurz, mit der Uhr geht es schon.“ Ans Telephon und mit dem Herrn Universitätsskriptor verbunden: „Hier Untersuchungsrichter Dr. Rolling – bitte, was ist das Wappen: quergeteilt, oben roter Löwe in Gold, unten 3 weiße Pfähle in Schwarz?“ – „Aber das ist doch das bekannte Wappen der Freiherren v. M.“ – „Gut, danke.“ – „Bitte.“ – „Schluß.“
Der Untersuchungsrichter sagt seinem Schriftführer, er werde sich auf eine halbe Stunde entfernen, um sich bei dem alten Stiftsfräulein v. G. Rats zu erholen, die alle adeligen Verwandtschaften in Mitteleuropa kenne; der Gothaer Almanach habe diesmal im Stich gelassen, da die Familie der Freiherren v. M. so ausgebreitet ist, daß mindestens 4 oder 5 Oberleutnants und Regierungsassessoren und Gesandtschaftsattachés darunter sind, denen allen die Uhr gehören kann.
Die elektrische Bahn entführt den Untersuchungsrichter zum alten Stiftsfräulein. „Ich bin der Untersuchungsrichter Dr…“
„Um Gottes willen – was wollen Sie von mir?“
Mit Mühe beruhigt der Untersuchungsrichter die lebhafte alte Dame und bringt sein Anliegen vor. Jetzt ist die Dame in ihrem Elemente. „Ja freilich, freilich – eine Tante des Adam Jobst v. M., die gute, selige, alte Melitta v. Z. – Sie haben sie vielleicht gekannt? Nein? Also, diese war die Schwester einer Cousine väterlicherseits des alten Obersten v. A., dessen Sohn hier verheiratet ist mit der Tochter des Onkels –“
„Verehrtes Fräulein, das merke ich mir unmöglich, ich danke Ihnen tausendmal, wenn ich weiß, daß Baron A. in der Langenstraße ein Verwandter des bestohlenen Freiherrn v. M. ist.“
Mit Mühe entwischt der Untersuchungsrichter weiteren Verwandtschaftsauseinandersetzungen, bedankt, empfiehlt sich und fährt zum Baron A. Diesem erzählt er den Sachverhalt, worauf der Baron meint, daß nur der Oberleutnant v. M. von den X-Kürassieren der Bestohlene sein könne, denn der Vater des Assessors war 1891 schon lange tot, der Attaché ist stets in Washington etc. Vielen Dank! Der Untersuchungsrichter fährt zurück, und bald hat er die telegraphische Antwort: „Wurde voriges Jahr um Uhr, Kette und 1000 Mark durch Einsteigen in ebenerdiges Fenster bestohlen. Oberleutnant v. M.“
„Also eine Etappe hätten wir,“ seufzt der Untersuchungsrichter, „jetzt auf die Tasche mit dem Studentenwappen los! Schlagen wir unsern Universitätsalmanach nach, da finden wir alle Couleurwappen und Zirkel. Gut, da ist das unsrige auch schon; es ist die ‚Havelia‘ in Berlin.“ Nun geht ein Telegramm an die Polizeiverwaltung Berlin: „Ist einem Studenten mit Kneipnamen Hadubrand der ‚Havelia‘ Cigarrentasche mit Zirkel gestohlen worden?“ Nachmittags langt die Antwort ein: „Stud. jur. Josef Rothe Cigarrentasche, Ringe, Geld durch Einsteigen in ebenerdiges Fenster gestohlen. Verdächtig Johann Gelter, Schrotschußnarbe linke Schulter, Hamburg vorbestraft.“
Nun wird Fricke befragt, ob er Johann Gelter sei. Ob er Schrotschußnarbe habe. Beide Fragen: Nein. Eine Narbe in der linken Schulter entdeckt der Arzt – der Untersuchte behauptet aber, das sei von einem Messerstich, den er bei einer Rauferei bekam. Der Arzt kann die Möglichkeit nicht in Abrede stellen. „Ob da nicht Röntgenstrahlen helfen könnten?“ fragt der Untersuchungsrichter. „Möglich,“ antwortet der Gerichtsarzt. Kurz darauf fahren der Untersuchungsrichter, der Verdächtigte und zwei handfeste Aufseher auf die Universität zu Professor T., der viel „röntgenisiert“, und der Untersuchungsrichter bittet den berühmten Gelehrten, ihm „den Kerl gütigst zu perlustrieren“. Der Bitte wird sofort entsprochen und der Professor erklärt: es sind drei kleine, runde Schatten da, die höchstwahrscheinlich eingeheilte Schrotkörner seien; es ist also der „Schrotschuß“, von dem die Berliner Polizei wußte, sicherlich realer Natur. Der Fricke jedoch will noch immer nicht der Gelter sein. Aber in Hamburg glauben sie schon an Bertillon, den Erfinder einer Methode von körperlichen Messungen an Verbrechern für deren Signalement[1], und so geht endlich noch ein Telegramm nach Hamburg: „Bitte um Bertillonsignalement für Johann Gelter, Schrotschuß linke Schulter, dort vorbestraft.“ Das Signalement mit allen genauen Maßen langt telegraphisch an und der Verhaftete wird als Dieb bezeichnet, der stets in ebenerdige, offene Fenster einsteigt. Nun wird er hier genau nach Bertillons genialer Methode nachgemessen, alles stimmt auf den Millimeter mit dem Hamburger Johann Gelter, und nun gesteht der August Karl Fricke, daß er in der That der Johann Gelter ist und beide Diebstähle an dem Oberleutnant v. M. und dem Studenten Rothe selbst verübt hat.
- ↑ Vgl. den Artikel über das Anthropometrische Signalement im Jahrgang 1896, S. 287[WS 1].
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ In der Nummern-Ausgabe: S. 268.