Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
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Titel: Der Lebensquell
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15–17, S. 468–478, 502–511, 542–544
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[468]
Der Lebensquell.
Erzählung von E. Werner.

In voller Fahrt durchschnitt der Dampfer die tiefblaue Flut des Jonischen Meeres, die, leise wogend, nur von einem leichten Windhauche bewegt, das leuchtende Blau des Himmels widerzuspiegeln schien.

Auf dem Vorderdeck stand eine kleine Gruppe von Reisenden und blickte in das Meer hinaus, wo fern am Horizont, noch in bläulich nebelhaften Umrissen, eine Küste mit steil aufragenden Bergen sich zeigte. Die schlanke Dame, die an der Brüstung lehnte, mochte am Ende der Zwanzig stehen. Es war eine zarte, höchst anziehende Erscheinung, mit einem etwas bleichen Gesicht und großen dunklen Augen, aber es lag ein Hauch tiefer Müdigkeit und Gleichgültigkeit auf dem noch so jugendlichen Antlitz. Auf dem dunklen Haar saß ein graues Filzhütchen, dessen Schleier in dem frischen Morgenwinde auf und nieder [470] flatterte, und der graue Reiseanzug verriet trotz seiner Einfachheit, daß die Dame den vornehmen Ständen angehörte.

Sie beobachtete mit dem Fernglase in der Hand das auftauchende Land und wandte sich jetzt zu einem jungen Manne, der neben ihr stand.

„Sie haben recht, es ist die Küste von Korfu. Sie sehen es zum erstenmal?“

„Jawohl, gnädige Frau,“ versetzte der Gefragte. „Ich habe bisher überhaupt noch nicht viel von der Welt gesehen und will jetzt das Versäumte nachholen. Mein seliger Papa hielt gar nichts vom Reisen, er saß jahraus, jahrein in seiner Fabrik und mochte das Herumtreiben in der Welt, wie er es nannte, nicht leiden. Merkwürdig, nicht wahr? Ja, mein Papa war überhaupt ein ganz merkwürdiger Mann. – Denken Sie lange in Korfu zu bleiben?“

„Wahrscheinlich einige Wochen, da wir den Winter in Aegypten zubringen wollen, und vor dem November kann man ja nicht dorthin.“

„O, Aegypten, das ist auch mein Reiseziel! Ich sagte es Ihnen ja bereits, gnädige Frau. Ich wollte sogar nur einige Tage auf der griechischen Insel zubringen, aber ich kann meine Pläne ändern.“

Der junge Mann, der ungefähr in dem gleichen Alter stand wie seine Nachbarin, schien bereits entschlossen zu dieser Aenderung. Viel Geist lag gerade nicht in seinen Zügen, aber sie waren sehr hübsch und der höchst elegante Reiseanzug stand ihm vortrefflich. Er wandte sich jetzt zu einem alten Herrn, der, die Arme auf die Brüstung gestützt, eine Herde von Delphinen beobachtete, die in der durchsichtig klaren Flut ihr Spiel trieben.

„Da kommt das Land in Sicht, Herr Geheimrat, die Küste von Korfu. In einigen Stunden werden wir landen.“

„Gott sei Dank, dann hat man doch endlich wieder festen Boden unter den Füßen!“ sagte der Geheimrat, sich emporrichtend.

„Seit zwei Tagen sind wir unterwegs und ich bin gar nicht angelegt für Seereisen; wenn nun vollends die Seekrankheit kommt –“

„Sie kommt nicht bei dieser ruhigen Fahrt,“ unterbrach ihn die junge Frau. „Du siehst es ja, Papa, sie hat niemand auf dem Schiffe belästigt.“

„Sie hätte aber doch kommen können!“ meinte der Vater bedenklich. „Ich habe mich fortwährend davor geängstigt, weil Ihr Wetterglas auf Sturm stand, Herr Wellborn. Da hat sich dies vielgerühmte Glas einmal gründlich blamiert!“

„Bitte, mein Wetterglas ist vorzüglich,“ widersprach Wellborn eifrig. „Es ist eine ganz neue Art und der Erfinder war ein Genie – das heißt, mein Papa behauptet, er wäre eigentlich ein Lump gewesen. Er wollte uns nämlich eine große technische Erfindung verkaufen und erhielt eine Anzahlung, um noch die letzten Proben zu machen, aber er brannte uns durch mit dem Gelde und mit der ganzen Erfindung. Er hat uns nur das Wetterglas zurückgelassen.“

„Das schon in Triest auf Sturm stand,“ warf der Geheimrat ein.

„Dann wird der Sturm auch kommen, verlassen Sie sich darauf,“ behauptete der junge Mann mit unerschütterlicher Zuversicht. „Aber hoffentlich kommt er erst, wenn wir am Lande sind.“

Die Dame schien sich bei diesem Gespräch zu langweilen, das zeigte der Ausdruck ihres Gesichtes. Sie hatte wieder das Fernglas zur Hand genommen und schaute nach der Küste hinüber, deren Umrisse immer klarer und deutlicher wurden. Sie bemerkte es nicht, daß ein anderer Reisender, der soeben aus der Kajüte heraufgekommen war und jetzt in einiger Entfernung stand, sie und ihren Vater scharf beobachtete; auf einmal trat er an den letzteren heran und verbeugte sich.

„Herr Geheimrat Rottenstein, habe ich die Ehre, noch von Ihnen gekannt zu sein, oder muß ich mich in aller Form vorstellen?“

Rottenstein sah verwundert auf und musterte die kraftvolle Erscheinung des vor ihm Stehenden, der bereits über die Jugend hinaus war. Er blickte in ein von der Sonne tiefgebräuntes Gesicht, mit nicht schönen, aber festen, energischen Zügen und durchdringenden grauen Augen. Das dichte dunkelblonde Haar und der dichte Vollbart gaben dem Manne etwas Fremdartiges, aber er sprach ein vollkommen reines Deutsch.

„Ich bedauere,“ sagte Rottenstein verlegen. „Ich erinnere mich wirklich nicht – mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Fremde lächelte flüchtig und wandte sich zu der jungen Frau.

„Dann darf ich wohl bei Frau Baronin Wilkow noch weniger auf eine Erinnerung hoffen?“

Die Baronin hatte sich bei dem Klange der Stimme mit einer jähen Bewegung umgewendet, ihre Augen begegneten denen des Fragenden, die mit einem eigentümlichen, beinahe finsteren Ausdruck auf ihrem Antlitz hafteten. Sie senkte langsam die Wimpern unter diesem Blick, aber sie erwiderte in kühlem Tone: „Herr Adlau – wenn ich nicht irre.“

Er verneigte sich tief und förmlich.

„Sie irren in der That nicht, gnädige Frau – Robert Adlau.“

„Was, der Robert?“ rief der alte Herr in maßlosem Erstaunen. „Wie in aller Welt kommst du – ich bitte um Verzeihung, wie kommen Sie hierher, Herr Adlau?“

„Bitte, bleiben Sie bei dem Robert,“ sagte Adlau herzlich. „Es klingt mir wie ein Gruß aus der Heimat, die ich lange genug entbehrt habe. Aber Ihre Frage möchte ich Ihnen zurückgeben. Bei mir ist es gerade nicht wunderbar, wenn ich an irgend einem entlegenen Punkte der Welt auftauche, doch wo kommen Sie her?“

„Wir kommen von Triest und wollen nach Korfu.“

„Dann haben wir den gleichen Weg, dahin gehe ich auch, aber ich bin erst in der letzten Nacht an Bord gekommen, als der Dampfer in Brindisi anlegte.“

Es trat ein kurzes Schweigen ein, fast wollte es scheinen, als waltete bei diesem unerwarteten Zusammentreffen irgend ein Zwang vor; aber jetzt mischte sich Herr Wellborn in das Gespräch und bat, dem fremden Herrn vorgestellt zu werden, in dem er so etwas wie einen Weltreisenden witterte. Er stürzte sich deshalb schleunigst auf diese neue Bekanntschaft, die sich nur leider sehr kühl verhielt. Adlau streifte ihn mit einem flüchtigen Blick, nahm die Vorstellung mit einer ziemlich nachlässigen Verbeugung entgegen und sagte gar nichts, während der junge Mann auf ihn einsprach.

„Ich mache gegenwärtig meine erste größere Reise,“ erklärte er. „Ich bin gewissermaßen noch Lehrling in dem höheren Reiseleben, hoffe aber mit der Zeit Meister darin zu werden, wie die Frau Baronin es ist und wie Sie es ohne Zweifel sind, Herr Adlau. Habe ich vielleicht das Vergnügen, einen unserer kühnen Forscher und Entdecker in Ihnen zu begrüßen? Einen Afrikareisenden –“

„Bitte, nichts dergleichen,“ schnitt ihm der andere ohne weiteres das Wort ab.

„Wirklich nicht? Aber Sie sehen so ungemein tropisch aus, und Sie äußerten ja auch vorhin, daß Sie an den entlegensten Punkten der Welt zu finden seien. Wo waren Sie zuletzt, wenn ich fragen darf?“

„In Amerika.“

„O, Amerika! Das kenne ich auch noch nicht, aber ich will später jedenfalls hinüber. Waren Sie in New York, Chicago?“

„So ziemlich überall in dem ganzen Weltteil.“

„Das muß höchst interessant gewesen sein!“

„Je nachdem,“ sagte Adlau trocken. „Es kann unter Umständen auch recht ungemütlich sein. Man entbehrt dort bisweilen die allernotwendigsten Kulturerrungenschaften. Handschuhe z. B. kann man weder beim Goldgraben in Kalifornien noch in den Ranchos von Brasilien tragen.“

„Fatal, aber trotz alledem interessant,“ meinte Herr Wellborn, der sehr enganschließende wildlederne Handschuhe trug und den Spott durchaus nicht merkte. Er fragte unermüdlich weiter, bis Robert Adlau ungeduldig wurde und ihn abschüttelte. Er wandte sich wieder dem Geheimrat zu mit den Worten: „Ich komme soeben vom Rhein, aus unserer gemeinsamen Heimat, und da darf ich wohl nicht versäumen, mich Ihnen als zukünftigen Gutsnachbar vorzustellen.“

„Als was?“ fragte Rottenstein verwundert. „Ich wüßte wirklich nicht –“

„Nun, Sie sind doch Besitzer von Lindenhof, wie man mir sagte.“

[471] „Gewiß, vor fünf Jahren, als ich meinen Abschied nahm, habe ich den hübschen kleinen Landsitz erworben.“

„Das hörte ich zufällig beim Abschluß meines Kaufvertrages; nun, unmittelbar daran grenzt das Gebiet von Brankenberg.“

„Brankenberg? Das haben Sie doch nicht etwa gek–“ dem alten Herrn blieb vor Erstaunen das Wort im Munde stecken.

„Gekauft, allerdings,“ ergänzte Adlau. „Herr von Brankenberg hat sich nur noch eine kurze Frist ausbedungen. Er will erst im November das Schloß räumen und das Gut übergeben, und da ich in der Zwischenzeit doch nichts beginnen konnte, so beschloß ich einen Besuch bei meiner Schwester, die gegenwärtig in Korfu lebt, als Frau unseres dortigen Konsuls.“

Rottenstein sah noch immer aus, als traute er seinen Ohren nicht, aber auch Frau von Wilkow, die sich bisher gar nicht an dem Gespräch beteiligt hatte und kaum zuzuhören schien, wurde aufmerksam. Auch sie streifte den neuen Gutsherrn mit einem höchst erstaunten Blick, indessen äußerte sie nichts darüber, sondern sagte nur: „Wir erfuhren allerdings von Metas Heirat. Sie haben sie ja wohl jahrelang nicht gesehen?“

„Das letzte Mal vor zwölf Jahren, als ich Europa verließ.“

„Das ist allerdings eine lange Zeit.“

„O ja! Lang genug, um in der Heimat vergessen zu werden.“

Die Worte klangen so herb, als läge ihnen eine geheime Bedeutung zu Grunde. Die junge Frau hob den Kopf und schien im Begriff, eine gereizte Antwort zu geben, aber es kam nicht dazu. Der alte Ausdruck von Müdigkeit und Gleichgültigkeit legte sich wieder über ihre Züge und sie erwiderte mit einem leichten Achselzucken: „Das Vergessen pflegt meist gegenseitig zu sein, aber ich finde es recht kühl hier oben, ich werde hinunter in die Kajüte gehen. Du bleibst wohl noch auf dem Deck, Papa?“

Sie neigte flüchtig das Haupt gegen die Herren und ging; gleichzeitig verlor Herr Wellborn auch alle Lust, noch länger auf dem Deck zu bleiben. Er bemächtigte sich eiligst des Fernglases, das die Dame hatte liegen lassen, und trug es ihr nach. Zwischen den beiden Zurückgebliebenen aber wollte kein rechtes Gespräch in Gang kommen, obgleich dies Wiedersehen nach so langer Zeit doch Stoff genug dazu bot. Der alte Herr kämpfte sichtlich mit einer Verlegenheit, deren er nicht Herr zu werden vermochte, und Adlau blickte schweigsam und zerstreut in das Meer hinaus. Auf einmal aber richtete er sich empor, mit einer raschen Bewegung, als würfe er irgend etwas Lastendes von sich.

„Herr Geheimrat, wozu der Zwang zwischen uns beiden! Sind wir uns denn so fremd geworden? Als Sie mich erkannten, sah ich ja, daß Sie mir die alte freundliche Gesinnung bewahrt haben, und ich bin auch der alte geblieben – Ihnen gegenüber.“

„Wirklich, Robert?“ rief Rottenstein, der jetzt zum erstenmal wieder die vertrauliche Anrede gebrauchte. „Das freut mich, freut mich von ganzem Herzen! Ich habe Sie immer gern gehabt, aber Sie waren ja ganz wild damals, als – nun Sie wissen ja, was ich meine. Jetzt ist das hoffentlich vergessen.“

„Vergessen und begraben! Ich hatte anderes zu thun in den letzten zwölf Jahren, als alten Erinnerungen nachzuhängen. Also – auf gute Nachbarschaft zwischen Lindenhof und Brankenberg!“

„Auf gute Nachbarschaft!“ Der alte Herr schlug herzlich in die dargebotene Hand ein, ihm war offenbar ein Stein von der Brust gefallen. Er nahm auf einem Feldstuhl Platz und fing behaglich an zu plaudern.

„Also vor allen Dingen, wie geht es Ihnen, Robert? Doch die Frage, ist eigentlich überflüssig, wer Brankenberg kaufen kann, muß ein reicher Mann sein.“

„Wenigstens kein armer Mann,“ sagte Robert gelassen.

„Aber es ist mir nicht leicht gemacht worden, bis ich dahin kam. Jahrelang hatte ich nichts als Fehlschläge und Enttäuschungen; was ich heute gewann, zerrann morgen, bis es endlich aufwärts ging, und da ging es allerdings schnell, wie alles da drüben. Doch das erzähle ich Ihnen ausführlich, wenn wir im Winter behaglich am Kamin sitzen.“

„Im Winter! Da sitze ich ja in Kairo bei den Pyramiden!“ rief der Geheimrat in kläglichem Tone. „Ich muß ja nach Afrika.“

„Sie müssen? Weshalb denn?“

„Weil Elfriede den Winter in Deutschland nicht aushält. Ich meine, sie könnte als Frau und Witwe füglich allein reisen, aber das will sie durchaus nicht. Unter uns gesagt, Robert, ich mache mir aus diesem vielgepriesenen Orient nicht das geringste. Diese Pyramiden sehen mir schon auf den Bildern so langweilig aus, bei den Mumien wird mir übel und die Kamele kann ich nicht ausstehen. Und nun vollends diese ungemütlichen Bestien, die Löwen und Krokodile –“

„Die kommen nicht nach Kairo,“ warf Adlau ein. „Da müssen Sie schon weit nilaufwärts oder in die Wüste gehen.“

„Aber wir wollen ja bis an die Katarakte!“ rief der alte Herr verzweiflungsvoll. „Und Elfriede will auch in die Wüste, sie will überall hin! Das ist sie noch von ihrem Manne gewohnt, der trieb sich auch am liebsten in der Nähe des Aequators herum, aus Gesundheitsrücksichten, wie er behauptete. Als sie den Baron heiratete –“ er hielt plötzlich inne und blickte etwas unsicher zu seinem Gefährten auf, aber dieser ergänzte ruhig:

„Vor zehn Jahren, ich weiß. Sie sandten mir ja die Verlobungsanzeige.“

„Ja, ich – das heißt, eigentlich hat es meine Frau gethan,“ sagte Rottenstein. „Ich habe mich bei der ganzen Sache neutral verhalten, denn Wilkow war bedeutend älter als meine Tochter und sehr kränklich. Er mußte stets den Winter in den südlichen Kurorten zubringen, deshalb gaben sie auch bald ihren Haushalt in Berlin auf und führten nur noch ein Reiseleben. Das ging von einem Lande in das andere, ohne Rast und Ruhe, sie waren immer auf der Fahrt, bald in Italien, bald in Madeira oder Korfu, schließlich in Aegypten, und dort starb auch mein Schwiegersöhn, vor zwei Jahren. Aber als Elfriede zurückkam – sie brachte die erste Zeit ihrer Witwentrauer bei mir zu – da war nichts mehr übrig von meiner rosigen, lustigen Friedel mit dem neckischen Uebermute und dem hellen Lachen, gar nichts mehr.“

Robert Adlau lehnte mit verschränkten Armen an der Brüstung, an demselben Platze, wo vorhin die bleiche, nervöse Frau gestanden hatte, er hörte mit völlig unbewegter Miene zu und fragte jetzt in kühlem Tone:

„War die Ehe der Frau Baronin keine glückliche?“

„Doch, sie war glücklich; Wilkow trug seine Frau auf Händen und erfüllte ihr jeden Wunsch. Ich glaubte, dies ewige Reiseleben sei ihr nicht gut bekommen, und hoffte, sie würde sich nun endlich Ruhe gönnen, aber daran war nicht zu denken. Kaum daß sie den Sommer in Lindenhof aushielt, im Winter ging es nach Italien und ich – ging mit!“

„Freiwillig oder gepreßt?“

Der alte Herr ließ die Frage unbeantwortet, er seufzte nur aus tiefem Herzensgrunde; plötzlich aber faßte er seinen Nachbar beim Rock und zog ihn näher, während er halblaut fortfuhr:

„Robert, wenn Sie wüßten, was ich ausgestanden habe bei diesen Kunststrapazen, bei diesen Antiken, die nie ein Ende nehmen und immer besichtigt sein wollen! Hätte ich in Rom nicht ein paar Landsleute aufgespürt, die sich abends zu einem kleinen gemütlichen Skat zusammenfanden, ich glaube, ich wäre an all den Galerien und Museen und Antiken zu Grunde gegangen.“

Das Geständnis klang so jämmerlich, daß Adlau laut auflachte.

„Armer Herr Geheimrat! Sie sind gar nicht angelegt für das ‚höhere Reiseleben‘, wie dieser wißbegierige junge Mann mit den engen Handschuhen es nennt.“

„Nein, ganz und gar nicht,“ bestätigte Rottenstein, der immer mitteilsamer wurde. „Ich dankte Gott, als es endlich wieder nach Hause ging. Im Sommer hatte ich Ruhe, da war Elfriede in England und Schottland, zum Besuch bei irgend einer englischen Familie, die sie irgendwo da unten kennengelernt hatte, aber jetzt geht die Plage wieder an. Ich wäre so gern daheim geblieben, in meinem stillen Lindenhof. Sie sollten es nur sehen! Eine hübsche Villa, mit großem Garten und prächtigem Blick auf den Rhein, ein Weingütchen – da wird jetzt geherbstet! – Ich gab meinen Leuten immer ein kleines Fest nach der Traubenlese, da war Tanz und Jubel bis in die Nacht hinein. Und nun –“ hier schlug die wehmütige Stimmung [472] des alten Herrn plötzlich um, er wurde zornig, „nun sitze ich hier in dieser blauen Wasserwüste, unter wildfremden Menschen und soll nach Afrika, in die Wildnis – das halte ich nicht aus!“

„Das brauchen Sie ja auch nicht,“ warf Adlau ein. „Warum weigern Sie sich nicht?“

„Weigern?“ wiederholte der Geheimrat, der diese Zumutung unerhört zu finden schien. „Das versuchen Sie einmal bei meiner Tochter! Sie ist leider sehr nervös und verträgt keinen Widerspruch. Sie wissen freilich nicht, was das bei einer Frau heißt, nervöse Zufälle.“

„Nein, und ich würde sie der meinigen auch bald abgewöhnen.“

„Ja, Sie waren immer so ein Gewaltmensch,“ sagte Rottenstein, „und meine Friedel war ein eigensinniger Starrkopf. Deshalb wäre es auch nicht gut geworden, wenn ihr beide damals – nun runzeln Sie nur nicht so drohend die Stirn, Robert! Ich bin ja ganz Ihrer Meinung, daß wir das ‚Einst‘ vergessen und begraben sein lassen.“

„Ich bitte auch dringend darum!“

Die Bitte ward mit solcher Entschiedenheit ausgesprochen, daß der alte Herr ganz verschüchtert wurde. Er stand auf und meinte, es werde ihm jetzt auch zu kühl, er wolle hinuntergehen in die Kajüte. Robert Adlau blieb allein zurück, aber die finstere Falte stand noch auf seiner Stirn, sie schien nur tiefer zu werden, als er halblaut sagte:

„Also sie ist Witwe! Pah, was geht es mich an! Wir beide sind fertig miteinander, Frau Baronin von Wilkow!“ –

Einige Stunden später landete der Dampfer in Korfu. In unmittelbarer Nähe stiegen die Berge der Insel und des nahen Festlandes auf, sie schienen von allen Seiten aus der Flut emporzuwachsen, ein mächtiger Rahmen für das in südlicher Schönheit leuchtende Landschaftsbild. Immer deutlicher wurden die Häuser und Villen der hellschimmernden Stadt am Ufer, und jetzt stieß ein Schwarm von Booten dort ab, um die Landenden aufzunehmen.

Die Reisenden waren sämtlich auf Deck gekommen, unter ihnen auch Geheimrat Rottenstein mit seiner Tochter und Herr Wellborn, der, das Reisebuch in der Hand, mit unendlicher Wißbegierde jeden Berggipfel und jede Meeresbucht studierte. Einige Schritte entfernt stand Adlau und spähte scharf nach den Booten hinüber, die pfeilschnell und zierlich wie Schwalben über die blaue Meeresfläche dahin schossen, allen voran eine größere Barke, die, von zwei Matrosen gerudert, an ihrer Spitze die deutsche Flagge zeigte. Die Insassen, ein stattlicher Mann und eine noch junge hübsche Frau mit zwei Kindern, schienen gleichfalls an Bord des Dampfers jemand zu suchen. Jetzt flatterte ein weißes Tuch dort und gleich darauf wurden über die Wellen hinweg jubelnde Grüße ausgetauscht.

„Da ist er! Robert! – Willkommen, Schwager!“ und ein freudiges „Grüß Gott! Da bin ich!“ kam von Bord zurück.

Der Dampfer hielt, die Schiffstreppe wurde hinuntergelassen, als das Boot eben anlegen wollte, aber Adlau wartete das nicht ab. Kaum die Stufen berührend, schwang er sich mit einem kühnen Satze hinüber in das kleine Schiff, umfaßte die Schwester, schüttelte dem Schwager die Hand und wandte sich dann zu den Kindern, die dem fremden Onkel freudig die Aermchen entgegenstreckten.

„Dieser Herr aus Amerika scheint sehr wagehalsiger Natur zu sein,“ bemerkte Wellborn, der diese Eigenschaft offenbar nicht besaß. „War das ein Sprung, mit dem er in das Boot hinuntersetzte! Um ein Haar wäre es umgeschlagen und er selbst wäre ins Meer gestürzt. Man soll das Schicksal nie herausfordern, meinen Sie nicht auch, Herr Geheimrat?“

Der alte Herr betrachtete halb teilnehmend, halb neidisch die Familienscene da unten in der Barke.

„Jawohl, der wird empfangen und begrüßt!“ brummte er vor sich hin, „der ist gleich daheim bei seiner Familie, und unsereins muß ins Hotel, wo es natürlich wieder schändliches Essen giebt und Betten, wie – ums Himmels willen, wo ist denn meine Tochter geblieben? Da schreit mich dieser Mensch in drei verschiedenen Sprachen an, von denen ich keine einzige verstehe! Was will er denn? Ich glaube, jetzt spricht der Kerl gar griechisch oder arabisch. Elfriede, so komme mir doch zu Hilfe!“

Der arme Geheimrat, der nur seine Muttersprache redete, stand in der That ganz hilflos vor einem der Kommissionäre der Hotels, die jetzt an Bord kamen, um sich der Reisenden und ihres Gepäcks zu bemächtigen. Er hatte den fremden Herrn vergebens englisch und französisch angeredet und versuchte es nun mit dem Italienischen. Frau von Wilkow war bei jener Begrüßung rasch zurückgetreten, als wollte sie von den Insassen des Bootes nicht gesehen werden, erst auf den Not- und Hilferuf ihres Vaters kam sie herbei und gab dem Dienstbeflissenen die nötigen Befehle.

Im goldigen Scheine der Mittagssonne lag die griechische Insel vor ihnen wie ein fremdartiger Zaubergarten. Ringsum schlossen sich die Berge, bald in sanft geschwungenen Linien, bald in zackigen Gipfeln wie zu einem Kranze, und um sie her wogte und wimmelte das malerisch bunte Treiben des Hafens. Ueberall südliche Farbenpracht und südliches Leben, berauschend für jedes Auge, aber die Augen der jungen Frau blickten so müde, so gleichgültig darauf hin wie vorhin in die ferne Meeresweite, und glitten dann langsam zu jenem Boote mit der lustig wehenden Flagge hinüber, das soeben am Ufer landete.




Im Norden war längst schon der Herbst eingezogen, mit kalten Regengüssen und düsteren Nebeltagen, aber hier in Korfu blaute der Himmel über Myrten- und Lorbeergebüschen und in die weiche, warme Luft des Südens mischte sich der Meereshauch, der ihr eine köstliche Frische gab. Ein Tag glich dem anderen in klarer, wolkenloser Schönheit, und die fremden Gäste, die sich hier zusammenfanden, hatten alle Ursache, mit der Wahl ihres Aufenthaltes zufrieden zu sein.

Das hatte fast drei Wochen gedauert, aber gestern war ein heftiges Gewitter über die Insel hingezogen und hatte böses Wetter hinterlassen. Draußen auf dem Meere herrschte Sturm, an den Bergen hingen dichte Wolkenschleier und der Regen strömte unaufhörlich nieder.

In dem Lesezimmer des Hotels, wo er mit seiner Tochter wohnte, saß Geheimrat Rottenstein. Zum Glück befand sich hier eine deutsche Zeitung, das große rheinische Blatt, das neben der Politik auch allerlei Nachrichten aus der engeren Heimat brachte. Doch das pflegte stets das Heimweh des alten Herrn zu steigern; er gehörte zu jenen Menschen, die sich nur im engen, vertrauten Kreise wohl fühlen, deshalb hatte ihm auch der Aufenthalt in Berlin, wo sein Amt ihn fesselte, nie recht zugesagt.

Als braver Beamter hatte er redlich seine Pflicht gethan, ohne den Ehrgeiz, etwas Besonderes zu leisten, und ohne Neid auf die anderen, jüngeren, die ihn überholten. Als sein Dienstalter ihm eine ausreichende Pension sicherte, hatte er den Abschied genommen und war sehr gerührt und dankbar, als der Staat seine Pflichttreue durch Verleihung des Geheimratstitels anerkannte. Ein hübsches Vermögen, das ihm erst in den letzten Jahren durch Erbschaft zugefallen war, ermöglichte ihm den Ankauf eines Landgutes, wo er sein Alter in Ruhe zu verleben dachte, und einige Jahre lang gab es in der That keinen glücklicheren und zufriedeneren Menschen als den Besitzer von Lindenhof.

Aber das ging zu Ende, als seine Tochter zurückkehrte und vorläufig bei ihm ihren Aufenthalt nahm. Sie hatte es verlernt, in der Heimat auszuhalten, und riß den Vater mit hinein in ihr unstetes, unruhiges Reiseleben. Da sie als Witwe über ein bedeutendes Einkommen verfügte, so konnte sie unbeschränkt ihren Neigungen folgen, und Rottenstein war viel zu schwach, um seinem einzigen Kinde, das er zärtlich liebte, einen entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen, obgleich er bisweilen den Versuch dazu machte. Er gab immer wieder nach, aber da er weder Sinn für landschaftliche Schönheiten noch für Kunstgenüsse besaß, fühlte er sich äußerst unbehaglich in der Fremde und kam sich inmitten all der Pracht des Südens wie ein Verbannter vor.

Ihm gegenüber, an der anderen Seite des Tisches, saß Herr Wellborn, der sich gerade in der entgegengesetzten Lage befand: er war mit sich und aller Welt zufrieden. Aus den drei Tagen, die er anfangs in Korfu zubringen wollte, waren [474] nun bereits drei Wochen geworden und sein Entschluß stand fest, nicht eher abzureisen, als bis Frau von Wilkow mit ihrem Vater die Insel verließ, um sich ihnen dann selbstverständlich für die Fahrt nach Aegypten anzuschließen. Seiner Auffassung nach gehörte zu dem „höheren Reiseleben“ notwendig immer etwas Roman, er hatte sich daher schleunigst in die junge Witwe verliebt und erschöpfte sich in Aufmerksamkeiten, die zwar ziemlich kühl aufgenommen, aber doch wenigstens nicht zurückgewiesen wurden.

Auch „dieser Herr aus Amerika“ erwies sich als eine äußerst schätzbare Bekanntschaft, obgleich es nicht zu leugnen war, daß er sich bisweilen etwas schroff benahm gegen den jungen Reisegefährten, der seinerseits die Höflichkeit selbst war. Aber diese hinterwäldlerischen Manieren mußte man dem Manne hingehen lassen, der so lange außerhalb der Kultur gelebt hatte und sich offenbar nicht so schnell wieder hineinfinden konnte.

Jedenfalls hielt es Herrn Wellborn nicht ab, dem „Hinterwäldler“, der natürlich bei seinem Schwager, dem Konsul, wohnte, einen Besuch zu machen und die Einladungen des gastfreien Hausherrn anzunehmen. Dort lernte man die ganze Gesellschaft der Stadt kennen, und der Verkehr in dem großen Hotel, dessen Gäste aus allen Ecken und Enden der Welt stammten, war gleichfalls höchst anregend und interessant – kurz, der junge Mann schwamm und plätscherte im Strome des Reiselebens wie der Fisch im Wasser.

Da es noch früh am Vormittage war, so befand sich außer den beiden Herren niemand im Lesezimmer. Eine ganze Weile lang herrschte Schweigen, dann legte Wellborn die Zeitung nieder und bemerkte mit einem gewissen Nachdruck:

„Es regnet!“

Er hätte nicht nötig gehabt, diese Thatsache erst festzustellen, denn der Regen schlug prasselnd gegen die Fenster. Jetzt blickte auch Rottenstein von seiner Zeitung auf und bestätigte im Tone tiefster Befriedigung:

„Ja, es regnet! Endlich einmal – Gott sei Dank!“

„Aber Herr Geheimrat, das klingt ja, als freuten Sie sich darüber,“ sagte der junge Mann vorwurfsvoll. „Alle Welt ist verzweifelt, denn bei diesem Wetter ist natürlich nicht an einen Ausflug zu denken.“

„Eben deshalb – da hat man endlich einmal Ruhe. Sonst geht es ja Tag für Tag hinaus nach allen möglichen Orten, wo doch immer nur dasselbe zu sehen ist, blitzblaues Meer und graue Olivenwälder, eins so langweilig wie das andere. Ich wollte, es regnete so weiter, acht Tage lang!“

Mit diesem frommen Wunsche lehnte sich der alte Herr behaglich zurück und blickte mit einer gewissen Zärtlichkeit in die strömende Regenflut.

Wellborn schüttelte den Kopf über diese Anschauung und zog sein Wetterglas zu Rate, das er mitgenommen hatte, und von dem er sich überhaupt nur selten trennte. Es war ein merkwürdiges Ding, das schon in der Form von allen anderen abwich, steckte in einem noch merkwürdigeren Gehäuse und wies eine Menge sibyllinischer Zahlen und Zeichen auf, deren Bedeutung wahrscheinlich nur der Erfinder und der glückliche Besitzer kannten. Leider hatte es die für ein Wetterglas etwas bedenkliche Eigenschaft, sich stets im Widerspruch mit dem Wetter zu befinden, und das war auch heute der Fall.

„Wie steht denn das Glas?“ fragte der Geheimrat nach einer Pause.

„Ausgezeichnet! Wir werden am Nachmittage herrliches Wetter haben.“

Rottenstein zuckte ungläubig die Achseln. „Das haben Sie gestern auch gesagt, als ich nicht mitfahren wollte. Ich traute gleich den Wolken nicht, die da so urplötzlich am Monte Salvatore aufstiegen, aber Sie garantierten uns ja Sonnenschein und dann faßte uns das Gewitter, mitten in den Bergen, im offenen Wagen. Ganz durchweicht kamen wir zurück, und heute meldet sich natürlich mein Rheumatismus wieder. Dafür habe ich mich bei Ihrem berühmten Glas zu bedanken!“

„Aber Herr Geheimrat!“ Der junge Mann nahm eine gekränkte Miene an, „wie können Sie nur das unschuldige Glas für dies gänzlich unmotivierte Gewitter verantwortlich machen! Auf dieser Insel herrschen abnorme Witterungszustände, mit denen nicht zu rechnen ist. Als wir damals abreisten, in Triest –“

„Stand Ihr Barometer auf Sturm – jawohl, und wir haben drei Wochen lang Prachtwetter gehabt.“

„Das kam von der Seereise,“ behauptete Wellborn. jetzt aber lachte der alte Herr laut auf.

„Nun verträgt das Ding gar die Seefahrt nicht! Ist es vielleicht seekrank geworden?“

Wellborn war tief beleidigt, er hob sein Glas hoch empor und begann dessen Vorzüge ausführlich auseinanderzusetzen, wurde aber darin durch den Eintritt Robert Adlaus unterbrochen, der den Geheimrat begrüßte, ohne viel Notiz von dem jungen Manne zu nehmen.

„Ich komme eigentlick, um Ihnen zu sagen, daß ich in der nächsten Woche abreise,“ wandte er sich an den Geheimrat. „Ich gehe mit dem Dampfer nach Triest und von da ohne Aufenthalt nach Hause.“

„Sie wollen fort? So bald schon?“ rief der Geheimrat fast erschrocken.

„So bald? Ich bin lange genug hier gewesen. Meta und mein Schwager wollen mich zwar durchaus nicht fortlassen, aber es bleibt dabei, ich reise.“

„Meta ist eben bei meiner Tochter,“ sagte Rottenstein. „Ah, Sie wußten das nicht? Nun jedenfalls kommen Sie doch mit hinauf und fahren dann mit Ihrer Schwester nach Hause. Sie hat den Wagen zum Abholen bestellt.“

Adlau zögerte einige Sekunden, ehe er die Einladung annahm, dann aber sagte er kurz:

„Das wird wohl bei diesem Wetter das Beste sein. Also gehen wir!“

Die drei Herren brachen auf, denn auch Wellborn benutzte die Gelegenheit, sich anzuschließen. Er hatte die gnädige Frau heute noch nicht gesehen und mußte sich notgedrungen nach ihrem Befinden erkundigen. Möglicherweise hatte ihr die gestrige Regenpartie eine Erkältung zugezogen, die Frau Baronin war eine äußerst zarte Natur und der Süden schützte durchaus nicht vor katarrhalischen Zuständen, aber hoffentlich … so schwatzte er unausgesetzt weiter, und es störte ihn gar nicht, daß niemand zuhörte, er war dergleichen schon gewohnt.

In dem Salon, der die Zimmer der Frau von Wilkow und ihres Vaters trennte und zu ihrer Wohnung gehörte, hatten unterdessen die Damen eine lebhafte Unterhaltung geführt, die Glasthüren waren fest geschlossen. Sonst hatte man vom Balkon aus eine prächtige Aussicht über den Hafen, über den Meeresarm, der die Insel vom Festlande schied, und die jenseitigen Berge; aber heute verschwand das alles in grauer Nebel- und Regenflut.

Auf dem Eckdiwan saßen die beiden jungen Frauen, die zusammen aufgewachsen waren in der sonnigen Rheinstadt, wo Rottenstein mit den Seinigen gelebt hatte, bis er nach Berlin versetzt wurde. Freilich hatte die einstige Mädchenfreundschaft nicht jene Entfremdung überdauert, die später zwischen den beiden Familien eintrat und schließlich jedem Verkehr ein Ende machte. Aber jetzt, nach vollen zehn Jahren, als man sich so unvermutet wiederfand, waren die zerrissenen Fäden wieder angeknüpft und hier wenigstens die alte Vertraulichkeit wiederhergestellt worden.

Frau Meta Rahnsdorf, eine hübsche, zierliche Blondine, ungemein lebhaft in Sprache und Bewegungen, war nur zwei Jahre jünger als Elfriede von Wilkow; sie unterhielt heiter die Freundin, während jene, den Kopf in die Hand gestützt, meistenteils zuhörte. Jetzt aber fragte sie, ohne ihre Stellung zu verändern:

„Also du bist glücklich in deiner Ehe, Meta? Wirklich glücklich?“

Die kleine Frau, der das Glück nur so aus den blauen Augen lachte, fuhr in komischer Entrüstung auf.

„Hör’, Elfriede, die Frage ist eigentlich eine Beleidigung für meinen Mann. Denkst du, er verstände es nicht, mich glücklich zu machen? Er hat es meinem Vater hoch und teuer versprochen, als er mich fortführte in das fremde Land, und er hielt Wort. Trotz alledem hatte ich arg mit dem Heimweh zu [475] kämpfen in der ersten Zeit, wenn ich es auch meinem Fritz nicht zeigen wollte, aber dann kamen die Kinder –“

„Die Kinder!“ wiederholte Elfriede leise.

„Sind sie nicht herzig alle beide, der Bub und das Mädel?“ fragte die Mutter mit strahlenden Augen. „Ja, wenn solch kleines Volk erst anfängt im Hause zu krähen und herumzutappen, dann hat man an anderes zu denken als an die ferne Heimat! Du weißt das freilich nicht, deine Ehe ist ja kinderlos gewesen.“

„Ja – Gott sei Dank!“

Die Worte klangen so schroff, so seltsam bitter, daß Meta fast erschrocken aufblickte.

„Aber, Elfriede!“

Elfriede preßte die Lippen zusammen, als sei ihr die Antwort wider Willen entfahren. „Das heißt – du darfst mich nicht mißverstehen. Ich meine nur, in diesem Falle hätten wir unser Reiseleben aufgeben müssen, und Wilkows Gesundheit forderte den Aufenthalt in einem südlichen Klima, er ertrug den Norden nicht.“

Sie sprach wieder im gleichgültigsten Tone. Die kleine Frau Konsul besaß noch nicht viel Menschenkenntnis, sonst hätte die tiefe Bitterkeit des so jäh hervorbrechenden Ausrufs ihr doch vielleicht zu denken gegeben, so aber sagte sie nach einiger Zeit unbefangen, wenn auch etwas zögernd: „Willst du mir noch immer nicht sagen, was das damals zwischen dir und Robert gewesen ist?“

Elfriede richtete sich heftig empor, man hätte es ihren müden, dunklen Augen gar nicht zugetraut, daß sie noch so aufblitzen konnten wie jetzt, wo sie sich mit einer beinahe zornigen Bewegung frei machte.

„Was quälst du mich mit diesen Fragen? Ich habe dich doch gebeten, mich damit zu verschonen!“

„Ja, du machst es gerade so wie Robert!“ sagte die kleine Frau, mehr erstaunt als beleidigt über diese Zurückweisung. „Der wird auch immer gleich wütend, wenn ich davon anfange, und setzt eine Miene auf, daß ich schleunigst aufhöre. Aber du könntest mir doch beichten, wir sind doch Jugendfreundinnen. Freilich, ich wurde von euch beiden immer noch als Kind behandelt, weil ich ein paar Jahre jünger war als du, mir wurde nie etwas anvertraut. Aber so klug war ich doch, zu merken, daß die Sache zwischen euch nicht richtig war.“

Elfriede machte eine Bewegung der äußersten Ungeduld, es schien, als wollte sie um jeden Preis dies Gespräch abbrechen, aber Meta hielt es hartnäckig fest, sie plauderte weiter.

„Als die Nachricht deiner Verlobung aus Berlin kam – Robert war ja damals schon in Amerika – konnte ich mir die Sache nicht zusammenreimen; doch du schriebst mir seit jener Zeit überhaupt nicht mehr und Robert schwieg hartnäckig auf jede briefliche Frage. Ich habe mir damals oft genug den Kopf darüber zerbrochen.“

„Du hättest dir dein blondes Köpfchen über etwas Besseres zerbrechen sollen,“ sagte Elfriede kalt. „Das war wirklich nicht der Mühe wert.“

„Nicht? Nun, weshalb seid ihr beide denn so gereizt bei der bloßen Erinnerung?“

„Weil es nicht angenehm ist, an Kindereien erinnert zu werden, die längst vergessen sind. Du solltest das mir und deinem Bruder wirklich ersparen.“

Das klang noch immer sehr ärgerlich. Die kleine Frau schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie fand indessen keine Zeit zu weiteren Fragen, denn jetzt wurde die Thür des Salons geöffnet und man hörte Herrn Wellborn draußen bereits schwatzen, ehe noch jemand sich zeigte. Er ließ zwar den beiden anderen Herren den Vortritt, eilte dann aber schleunigst zu der Baronin, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und ihr den bereitgehaltenen Strauß blühender Rosen zu überreichen. Er sprach die ganze Litanei seiner Befürchtungen in Bezug auf ihr Befinden nochmals herunter und beglückte dann, nach der beruhigenden Versicherung der Baronin, daß sie ganz wohl sei, Frau Konsul Rahnsdorf mit seiner Unterhaltung.

„Hast du es schon gehört, Elfriede, daß Robert in der nächsten Woche fort will?“ wandte sich der Geheimrat an seine Tochter.

Elfriede hob die Augen, ein rascher fragender Blick glitt zu Adlau hinüber, dann aber sagte sie mit höflich kühlem Bedauern:

„Sie wollen Korfu schon wieder verlassen, Herr Adlau. Ist denn Meta damit einverstanden?“

„Der Bösewicht ist ja nicht länger zu halten,“ schmollte Meta. „Fritz und ich haben alles mögliche aufgeboten, aber er thut, als brenne ihm der Boden hier unter den Füßen.“

„Ich muß fort, Meta,“ sagte der Bruder bestimmt. „Die Zeit der Uebergabe von Brankenberg rückt heran und ich habe noch manches vorzubereiten. Ueberdies habt ihr mir ja im nächsten Sommer einen Besuch versprochen. Es bleibt dabei, ich reise am nächsten Mittwoch, und Mitte November hoffe ich, meinen Einzug in Brankenberg zu halten.“

„Mitte November?“ wiederholte der Geheimrat mit einem wehmütig fragenden Blick auf seine Tochter. „Dann sind wir ja wohl in Aegypten?“

„Gewiß, Papa, du weißt es ja, wir gehen direkt von hier nach Kairo.“

„O Kairo! Die Pyramiden!“ rief Wellborn begeistert. „Sie müssen mit hinauf, Herr Geheimrat! Auf diesen Riesendenkmalen der Vergangenheit zu stehen, das ist so erhebend!“

„Und so unbequem!“ seufzte der Geheimrat, aber der Begeisterte ließ sich nicht stören: „Und dann die Kamele, darauf freue ich mich ganz besonders. Wir werden Wüstenritte unternehmen, wir werden uns tragen lassen von diesem Schiff der Wüste –“

„Hören Sie auf, um Gottes willen!“ unterbrach ihn der alte Herr verzweiflungsvoll. „Was mich betrifft – ich möchte am liebsten –“

„Was möchtest du lieber, Papa?“

Die Frage klang sehr ruhig, aber der Herr Papa, der so vollständig unter dem Kommando seiner Frau Tochter stand, kannte den Ton. Er hätte sich beinahe zu dem Geständnis aufgeschwungen, daß er weit lieber mit Adlau die Rückreise antreten würde, jetzt aber lenkte er schleunigst ein.

„Ich meine nur, daß ich eigentlich doch ein wenig zu alt bin für solche Reisen.“

„Aber Papa, du bist ja von einer beneidenswerten Rüstigkeit und nimmst es noch mit all den Jüngeren auf! Du liebst nur etwas zu sehr die Bequemlichkeit, aber man darf solcher Schwäche nicht nachgeben. Es war ein Glück, daß ich noch rechtzeitig eingriff, denn du warst auf dem besten Wege, in deinem einsamen Lindenhof vollständig zu versumpfen.“

Das hieß den alten Herrn aber an seiner empfindlichsten Stelle treffen, einen Spott über seinen geliebten Lindenhof ertrug er nicht.

„Ich werde mit sechzig Jahren doch wohl das Recht haben, zu ‚versumpfen‘!“ sagte er beinahe zornig. „Ich habe mich übrigens sehr wohl bei dieser Versumpfung befunden.“

„Das Recht kann Ihnen niemand bestreiten,“ stimmte Adlau bei. „Uebrigens würden Sie jetzt Gesellschaft dabei haben, denn ich denke mich in Brankenberg ja ebenfalls dieser angenehmen Beschäftigung hinzugeben.“

Elfriede biß sich auf die Lippen, sie fühlte den Seitenhieb, der ihr galt, aber sie lächelte und zuckte nur leicht die Achseln bei der Antwort:

„Ich werde den Papa noch vor Ihnen hüten müssen, Herr Adlau, Sie stiften ihn ja förmlich zur Rebellion an! Zum Glück habe ich sein Versprechen, und er liebt mich viel zu sehr, um mich allein reisen zu lassen. Nicht wahr, Papa?“

Der arme Geheimrat sah gar nicht nach Rebellion aus, und der Appell an seine Vaterliebe stimmte ihn nun vollends weichmütig. Er warf einen Blick auf seine Tochter, die in der That heute bleich und angegriffen aussah, und faltete dann ergeben die Hände.

„Gewiß, mein Kind. Also in Gottes Namen – gehen wir nach Aegypten! Und wenn Sie nach Brankenberg kommen, Robert, dann grüßen Sie mir auch mein liebes kleines Heim, es liegt Ihnen ja gerade vor Augen!“

„Merkwürdig, daß Herr Adlau gerade jetzt nach dem Norden will,“ mischte sich Wellborn in das Gespräch. „Der November und Dezember pflegt ja dort gräßlich zu sein. Weshalb eilen Sie denn so mit der Abreise?“

[476] „Weil in diesem ‚gräßlichen Norden‘ Arbeit und Pflichten auf mich warten, Herr Wellborn. Wer kümmert sich denn eigentlich um Ihre Fabrik, während Sie in Aegypten sind?“

„O, das thut mein Direktor, ein sehr tüchtiger Mann, der schon unter meinem Vater alles leitete. Er kann mir ja seine Berichte nachschicken.“

Der junge Mann setzte nun seine völlige Ueberflüssigkeit in seiner eigenen Fabrik mit einer beneidenswerten Harmlosigkeit auseinander. Meta verbarg mühsam das Lachen und ihr Bruder sagte mit unverhohlenem Spott: „Ihr Direktor wird die Berichte wahrscheinlich gar nicht für nötig halten, er würde Sie ja nur damit stören. Mir wäre übrigens mit solchen ‚verständnisvollen‘ Beamten nicht gedient. Ich will mein Reich selbst regieren.“

„Es wird Ihnen noch zu schaffen machen, Robert, dies Reich,“ sagte der Geheimrat. „Es hieß in der ganzen Umgegend, Brankenberg müßte verkauft werden, um die Familie vor dem gänzlichen Ruin zu retten, und in der letzten Zeit sei es in der Wirtschaft drunter und drüber gegangen. Man hörte da arge Dinge.“

„Ich weiß,“ versetzte Robert ruhig. „Eine ganz tolle Wirtschaft, ohne Sinn und Verstand! Von den reichen Hilfsquellen des Gutes scheint kein Mensch eine Ahnung gehabt zu haben. Ich wußte genau Bescheid, als ich den Kauf abschloß, und habe auch nur den entsprechenden Preis gezahlt. Da heißt es, von Grund aus Ordnung schaffen, und das wird Zeit und Arbeit kosten, aber gleichviel – es ist etwas zu machen aus Brankenberg.“

„Mein Gott, weshalb legen Sie sich denn aber eine solche Last auf?“ warf Frau von Wilkow nachlässig ein. „Es giebt doch sicher Güter mit geordneten Verhältnissen, gerade in unserer Rheingegend.“

„Gewiß, aber ich hatte keine Lust, mich in ein warmes, bequemes Nest zu setzen, wo alles schon gethan ist. Ich muß schaffen, aufbauen können, muß Freude haben an dem Werdenden und Gewordenen, das ist für mich – doch Verzeihung, gnädige Frau, ich langweile Sie da mit Dingen, die Ihnen ganz fern liegen!“

„Warum gerade mir?“ fragte Elfriede, gereizt durch die scharfe Betonung jenes Wortes.

„Weil Sie Ihr Leben in ganz andere Bahnen gelenkt haben, mit vollem Rechte,“ sagte Adlau mit einer Artigkeit, die nur mit dem Ausdruck seiner Augen nicht recht stimmen wollte. „Wer sich an die Arbeit gewöhnt hat wie ich, den läßt die Gewohnheit nicht los, auch wenn die Notwendigkeit zur Arbeit vorüber ist.“

„Haben Sie das denn an sich selbst erfahren?“ fragte Wellborn mit naiver Verwunderung. „Ich glaubte immer, Sie seien zu Ihrem Vergnügen in Amerika gewesen und hätten als Tourist den Weltteil durchstreift.“

„Da sind Sie leider im Irrtum gewesen, Herr Wellborn. Ich hatte nicht das Glück, als Erbe eines reichen Fabrikherrn geboren zu werden, ich bin mit meiner Schwester in einem Pfarrhause aufgewachsen, und ein deutscher Pastor pflegt gewöhnlich keine Schätze aufzuhäufen. Mein Vater gab mir seinen Segen mit, als ich in die Welt hinausging, weiter konnte er mir nichts geben, aber schließlich bin ich damit und mit der eigenen Kraft doch ziemlich weit gekommen. Im Anfange freilich habe ich es oft genug fühlen müssen, daß ich ein armer Teufel war und als solcher gar kein Recht auf das Glück hatte; es wurde mir ziemlich schonungslos klar gemacht, daß das nur für die Reichen und Vornehmen da war. Ja, man muß bisweilen hartes Lehrgeld zahlen – da drüben in Amerika, meine ich.“

Der Geheimrat räusperte sich, er fand, daß die Unterhaltung eine etwas bedenkliche Wendung nahm, und wollte eben eingreifen, als zu seiner großen Erleichterung der Wagen der Frau Konsul gemeldet wurde. Damit nahm der Besuch ein Ende, Meta brach mit ihrem Bruder auf und auch Herr Wellborn empfahl sich, mit der Versicherung, daß am Nachmittage herrliches Wetter sein und daß er sich dann gestatten werde, wegen einer Spazierfahrt anzufragen.

Elfriede war an das Fenster getreten, um der Freundin nachzusehen, aber der Wagen war längst fort und sie stand noch immer, die Stirn gegen die Scheiben gelehnt, ohne sich zu regen. Auch ihr Vater, der auf dem Sofa Platz genommen hatte, schwieg einige Minuten lang, endlich sagte er:

„Robert kann bisweilen recht ungemütlich werden in seinen Anspielungen. Ein Glück, daß die anderen beiden sie nicht verstanden, auch Meta Rahnsdorf scheint nicht eingeweiht zu sein.“

Frau von Wilkow antwortete nicht, sie blickte noch immer hinaus in den strömenden Regen, während der Geheimrat fortfuhr:

„Und du legst es manchmal geradezu darauf an, ihn zu reizen. Wenn ihr beide zusammen seid, steht man immer wie unter einer Gewitterwolke, die jeden Augenblick losbrechen kann. Für diesmal trennen wir uns ja bald wieder, aber wie soll das werden, wenn wir nach Hause kommen, wo Robert unser nächster Gutsnachbar ist?“

Elfriede wandte sich langsam um, sie war auffallend bleich und ihre Lippen zuckten, als sie erwiderte:

„Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen, Papa. Ich werde Lindenhof nicht wieder betreten, nun ich weiß, daß Rob –, daß Herr Adlau in Brankenberg leben wird.“

Der alte Herr fuhr förmlich entsetzt aus seiner Sofaecke empor, denn das Gespenst eines ewigen Herumwanderns tauchte drohend vor ihm auf.

„Aber ich bitte dich, Elfriede!“

„Nie wieder!“ wiederholte sie mit scharfem Nachdruck.

„Und auch hier, Papa, hättest du Adlau vermeiden sollen, vermeiden müssen! Statt dessen suchst du ihn förmlich auf, ihr verkehrt ja fortwährend miteinander, und du hast ihm die Hand geboten, als ob gar nichts geschehen wäre!“

„Nein, er war es, der mir die Hand bot, schon bei unserer ersten Begegnung,“ erklärte Rottenstein, nun auch seinerseits mit einigem Nachdruck. „Und das hätte ein anderer nicht gethan, denn er war es, dem damals Unrecht geschah!“

Die junge Frau war an den Tisch getreten und zog einige Rosen aus dem Strauße, den Wellborn ihr vorhin überreicht hatte. Ihr Antlitz trug wieder den müden, gleichgültigen Ausdruck, der ihm sonst eigen war, aber ihre Hand zerpflückte in nervöser Aufregung die Blumen.

„Das heißt mit anderen Worten: ich habe ihm Unrecht gethan! Gehst du in deiner blinden Vorliebe für diesen Mann so weit, Partei für ihn zu nehmen gegen die eigene Tochter? Freilich, das hast du ja schon damals gethan!“

„Ich habe gar nichts gethan,“ sagte der alte Herr sehr offenherzig. „Deine verstorbene Mama hatte die Sache in die Hand genommen. Ich wurde gar nicht gefragt –“

„Und Mama hatte recht,“ fiel Elfriede ein. „Auf die Art, wie Adlau sich damals benahm, als er von jener anderen Werbung erfuhr, gab es nur eine Antwort – meine Verlobung mit Wilkow.“

„Nun schmeichelhaft war das gerade nicht für Wilkow,“ meinte der Geheimrat, in dem sich heute ein ganz ungewöhnlicher Geist des Widerspruchs regte. „Er hat es freilich nie erfahren, wie diese Verlobung eigentlich zu stande kam. Die Mama wollte dich ja durchaus als Baronin Wilkow, als reiche Frau sehen, und wenn deine liebe Mama sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann setzte sie es auch durch! Robert hat sich freilich wie ein Toller benommen. Das ist wahr, aber es ist ihm auch toll mitgespielt worden, und er liebte dich eben. Der arme Junge hat mir damals in der Seele leid gethan!“

Elfriede zerpflückte mechanisch die letzten Rosen aus dem Strauß, aber bei den letzten Worten des Vaters stieg eine dunkle Glut in ihrem Antlitz empor, und sie hielt die Augen gesenkt, als sie mit halb erstickter Stimme wiederholte:

„Er hat dir leid gethan! Ich nicht – und ich habe doch auch gelitten in jener Zeit!“

Rottenstein richtete die ehrlichen, blauen Augen fest auf sie, es stand ein stummer Vorwurf darin.

„Nun, du bekamst ja deinen Willen! Ob Wilkow gerade der rechte Mann für dich war, das ist eine andere Frage. Du hast freilich immer behauptet, du wärest sehr glücklich mit ihm gewesen, aber ich habe nie recht an dies große Glück geglaubt. Dein Aussehen und dein ganzes Wesen waren nicht danach.“

„Da bist du im Irrtum gewesen, Papa – ganz im [478] Irrtum!“ Die Stimme der jungen Frau klang halb erstickt bei dieser Versicherung. „Du warst überhaupt immer ungerecht gegen Wilkow, er war eine durchaus vornehme Natur.“

„Vornehm! Das bestreite ich gar nicht. Er war es sogar gegen seine Schwiegereltern; und dabei hat er mit aller Artigkeit oft genug den Herrn Baron gegen uns herausgekehrt. Dich mag er ja auf Händen getragen haben, es sah wenigstens so aus, aber mir wäre der Robert mit all seiner Schroffheit, mit seiner stürmischen, rücksichtslosen, aber durch und durch gesunden Natur lieber gewesen als dein höflicher, kühler, vornehmer Herr Gemahl mit seiner ästhetischen Bildung. Nimm’s mir nicht übel, Elfriede, aber ich habe ihn immer recht langweilig gefunden, und du wahrscheinlich auch, sonst hättest du nicht in dies ruhelose, unsinnige Reiseleben gewilligt. Du hast eben draußen in der Welt gesucht, was du in deiner Ehe nicht fandest, und da draußen hast du es auch nicht gefunden!“

Nach dieser unerhörten Redeleistung setzte sich der alte Herr mit einem hörbaren Ruck wieder zurecht in seiner Sofaecke. Er empfand es als eine förmliche Heldenthat, seiner Frau Tochter endlich einmal die Wahrheit gesagt zu haben, und ihr maßloses Erstaunen darüber schmeichelte ihm sogar. O ja, er konnte auch etwas leisten, besonders wenn Robert Adlau ins Spiel kam, der schon als Knabe sein Liebling gewesen war!

Elfriede mochte das fühlen, und das reizte sie nur noch mehr. Sie zerdrückte krampfhaft die schon halb vernichteten Rosen vollends in der Hand und warf sie dann auf den Boden. Die Bewegung hatte durchaus nichts mehr von Müdigkeit oder Gleichgültigkeit, sie war im Gegenteil höchst energisch.

„Ich erkenne dich ja gar nicht wieder, Papa,“ sagte sie im herbsten Tone. „Du bist sonst die Rücksicht selbst, und heute sagst du mir die verletzendsten Dinge ins Gesicht, erinnerst mich schonungslos an jene Zeit, wo ich noch ein halbes Kind war –“

„Ja, das warst du!“ unterbrach sie der Vater. „Und deshalb hätte ich damals eingreifen müssen. Ich wußte es ja, auf welcher Seite dein Herz war, aber das Eingreifen hat deine liebe Mama immer ganz allein besorgt. Jetzt aber sage ich dir, Friedel, gerade ein solcher Mann wie Robert hätte dir gefehlt – und mir,“ schloß er in rührender Selbsterkenntnis.

Das war zu viel für die schon überreizten Nerven der jungen Frau. Sie fand keine Erwiderung, aber sie warf sich in einen Sessel, brach in Thränen aus und kämpfte mit einem Ohnmachtsanfall.

Der Geheimrat hegte sonst einen unbedingten Respekt vor diesen Nervenzufällen; er pflegte bei ihrem Eintritt stets nach Kölnischem Wasser zu stürzen und Abbitte zu leisten für Dinge, die er gar nicht begangen hatte. Aber heute verfing auch das nicht bei ihm. Er war nun einmal ins Rebellieren geraten, und da ihm dies zu seiner eigenen Verwunderung so ausgezeichnet glückte, fing er an, sich darin zu gefallen. Anstatt Beruhigungsversuche anzustellen, blieb er sitzen und sagte ganz gelassen:

„Ja, nun weinst du wieder. Das solltest du dir abgewöhnen, Friedel! Robert sagt, er würde seiner Frau die Nervenzufälle sofort abgewöhnen – und ich glaube, er ist der Mann dazu!“

Die Worte hatten eine ungeahnte Wirkung. Die Thränen versiegten plötzlich, und Elfriede sprang auf. Flammendrot im Gesicht, mit sprühenden Augen; ihr ganzes Wesen schien sich aufzubäumen in leidenschaftlicher Heftigkeit, und außer sich rief sie:

„Robert und immer nur Robert! Für dich scheint es überhaupt gar nichts anderes mehr zu geben auf der Welt. Ich will aber diesen Namen nicht mehr hören! Ich will überhaupt nichts mehr hören von der Vergangenheit! Sie ist tot für mich!“

Damit eilte sie stürmisch in das Nebenzimmer und schlug die Thür hinter sich zu, den Vater allein lassend, der durch diesen Ausbruch gar nicht aus der Fassung gebracht wurde. Um seine Lippen spielte im Gegenteil ein zufriedenes Lächeln, als er ihr nachblickte.

„Ganz meine alte Friedel! Nun, wenn der Trotz und der Eigenwille erst wieder da sind, dann wird auch wohl das Lachen wiederkommen. Also ‚tot‘ ist die Vergangenheit für sie, und für den Robert ist sie ‚begraben und vergessen‘? Die beiden stellen sich doch etwas merkwürdig an bei dem ‚Totsein‘ und ‚Vergessen‘! Ich glaube, wenn sie einmal allein wären, so Auge in Auge, dann –“

Er brach ab und versank in Gedanken. Der alte brave Herr, dem nichts auf der Welt so zuwider war wie Intriguen, der sich in seiner langen, ehrenwerten Laufbahn nie so etwas hatte zu schulden kommen lassen, er spann jetzt eine ganz regelrechte Intrigue, vorläufig noch im Kopfe, aber als er damit fertig war, stand er auf und sagte mit hohem Selbstgefühl:

„Jetzt werde ich auch einmal eingreifen! Wofür bin ich denn Vater und Geheimrat!“

[502] Die Sonne brannte heiß nieder auf den steilen, schattenlosen Felspfad, den die Maultiere langsam erstiegen. Drei Tage lang hatte der Sturm angehalten und die sonnige griechische Insel war gar nicht wiederzuerkennen gewesen, mit der schäumenden See ringsum und den flatternden Nebelschleiern an den Bergen. Jetzt aber war es wieder ruhig geworden auf dem Meere wie in den Lüften, und die Landschaft ringsum zeigte sich in der alten, leuchtenden Pracht.

Die kleine Gesellschaft, die auf dem Wege zu einem vielgerühmten, aber etwas entfernten Aussichtspunkte war, hatte sich in zwei Gruppen geschieden; voran ritt Frau von Wilkow mit Herrn Wellborn, und in einiger Entfernung folgten Robert Adlau und Geheimrat Rottenstein. Der letztere parlamentierte fortwährend mit dem Führer, der zum Glück etwas Deutsch verstand und das Tier am Zügel leitete. Er empfahl ihm immer wieder von neuem, es ja nicht loszulassen und vor allen Dingen zu verhüten, daß es durchgehe.

„Auf solchem Wege geht kein Maultier durch,“ sagte Adlau, der unmittelbar vor ihm ritt. „Es hat genug mit dem Klettern zu thun, aber da oben liegt ja schon das kleine Bergnest, in einer halben Stunde werden wir dort sein!“

„Das thut auch not,“ meinte der alte Herr, indem er sein Taschentuch hervorzog und sich den Schweiß abtrocknete. „Zwei Stunden sich langweilen in der Sonnenglut und zum Schluß noch dieser halsbrecherische Felsweg als Spezialvergnügen! Ich habe mir die Sache nicht so schlimm gedacht, sonst –“

„Hätten Sie uns nicht dazu angestiftet,“ ergänzte Adlau. „Diesmal tragen Sie allein die Verantwortung für jeden vergossenen Schweißtropfen. Mir lag gar nichts an der Partie, ich gab nur Ihrem ausdrücklichen Wunsche nach.“

Rottenstein widersprach nicht, er seufzte nur verstohlen. Es war ja richtig, er, der geschworene Feind aller unbequemen und anstrengenden Ausflüge, hatte den heutigen selbst angestiftet und trotz aller Hindernisse auch durchgesetzt. Der arme Geheimrat, der „auch einmal eingreifen wollte“, war längst zur Erkenntnis gelangt, daß dazu Talent gehörte, wie es seine selige Frau in so hervorragendem Maße besaß, das ihm aber völlig abging.

Zuerst hatte er Not und Mühe mit Robert gehabt, der durchaus nicht mit wollte, wie er denn überhaupt jede Gelegenheit vermied, die ihn zu einem längeren Zusammensein mit Elfriede von Wilkow zwang. Endlich gelang es, ihn zu [503] überreden, aber nun gab es wieder eine Scene mit Elfriede, die, als sie von seiner Teilnahme hörte, die ihrige entschieden verweigerte. Sie wich schließlich nur der Vorstellung, daß das als eine Art Flucht gedeutet werden könnte.

Zuletzt kam noch die schwerste Aufgabe, Herrn Wellborn abzuschütteln.

Das hatte auch Mühe gekostet, war aber leider nicht gelungen. Ferdinand Wellborn war überall, erfuhr alles; er erfuhr auch von diesem Ausfluge, den man ihm verheimlichen wollte, und stellte sich pünktlich beim Aufbruch ein, aber mit einer Kassandramiene. Er kam als Warner – sein Wetterglas hatte wieder einmal trübe Ahnungen. Jedenfalls war es gefährlich, sich bei solchen Anzeichen in das Innere zu wagen. Der Geheimrat fand das auch und redete ihm eifrig zu, zurückzubleiben, aber umsonst. Als der junge Mann sah, daß seine Warnungen nichts fruchteten, beschloß er opfermütig, das Schicksal seiner Reisegefährten zu teilen. Er setzte sich auf das erste beste Maultier, vorsichtshalber nahm er jedoch sein Wetterglas mit, das unter anderen ungewöhnlichen Eigenschaften auch die besaß, daß es jede Bewegung und jeden Ortswechsel vertrug.

Natürlich war Herr Wellborn heut’ wie immer an seinem gewohnten Platz, an der Seite der jungen Frau. Die beiden waren stets voran, und Adlau machte gar keine Miene, sie einzuholen, sondern ritt im langsamsten Schritt neben dem alten Herrn.

„Sie sind mir doch nicht böse, Robert,“ begann jetzt Rottenstein, „daß ich Sie für heut’ noch in Beschlag nahm, aber morgen, am letzten Tage Ihres Hierseins, gehören Sie ja doch ganz Ihrer Familie, und wir sehen uns schwerlich vor dem Frühjahr wieder.“

„Vielleicht auch dann nicht einmal. Wenn Sie erst in Aegypten sind, ist es eigentlich nur eine Spazierfahrt nach Indien hinüber, und von da nach China ist’s auch nicht weit. Es wurde ja vorhin bereits eine Reise um die Erde in Vorschlag gebracht.“

„Ja, von Wellborn, der heut’ wieder einmal das Blaue vom Himmel herunter schwatzt. Aber mit der Idee findet er doch keinen Anklang bei meiner Tochter, denn in dem Falle streike ich, trotz aller Vaterliebe! Das weiß Elfriede.“

Adlaus Blick richtete sich mit einem eigentümlichen Ausdruck auf die Voranreitenden, dann zuckte er spöttisch die Achseln.

„Ich glaube kaum, daß auf Ihre Teilnahme dabei gerechnet wird. Den Schwiegervater nimmt man gewöhnlich nicht mit auf die Hochzeitsreise.“

„Schwiegervater? Hochzeitsreise?“ Der alte Herr ließ vor Schreck den Zügel fallen. – „Sie meinen?“

„Ich meine, daß dieser junge Herr da vornan ganz plötzlich einmal vor Ihnen stehen wird, um den väterlichen Segen zu erbitten.“

Der Geheimrat sah ganz entsetzt aus; er hatte nie auch nur entfernt daran gedacht, daß die allerdings sehr augenfälligen Huldigungen des jungen Fabrikherrn einen ernsteren Hintergrund haben könnten. Das fehlte noch, daß er die Gelegenheit benutzte, die man einem anderen geben wollte!

„Sie scherzen,“ sagte er halb unwillig, halb ängstlich. „Da traue ich meiner Tochter denn doch einen besseren Geschmack zu. Sie wird doch nicht einen solchen Schwachkopf –“

„Bitte, Sie unterschätzen den jungen Mann,“ fiel Robert ein. „Sie ahnen gar nicht, was sich in dieser Tiefe birgt. Die Fabrik, die ihm sein Geld eingebracht hat, verachtet er als höchst trivial und will sich ganz und gar höheren Richtungen zuwenden. Er will berühmt werden und mit seinen Werken die ganze Welt in Erstaunen setzen, wie er mir neulich anvertraute. Vorläufig leistet er sich eine Reisebeschreibung. Er wollte mir absolut das erste Kapitel vorlesen, das er immer mit sich herumschleppt, ich habe aber nachdrücklichst dafür gedankt.“

Der Spott dieser Worte hatte doch einen etwas herben Beigeschmack, aber Rottenstein achtete nicht darauf. Das drohende Gespenst dieses so ganz unerbetenen Schwiegersohnes, das da plötzlich vor ihm auftauchte, raubte ihm alle Fassung. Er traute freilich seiner Tochter einen derartigen Geschmack nicht zu, aber er kannte auch den Starrkopf seiner Friedel, die sich schon einmal aus Trotz zu einem Jawort hatte hinreißen lassen.

Inzwischen ritt Wellborn ahnungslos an der Seite seiner Dame und erschöpfte sich in Aufmerksamkeiten, die heut’ besonders gnädig aufgenommen wurden. Endlich war das Ziel erreicht, ein kleiner, hochgelegener Bergort, malerisch und armselig wie die meisten in der Umgegend. Aber die Unterkunft in dem häufig von Fremden besuchten Wirtshause war leidlich, und selbstverständlich wurde hier eine mehrstündige Rast gemacht.

Nach einem in Anbetracht der Verhältnisse ganz annehmbaren Frühstück wandte man sich nach dem eigentlichen Aussichtspunkte, der, noch eine Strecke entfernt, am Ausgange des Dorfes lag.

Dort, auf einem felsigen Abhange, wo ein einsames, halb zerfallenes Gehöft stand, öffnete sich ein weiter und umfassender Ausblick über den schönsten Teil der Insel. Der Punkt war in der That herrlich. Adlau, der mit dem Fernglase in der Hand die Landschaft musterte, nannte dem Geheimrat die einzelnen Ortschaften und Berggipfel, da Herr Wellborn mit seinem unvermeidlichen Reisebuche anderweitig in Anspruch genommen war. Er half der gnädigen Frau, die ihr Skizzenbuch mitgenommen hatte, einen geeigneten Platz zum Zeichnen aussuchen. Als man endlich die Wahl getroffen hatte, breitete er mit der äußersten Sorgfalt seinen Plaid über die Steinmauer, um einen bequemeren Sitz zu schaffen. Rottenstein sah in stiller Verzweiflung zu, er hatte schon verschiedene, aber ganz erfolglose Versuche gemacht, den Diensteifrigen von der Seite seiner Tochter wegzubringen, – da auf einmal kam ihm ein rettender Gedanke.

„Bitte, Herr Wellborn, um ein paar Worte, ich möchte Sie etwas fragen!“ Damit faßte er den jungen Mann ohne weiteres beim Arm und zog ihn einige Schritte seitwärts, während er mit gedämpfter Stimme fortfuhr: „Was muß ich denn da von Adlau hören! Sie stellen sich uns ganz bescheiden als Fabrikbesitzer vor, und dabei sind Sie Schriftsteller, werden ein großes Reisewerk veröffentlichen, ein berühmter Mann werden – und das erfährt man erst jetzt nach wochenlanger Bekanntschaft!“

Herr Wellborn sah unendlich geschmeichelt aus bei diesem Vorwurf, aber er erwiderte stolz bescheiden:

„Das ist vielleicht noch verfrüht – die Berühmtheit meine ich – ich beabsichtige allerdings – das Werk ist nämlich noch nicht geschrieben.“

„Ja, das sagte mir Adlau, aber er sprach doch von einem Manuskripte, das Sie ihm vorlesen wollten.“

Wellborn nahm eine tiefbeleidigte Miene an. „Ich wünschte allerdings seine Kritik über das erste Kapitel – ich habe natürlich bis jetzt nur unsere Seereise und Korfu behandelt – aber er nahm das sehr merkwürdig auf, durchaus ablehnend, man möchte beinahe sagen – grob!“

„Das sieht ihm ähnlich, er kann ja stellenweise recht grob sein,“ gab der Geheimrat zu. „Aber das ist bei ihm nur äußerlich, er hat trotzdem sehr eingehend mit mir darüber gesprochen, und ich interessiere mich ungemein für solche Dinge. Da könnten Sie ja –“ er zögerte doch einen Augenblick, in der dunklen Vorahnung dessen, was er damit auf sich herabzog, vollendete dann aber opfermutig: „Da könnten Sie es ja mir vorlesen.“

Das Gesicht des angehenden Schriftstellers verklärte sich förmlich bei diesem Vorschlag.

„Herr Geheimrat – Sie wollen es kennenlernen?“

„Selbstverständlich – aber hier wird das nicht angehen. Meine Tochter hat jetzt nur Sinn für ihre Skizze und Adlau ärgert Sie am Ende wieder mit irgend einer rücksichtslosen Bemerkung, er scheint mir heute sehr kritisch angelegt. Kommen Sie, wir gehen nach dem Wirtshause zurück, da sind wir ganz ungestört.“

Wellborn zögerte, er hätte es offenbar vorgezogen, auch Frau von Wilkow als Zuhörerin zu haben, aber die letzte Bemerkung entschied. Er hatte keine Lust, nochmals die „stellenweise Grobheit“ des Hinterwäldlers auszuhalten, und willigte deshalb ein.

[504] „Wir gehen nach dem Wirtshause!“ rief der alte Herr jetzt laut den beiden anderen zu. „Laß dich nicht stören, Elfriede, vollende ruhig deine Skizze, und Sie, Robert, werden wohl auch noch etwas hier herumsteigen wollen. Ihr braucht euch gar nicht zu beeilen, wir haben ja Zeit, mindestens noch eine Stunde!“

Damit faßte er das Opfer seiner Intrigue freundschaftlich unter den Arm und zog es mit sich fort. Jetzt brauchte er sich nicht mehr anzustrengen mit dem Reden, das besorgte Wellborn, der sich in seinen litterarischen Plänen erging und dabei sein Manuskript, ein sehr dickleibiges Heft, aus der Tasche zog.

Unter anderen Umständen hätte der Umfang dieses ersten Kapitels dem Geheimrat einen gelinden Schauer verursacht, heut’ aber blickte er mit außerordentlichem Wohlgefallen darauf und ließ sich sogar die Schrift zeigen. Das dauerte ja jedenfalls noch viel länger als eine Stunde, da konnte sich jene andere Angelegenheit hinreichend entwickeln! Wellborn dagegen war sehr angenehm berührt durch diese so lebhaft kundgegebene Teilnahme, und so langten denn beide im allerbesten Einvernehmen beim Wirtshause an.

„So, nun wollen wir es uns gemütlich machen!“ sagte der alte Herr. „Bestellen Sie uns noch etwas von dem ausgezeichneten Tropfen, den sie da drinnen haben! Dann setzen wir uns drüben unter die Oliven, und es kann losgehen.“

Der Platz war gut und der Wein war noch besser. Zwar gaben die Oliven nur spärlichen Schatten, aber man wußte sich zu helfen. Der Reiseschirm wurde an den Zweigen befestigt, gerade über dem Haupte des Geheimrats, der seelenvergnügt dasaß, sich und seinem Gefährten fleißig einschenkte und im stillen meinte, nun könne er allenfalls das Unvermeidliche aushalten.

Wellborn hatte sein Wetterglas vor sich auf den Tisch gestellt, dann sein Manuskript aufgeschlagen und las jetzt. Er begann mit der Abfahrt von Triest, lichtete dort pünktlich um zwei Uhr dreiundzwanzig Minuten die Anker und steuerte hinaus in die blaue Adria, dann verzeichnete er gewissenhaft nach dem Reisebuch jede Insel und jede Küste, die nur irgendwie in Sicht kamen, und landete endlich glücklich in Korfu, wo nun die Geschichte erst eigentlich begann.

Der Geheimrat hörte kaum zu, er trank behaglich seinen Wein und malte sich dabei in Gedanken die Scene aus, die jetzt voraussichtlich droben am Felsenabhang spielte. Im Anfange würde sie etwas stürmisch verlaufen, davon war er überzeugt. Bei einem Eisenkopf wie Robert und einem Starrkopf wie seiner Friedel waren keine friedlichen Auseinandersetzungen zu erwarten, aber schließlich würde die Sache doch in Ordnung kommen, und dann fiel auch diese verwünschte ägyptische Reise ganz von selbst weg. Dann brauchte er nicht mehr aufs Kamel und auf die Pyramiden zu steigen, sondern steuerte fröhlich heimwärts mit seinen Kindern, und in Lindenhof … hier spielte der griechische Wein dem alten Herrn doch einen Streich, die Umgebung wurde nebelhaft und undeutlich und die Gedanken auch. Aus den Oliven wurden die Linden des heimischen Gartens, zwischen denen befremdlicherweise die Kamele umherspazierten, und drüben in Brankenberg ragte eine riesige Pyramide auf. Dazu schwatzte und klapperte irgend etwas eintönig und unermüdlich, wie das Rad der Sägemühle am Fuße des Weinberges, aber die alte rheinische Mühle klapperte nur griechische Ortsnamen, und dann sah und hörte der Geheimrat nichts mehr, er war sanft und fest eingeschlafen.

Der Schirm, der zwischen den Olivenzweigen schaukelte, senkte sich tief herab, bis auf seine Nasenspitze. Ferdinand Wellborn, der auf diese Weise das Gesicht seines Zuhörers nicht sehen konnte, nahm dessen Schweigen für höchste Aufmerksamkeit und las ungestört weiter.

Inzwischen vergnügte sich das „nervöse“ Wetterglas auf dem Tische in aller Stille, indem es die ganze Wetterskala durchlief. Es hüpfte hinauf bis zum höchsten Stand, und dann sank es von neuem, tief, immer tiefer, bis es endlich beim Erdbeben angelangt war. Da schien es ihm zu gefallen, denn da blieb es stehen.




Robert Adlau und die junge Frau waren in der That zurückgeblieben, aber dies unerwartete Alleinsein schien beiden gleich unerwünscht. Elfriede hatte, als die beiden anderen Herren aufbrachen, eine unwillkürliche Bewegung gemacht, wie um sie zurückzuhalten, besann sich aber schon im nächsten Augenblick und vertiefte sich mit einem flüchtigen „Auf Wiedersehen, Papa!“ ganz in ihre Skizze.

Adlau zog die Stirn kraus, blieb aber ruhig am Abhange stehen, wo er die Aussicht betrachtete. Keiner wollte dem anderen zeigen, wie peinlich ihm dieser Zufall war, denn dafür nahmen sie es doch beide.

Das Stillschweigen hatte schon ziemlich lange gewährt, da schien Adlau endlich einzusehen, daß er nicht immer so stumm durch das Fernglas blicken könne. Er schob es zusammen, trat zu der jungen Frau und machte eine Bemerkung über ihre Zeichnung und den malerischen Vorwurf, ein paar kurze Worte, die ebenso einsilbig beantwortet wurden.

Malerisch war der Vorwurf allerdings. Das kleine Gehöft, das hier so einsam und abseits von den anderen lag, war augenscheinlich längst von seinen Bewohnern verlassen. Das Dach war zerfallen, den Fenstern fehlten die Läden und im Innern regte sich nichts. Eine hohe Steintreppe, mit tief eingesunkenen Stufen, führte zu der geschlossenen Thür, über der sich, roh in Stein gemeißelt, die Umrisse eines Heiligenbildes zeigten. Die niedrige zerbröckelnde Mauer, die den Vorplatz umgab, trug noch die steinernen Pfeiler der landesüblichen Veranda, aber das Weinlaub, das sie umspann, wucherte verwildert und ungepflegt, in wirren Ranken, die hier die Mauern umklammerten und dort, tief niederhängend, ein Spiel des Windes waren.

Durch das Blätterdach fielen die Sonnenstrahlen und spielten in zuckenden, goldigen Lichtern auf dem Boden. Sie huschten weiter bis zu der tiefen Mauerblende, wo es verstohlen aufblinkte wie von rinnendem Naß. Früher sprudelte wohl hier ein Felsenquell mit seinem hellen Strahl, das sah man noch an der kunstlosen Röhre und dem geborstenen steinernen Becken, das ihn auffing. Jetzt war er längst schon versiegt, nur eine kleine, kaum sichtbare Wasserader schlich über das feuchte Gestein und rann langsam, Tropfen um Tropfen, nieder, um sich dann in einer Spalte des felsigen Grundes zu verlieren. Ringsum Verfall und Verödung und hier der versiegende Quell!

Aber diese öde, verlassene Stätte lag in einer Umgebung, deren Reiz selbst das verwöhnteste Auge fesseln mußte. Die weinumrankten Pfeiler umschlossen wie mit einem Rahmen ein weites Landschaftsbild voll lachender, sonniger Schönheit. Es war in den letzten Tagen des Oktober, aber noch lag Sommerpracht und Lichtglanz auf allen Fluren, nur das rötlich schimmernde Weinlaub und der bräunlich goldene Hauch auf einzelnen Baumgruppen mahnte daran, daß es auch hier einen Herbst gebe.

Aus dem matten Graugrün der Oliven, die in endlosen Wäldern Thäler und Höhen bedeckten, tauchten schlanke Pinien und dunkle Cypressen auf. Hier oben an den Berghängen wucherte die Erika in mächtigen Gesträuchen und Aloë und Kaktus senkten ihre Wurzeln in das Felsgestein. Dort drüben lag Korfu mit seinem Hafen, und vom Festlande herüber grüßten die Berge von Epirus schon im leichten Schneegewande. Sie hoben sich scharf und klar empor in die sonnige Luft. Weiter hinaus verschwammen all die Gipfel und Höhenzüge des Gebirges im schimmernden Duft, und dort, ganz in der Ferne, blaute das Meer – die nordischen Gäste, die an die ernsten Formen und Farben ihrer Heimat gewöhnt waren, konnten wohl geblendet sein von dieser Schönheitsfülle und diesem Sonnenglanz.

Frau von Wilkow schien nur Sinn für ihre Skizze zu haben. Sie zeichnete, nur dann und wann flüchtig aufblickend, eifrig weiter. Adlau lehnte ihr gegenüber an einem der Pfeiler, aber sie mochte es wohl fühlen, daß sein Blick auf ihrem Antlitz ruhte, denn jetzt war sie es, die das wiederum eingetretene Schweigen brach.

„Sie reisen also übermorgen, Herr Adlau?“

„Jawohl, gnädige Frau, wie es bestimmt war.“

„Werden Sie es denn aushalten in den engen Verhältnissen zu Hause, nach dem bewegten Leben, das Sie geführt haben? Ich fürchte, Sie werden dort –“

[506] „Versumpfen! Die Gefahr liegt allerdings sehr nahe.“

„Das Wort galt meinem Vater,“ sagte Elfriede kühl.

„Vielleicht auch ein wenig mir. Unsere Ansichten sind in diesem Punkte nun einmal verschieden, freilich hat die Welt uns beiden auch ein ganz verschiedenes Gesicht gezeigt. Sie durchstreiften als vornehme Touristin die Länder und ließen sich tragen von den Wogen des Lebens, bei voller Meeresstille. Ich habe im Sturm mit ihnen gerungen, da ist von Genuß nicht viel die Rede, man kommt überhaupt nicht zu Atem dabei.“

„Aber man kommt doch zum Ziele, wie der Augenschein lehrt.“

„Ich beklage mich ja auch nicht,“ sagte Robert gelassen.

„Eine harte Lehrzeit hat auch ihr Gutes, sie übt und stählt die Kraft. Aber nun sie überwunden ist, will ich mich auch nicht länger hin und her treiben lassen, nun steure ich ans Land. Ich muß endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben, deutschen Boden! Sie, gnädige Frau, sind darin glücklicher beanlagt, und Sie hatten ja stets das beneidenswerte Vorrecht, Herrin Ihres Schicksals zu sein.“

Der Spott reizte Elfriede, sie nahm jenen vornehm nachlässigen Ton an, der unter Umständen recht verletzend sein konnte, und hier sollte er verletzen.

„Ich habe es allerdings verlernt, auszuhalten in unserem kalten, grauen Norden, in der Enge der deutschen Verhältnisse.

Ich bin verwöhnt durch die Schönheitsfülle des Südens, durch den großen, freien Verkehr des Reiselebens, der keine kleinlichen Vorurteile und Rücksichten kennt. Das ist für mich der Lebensquell geworden, aus dem ich getrunken habe jahrelang; nun kann ich ihn nicht mehr entbehren.“

„Sie können nicht? Das heißt, Sie wollen nicht.“

„Vielleicht auch das – ich will nicht!“

„Und hat er Ihnen denn wirklich Glück gegeben, dieser gerühmte Zaubertrank?“ fragte Adlau langsam, mit scharfer Betonung.

Die Frage kam so jäh und unvermittelt, daß die junge Frau leicht zusammenzuckte; aber schon in der nächsten Minute faßte sie sich und antwortete mit einem kurzen, entschiedenen Ja.

Robert richtete das Auge fest und finster auf sie.

„Das sagen Sie einem anderen, aber nicht mir! Ich habe Sie ja einst gekannt, es ist freilich schon lange her, aber ich weiß es doch noch, wie das Glück aussieht in Ihrem Antlitz. Als ich Sie jetzt wiedersah, eine bleiche, müde Frau, ohne Lebensmut und Lebensfreude, da sah ich auch, daß Sie krank waren, bis in die Seele hinein, und Sie sind es noch! Sie mögen sich im Anfange berauscht haben an diesem "Lebensquell", aber das hat nicht standgehalten, jetzt betäuben Sie sich nur noch mit diesem Tränke. Sie haben mit der Heimat auch den Boden unter den Füßen verloren.“

Er sprach nur zu wahr, das wußte niemand besser als Elfriede, aber die verwöhnte Frau war es nicht gewohnt, die Wahrheit zu hören, und der schroffe Ton verletzte sie. Das war noch der Robert von einst, der mit seiner rücksichtslosen Energie überall durchgriff, ohne danach zu fragen, ob er die Empfindungen anderer verletzte. Er war der alte geblieben.

„Es steht doch wohl einzig bei mir, wie ich mein Leben gestalten will!“ erklärte sie mit aufflammendem Trotz. „Sie predigen mir und sind doch selbst eine Art Weltfahrer gewesen! Es zwang Sie ja niemand, die Heimat aufzugeben!“

Das übereilte Wort war kaum heraus, als Elfriede es auch schon bereute. Vor dem Blick voll herben Vorwurfs, der sie traf, senkte sich ihr Auge, und rasch ablenkend, fügte sie hinzu: „Pastor Adlau war wenigstens nicht einverstanden damit.

Er wollte seinen einzigen Sohn nicht verlieren.“

„Und er hat ihn doch verlieren müssen!“ sagte Robert bitter. „Ja, es traf ihn hart, daß ich mich meiner Stellung und all den heimischen Verhältnissen entriß, und er hat mich schweren Herzens fortziehen lassen! Aber ich hörte nicht auf ihn. Ich wollte mit aller Gewalt reich werden und das in kürzester Frist. Warum – das wissen Sie vielleicht noch, Frau Baronin?“

Die junge Frau schwieg, sie hatte wieder den Stift zur Hand genommen und zog hastig Linie um Linie in ihrem Skizzenbuche.

Adlau hatte seinen Platz verlassen und stand jetzt dicht vor ihr, aber es bebte ein verhaltener Groll in seiner Stimme, als er fortfuhr: „Ihre Frau Mutter machte es mir ja in so überzeugender Weise klar, daß ein junger Landwirt ohne Vermögen, wie ich es damals war, keine Aussichten für die Zukunft habe, daß er sich vielleicht erst in zehn oder zwölf Jahren eine bescheidene Häuslichkeit gründen könne und daß ihre Tochter sich nicht auf so lange binden dürfe. Ein bescheidenes Heim war ja überhaupt nicht nach dem Geschmack der Frau Rätin. Da hieß es: entweder entsagen oder sich "Aussichten" schaffen, und ich zog das letztere vor. Drüben in der Neuen Welt war ja so mancher schon zu Glück und Reichtum gekommen, warum sollte es mir denn nicht glücken? Ich warf kurz entschlossen den Gutsinspektor über Bord und ging nach Amerika. Man ist bisweilen noch so unglaublich naiv mit fünfundzwanzig Jahren und meint, man könne ohne viel Mühe die halbe Welt erobern – ich meinte das damals auch!“

Er hielt inne, als wartete er auf eine Antwort, doch diese erfolgte nicht; wohl aber bebte der Stift in der Hand der jungen Frau, die sich tief auf ihre Zeichnung herabbeugte, und sie merkte es nicht einmal, daß sie mit allerlei wirren Linien die ganze Skizze verdarb. Robert schien doch etwas anderes erwartet zu haben als dies hartnäckige Schweigen, allein er machte keinen Versuch, es zu brechen, sondern ließ das Thema plötzlich fallen.

„Doch das sind alte, vergessene Geschichten, die uns beide nichts mehr angehen! Wir haben ja beide Carriere gemacht im Leben, jeder auf seine Weise. Ich will nicht undankbar sein gegen die Fremde, mir hat sie viel gegeben. Was ich bin und habe, danke ich ihr, aber zum "Lebensquell" ist sie mir nie geworden. Der war fern in der Heimat zurückgeblieben, und ich habe mich oft genug danach gesehnt, wie ein Wanderer in der Wüste. Jetzt will ich mich wieder satt trinken daran, will endlich wieder schaffen auf heimischem Boden! Ich frage nicht danach, ob er im kalten, grauen Norden liegt, denn auf meiner Scholle bin ich der Herr und das Dach über meinem Haupte ist mein. Mehr brauche ich nicht – was sonst noch notthut, nehme ich auf mich!“

Er hatte sich emporgerichtet und seine Augen blitzten in stolzer Genugthuung. Es lag etwas wie Neid in dem Blick, mit dem Elfriede auf den Mann schaute, der wie die verkörperte Kraft und Energie vor ihr stand. Er war gesund geblieben im heißen Kampfe des Lebens, gesund an Leib und Seele, und sie, der dies Leben alles gegeben hatte, was es an Gütern nur schenken konnte, sie? – Es stieg Plötzlich bitter und verzweiflungsvoll in ihr empor, wie das Weh um etwas unwiederbringlich Verlorenes.

„Sie sehen, ich habe doch kein rechtes Talent zum Weltfahrer,“ hob Adlau wieder an. „Aber ein anderer scheint sich unter Ihrer Leitung dazu ausbilden zu wollen. Der getreue Ritter begleitet Sie ja auch nach Aegypten, wie ich höre.“

„Herr Wellborn hat allerdings gebeten, sich uns anschließen zu dürfen,“ sagte Elfriede, ohne den Spott beachten zu wollen.

„Wir haben nichts dagegen. Er ist ein angenehmer Reisegefährte, eine harmlos heitere Natur.“

„Jawohl, sehr harmlos wie alle Schwachköpfe!“

Die junge Frau schlug heftig ihr Skizzenbuch zu und erhob sich.

„Herr Adlau, Sie sind sehr rücksichtslos in Ihren Urteilen.“

„Aber nicht ungerecht, das werden Sie zugeben. Trotzdem steht Herr Wellborn in hoher Gunst bei Ihnen. Bitte, gnädige Frau, nicht diese Miene der Entrüstung! Ich thue Ihrem Geschmack wirklich nicht die Beleidigung an, da irgend ein Interesse vorauszusetzen. Der gute Narr ahnt es ja gar nicht, daß er diese Gunst im Grunde nur mir verdankt.“

„Ihnen?“ wiederholte Elfriede mit scharfer Betonung. „Ich wüßte doch nicht –“

„Aber ich weiß es!“ fiel Robert mit ausbrechender Gereiztheit ein. „Ich weiß, wem dies Spiel gilt, das ich oft genug habe mit ansehen müssen, wer damit gestachelt und gereizt werden soll. Sie kennen nur zu gut noch meine alte eifersüchtige [507] Schwäche. Nun denn ja, es hat mich gereizt, trotz alledem, ich will’s nicht leugnen! Aber jetzt, wo wir uns trennen, werden Sie den albernen Menschen doch wohl endlich fortschicken. Auf Ihrer Reise nach Aegypten ist er doch überflüssig, sollte ich meinen!“

Dies Geständnis der Eifersucht brach grollend, fast wider Willen aus seinem Innern hervor, aber es war doch immer ein Geständnis und es verfehlte nicht seinen Eindruck auf die junge Frau, deren Antlitz sich plötzlich tief und glühend färbte. Ihre Stimme bebte, als sie unsicher und halblaut sagte: „Was kümmert Sie denn das, wenn Sie in Brankenberg sind? Da liegen ja Länder und Meere zwischen uns.“

„Müssen Sie denn nach Aegypten, Elfriede?“ Es klang ein alter, lang’ nicht gehörter Ton auf in der Frage, in dem Namen, den er zum erstenmal wieder aussprach. „Ihr Vater bringt Ihnen ein Opfer mit dieser Reise, er sehnt sich fortwährend nach seinem Lindenhof. Es steht ja nur bei Ihnen, die Orientfahrt aufzugeben und – heimzukehren.“

Elfriede antwortete nicht, sie fühlte, welches Opfer hier verlangt wurde; nicht das Opfer einer Reise, die ihr höchst gleichgültig war: der Stolz, der Starrsinn in ihr sollten sich beugen. Sie kämpfte augenscheinlich mit sich selber. Ein gutes Wort, eine Bitte hätte in diesem Augenblick alles entschieden, aber Robert Adlau verstand es nun einmal nicht, zu bitten, am wenigsten da, wo er sich im Rechte fühlte. Ihr Zögern reizte ihn aufs äußerste.

„Werden Sie bleiben? Werden Sie den zudringlichen Burschen ein für allemal verabschieden?“ fragte er, beinahe drohend, und der herrische Ton rief den ganzen Trotz der jungen Frau wach. Sie richtete sich beleidigt empor.

„Ich weiche keinem Befehl!“

„Und ich verlange keinen Gnadenbeweis, sondern eine Entscheidung! Gehen Sie nach Aegypten? Ja oder Nein?“

„Ja!“ kam es kurz und hart von Elfriedens Lippen.

In den tief verfinsterten Zügen Adlaus zuckte es, ob vor Zorn oder Schmerz, das ließ sich nicht entscheiden, denn schon in der nächsten Minute verneigte er sich mit eisiger Kälte.

„So wünsche ich Ihnen glückliche Reise, Frau Baronin – leben Sie wohl!“

Er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden, sonst hätte er es vielleicht gesehen, wie die junge Frau eine Bewegung machte, als wollte sie ihm nacheilen – zu spät, denn er verschwand bereits hinter der Mauer.

Sein Schritt war längst verhallt und Elfriede stand noch immer bleich und regungslos an dem weinumrankten Pfeiler und schaute hinaus in die Landschaft. Aber sie sah nichts von all der lachenden, sonnigen Schönheit da draußen. Endlich wandte sie sich langsam zum Gehen, ihr Blick glitt noch einmal mit dem alten müden Ausdruck durch das verlassene Gemäuer. Ringsum Verödung und Verfall – und dort der versiegende Quell!




Der Dampfer, der von Alexandrien kam und für einige Stunden in Korfu anlegte, war rechtzeitig eingelaufen und die Reisenden, die ihn zu der Fahrt nach Triest benutzen wollten, rüsteten sich, an Bord zu gehen. Die Träger schleppten von allen Seiten Gepäck herbei, während ein Teil der Boote bereits abstieß und nach dem Schiffe steuerte, das ziemlich weit draußen im Hafen lag.

Geheimrat Rottenstein kam aus seinem Hotel und schlenderte langsam und anscheinend ganz absichtslos durch das Gewühl am Ufer. In Wirklichkeit war er auf dem Wege nach dem Rahnsdorfschen Hause, hatte das aber weislich seiner Frau Tochter verschwiegen, sonst hätte es vermutlich wieder einen Sturm gegeben wie vorgestern. Der alte Herr befand sich in sehr niedergedrückter Stimmung, denn er konnte sich nicht verhehlen, daß sein „Eingreifen“, auf das er so stolz gewesen, kläglich gescheitert war. Zwar wußte er nicht, was eigentlich zwischen Elfriede und Adlau geschehen war, und hatte auch nicht gewagt, danach zu fragen, aber die Sache war zu Ende, ganz zu Ende, das stand fest.

Der arme Geheimrat war aus dem süßen Schlummer, dem er sich damals unter den Oliven so behaglich hingegeben hatte, jäh und unliebsam geweckt worden, zunächst durch den Sonnenschirm, der seinen Halt in den Zweigen verlor und ihm gerade auf die Nase fiel. Herr Wellborn, der ebenso jäh in seiner Vorlesung unterbrochen wurde, sprang erschrocken auf und warf dabei den Tisch mit Krug und Gläsern um, während er sein kostbares Wetterglas noch glücklich auffing und vor dem Fall bewahrte. Da erschien auf einmal Frau von Wilkow ganz allein, sehr bleich und in einer Aufregung, die sie sich vergebens zu verbergen bemühte.

Sie hatte sich, ihrer Erklärung nach, beim Zeichnen da oben, in dem „abscheulichen Gemäuer“, einen heftigen Kopfschmerz zugezogen und wollte sofort aufbrechen, da sie ihre Migräne im Anzug fühlte. Die Frage ihres Vaters, wo denn Robert bleibe, wurde mit der kurzen Bemerkung abgefertigt, Herr Adlau mache noch eine Kletterpartie in die Berge hinauf und komme später nach, er werde die Gesellschaft wohl noch einholen. Wellborn eilte in das Haus, um die Maultiere zu bestellen, und zehn Minuten später brach man wirklich auf.

Der Rückweg war freilich sehr ungemütlich. Elfriede sprach überhaupt gar nicht, der Geheimrat nur das Notwendigste, so mußte Ferdinand Wellborn denn allein die Kosten der Unterhaltung tragen, was er auch mit Vergnügen übernahm. Er hatte natürlich nichts bemerkt, glaubte an den Kopfschmerz und brachte sechs oder acht verschiedene Mittel dagegen in Vorschlag. Schließlich kam er wieder bei seinem Lieblingsthema an und erklärte, die Unheilsatmosphäre, die sein Wetterglas verkünde, sei allein schuld an dem Kopfschmerz der gnädigen Frau.

Adlau hatte die Gesellschaft natürlich nicht eingeholt, überhaupt nichts weiter von sich hören lassen. Er hatte nur heute morgen dem Geheimrat seine Karte mit einigen Abschiedsworten gesandt, eine Empfehlung an Frau von Wilkow war nicht beigefügt.

Der alte Herr wußte nun Bescheid, er hatte es vorausgesehen, aber so fremd und kalt wollte er doch nicht von dem Manne scheiden, den er am liebsten Sohn genannt hätte, er wollte ihm wenigstens persönlich Lebewohl sagen und war jetzt gerade auf dem Wege zu ihm.

Da stieß er natürlich wieder auf den unvermeidlichen Wellborn, der ein eigenes Talent besaß, gerade da aufzutauchen, wo er am unbequemsten war, und in solchen Fällen war er überhaupt nicht wieder loszuwerden. Er blieb auch heute dieser freundlichen Gewohnheit treu und hing sich sofort an den Geheimrat, dem er nicht von der Seite wich. Dieser machte zwar einige krampfhafte Versuche, ihn abzuschütteln, vergebens, Ferdinand blieb und ließ vergnüglich das Mühlwerk seiner Rede klappern.

Er erkundigte sich zunächst nach dem Befinden der gnädigen Frau, die gestern leider für ihn unsichtbar geblieben war. Er hatte auf seine Anfragen nur die betrübende Thatsache erfahren, daß die Migräne noch immer anhalte. Dann kam er ganz unvermittelt auf den Dampfer zu sprechen, der draußen im Hafen lag, und mit dem auch Herr Adlau abreisen wolle. Dieser Herr aus Amerika habe sich vorgestern doch ganz merkwürdig benommen. So ohne weiteres zurückzubleiben und die Gesellschaft im Stiche zu lassen! Man merke es, daß ihm der Hinterwäldler noch im Blute stecke. Ob er denn wenigstens einen Abschiedsbesuch gemacht habe?

„Nein!“ rief der Geheimrat, der jetzt den letzten Rest seiner Geduld verlor. „Aber ich habe hier noch einige Einkäufe zu machen, und Sie sollten sich bei meiner Tochter melden lassen. Sie befindet sich heute besser, viel besser, ich glaube, sie nimmt Besuch an.“

Dies Mittel that endlich die gewünschte Wirkung, der junge Mann machte schleunigst Kehrt und wandte sich nach eiliger Verabschiedung zu dem Hotel zurück, während Rottenstein ebenso eilig nach dem Rahnsdorfschen Hause steuerte, das er denn auch ohne weiteren Zwischenfall erreichte.

Er kam gerade zur rechten Zeit. Adlau war eben im Begriff, von den Seinigen Abschied zu nehmen, und über seine heute sehr düsteren Züge flog der Ausdruck einer freudigen Überraschung, als er den alten Herrn erblickte, er hatte ein Lebewohl von dieser Seite wohl nicht erwartet. Auch der Konsul schien verstimmt, er sagte nach der ersten Begrüßung etwas ärgerlich:

„Das trifft sich heute sehr ungeschickt, jetzt können wir [508] unserem Robert nicht einmal das Geleit bis zum Dampfer geben! Sie wissen es vermutlich, daß Prinz Karl heute in Korfu erwartet wird. Seine Jacht ist bereits in Sicht und wird in einer halben Stunde landen, ich muß in meiner amtlichen Eigenschaft beim Empfange sein und Meta soll der Prinzessin einen Blumenstrauß überreichen. Es hilft nichts, Schwager, du mußt allein hinausfahren.“

„Aber ich bitte dich,“ wehrte Adlau ab. „Je kürzer wir den Abschied machen, um so besser ist es, und übrigens wird es jetzt Zeit zum Aufbruch.“

„Ich werde Sie vertreten, Herr Rahnsdorf,“ sagte der Geheimrat. „Keine Einwendung, Robert, ich gebe Ihnen das Geleit bei der Abfahrt. Die See ist ja heute spiegelglatt, und in spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück.“

Robert fügte sich, und man ging gemeinsam zu dem Boote, das mit dem Gepäck bereits am Ufer harrte. Der Abschied war in der That kurz, aber um so herzlicher. Adlau hob noch einmal die Kinder empor, um sie zu küssen, schüttelte dem Schwager die Hand und ließ der Schwester eine letzte Umarmung zu teil werden.

„Also im Sommer in Brankenberg! Ich rechne auf euer Versprechen, und die Kinder bringt ihr selbstverständlich mit. Weine nicht, Meta, es ist ja diesmal nur eine Trennung auf Monate. Behüt’ Gott, Schwager! Auf frohes Wiedersehen!“

Er sprang in das Boot und Rottenstein folgte ihm, noch ein Grüßen und Winken hinüber und herüber, dann steuerte die Barke hinaus und dem Dampfer zu.

Dort herrschte bereits reges Leben, die Boote legten an und stießen ab, die Reisenden kamen an Bord und auf dem Verdeck wurden die Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen. Es war immer noch eine halbe Stunde bis dahin und die beiden Herren, die sich einen stilleren Platz auf dem Vorderdeck gesucht hatten, konnten ungestört plaudern. Aber das Gespräch stockte öfter, es lag doch ein gewisser Zwang darauf, obgleich der vorgestrige Tag und Adlaus Zurückbleiben von keiner Seite erwähnt wurde. Endlich sagte dieser, im Tone der Entschuldigung:

„Ich habe im Drange der Abreise nicht einmal mehr Zeit gefunden, Ihnen einen Abschiedsbesuch zu machen. Ich konnte nur meine Karte senden, und es war sehr freundlich, daß Sie trotzdem gekommen sind.“

„Die Karte war mir doch gar zu förmlich,“ entgegnete der Geheimrat, mit einem leisen Vorwurf. „Ich wollte Sie wenigstens noch einmal sehen und Ihnen einen Gruß an die Heimat mitgeben.“

„Herzlichen Dank! Und Sie gehen also wirklich nach Aegypten?“

„Ich muß ja wohl, da Elfriede darauf besteht!“

Die Antwort wurde in sehr beweglichem Tone gegeben, und dabei ließ der Geheimrat einen sehnsüchtigen Blick über den Dampfer hingleiten. „Wenn Sie wüßten, Robert, wie ich Sie um die Heimkehr beneide!“ schloß er wehmütig. „Wie gern ginge ich mit Ihnen nach Haus!“

Adlau stäubte ruhig die Asche von seiner Cigarre und fragte ganz gelassen: „Nun, warum thun Sie es denn nicht?“

Was – soll ich thun?“

„Mit mir nach Triest fahren und von da weiter nach dem Rhein.“

„Jawohl, nach unserem Rhein! Machen Sie mir doch das Herz nicht noch schwerer mit Ihrem Scherz!“

„Ich scherze durchaus nicht, es ist mir vollkommen Ernst mit dem Vorschlage. In meiner Kabine ist der zweite Platz noch frei, wie ich heute morgen zufällig erfuhr. Das Wetter verspricht uns eine ganz ruhige Seefahrt, es bedarf nur einer kurzen Rücksprache mit dem Kapitän, und an mir haben Sie einen bequemen Reisegefährten. Allerdings können Sie nicht mehr ans Land, aber das ist auch nicht nötig. Meine Reisekasse steht Ihnen zur Verfügung, meine Koffer gleichfalls. Für die Paar Tage kann ich Ihnen mit dem Nötigen aushelfen, und in Triest ordnen wir telegraphisch die sofortige Nachsendung Ihres Gepäckes an, die Sache ist ganz einfach.“

Der Geheimrat blickte ihn höchst verdutzt an, jetzt wußte er wirklich nicht mehr, ob das Scherz oder Ernst sei.

„Aber Robert, was fällt Ihnen denn ein? Meine Tochter ist ja doch hier in Korfu und will nach Aegypten.“

„Nun daran hindert Ihre Abreise sie doch nicht? Natürlich muß Frau von Wilkow benachrichtigt werden, Sie senden einige Zeilen ans Land, um sie zu verständigen. – Da ist ja noch Ihr Hoteldiener! soll ich ihn rufen?“

„Um Gottes willen, nein!“ wehrte der alte Herr entsetzt ab. „Ich glaube wahrhaftig, Sie wären zu einem solchen Streiche fähig!“

Statt aller Antwort zog Adlau die Uhr und warf einen Blick darauf. „Wir haben noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Entschließen Sie sich rasch! Denken Sie an Ihr Lindenhof, an die gemütlichen Winterabende am Kamin. Warum wollen Sie durchaus in der Wüste schwitzen? Und dann die Pyramiden, die Kamele – Sie müssen ja hinauf, wenn Sie erst in Aegypten sind!“

„Nein, nein!“ rief der Geheimrat verzweiflungsvoll. „Aber ich kann doch nicht – lassen Sie mich in Ruhe, Robert – ich kann doch meine Tochter nicht allein im fremden Lande sitzen lassen.“

„Nun, was das betrifft – die Baronin ist selbständig, ist völlig vertraut mit dem Reiseleben und hat ihre erprobte Kammerjungfer bei sich. Wie viele Damen reisen nicht heutzutage’ allein! – Sie haben natürlich Checks auf Kairo genommen, tragen Sie sie bei sich?“

„Nein, sie liegen noch in Korfu, bei unserem Banquier, aber –.“

„Um so besser, dann kann Frau von Wilkow sie ohne weiteres dort erheben. Sie sehen – da wird schon der Anker aufgewunden, es ist die höchste Zeit! Hier ist mein Notizbuch, schreiben Sie nur ein paar Worte, das genügt für den Augenblick.“

Rottenstein wußte nicht, wie ihm geschah, er hatte plötzlich Stift und Notizbuch in der Hand und Robert, der neben ihm stand, diktierte ihm kurz und bündig:

„Ich fahre mit Adlau nach Triest, von da weiter nach Haus – alles Nähere brieflich – Checks auf Kairo findest Du bei unserem Banquier – viel Vergnügen in Aegypten! – Dein Dich liebender Vater.“

Bis hierher hatte der alte Herr mechanisch nachgeschrieben, er stand ganz willenlos unter dem Zwange dieses fremden energischen Willens, als er aber nun gar noch seine Vaterliebe bekräftigen sollte, da hörte er auf.

„Aber Robert, ums Himmels willen, das geht ja nun und nimmermehr! Elfriede wird außer sich sein, und mit vollem Rechte. Sie wird –“

„Dein Dich liebender Vater,“ wiederholte Adlau diktatorisch.

„Haben Sie das? Gut! Die Adresse werde ich selbst schreiben. – Warten Sie noch eine Minute, Sie sollen eine Botschaft mit an das Land nehmen.“

Die letzten Worte waren an den Hoteldiener gerichtet, den er inzwischen herbeigewinkt hatte, und der eben das Schiff verlassen wollte. Robert faltete rasch das Blatt, adressierte es und übergab es dem Manne.

„An Frau Baronin von Wilkow, sofort zu übergeben, und mündlich bestellen Sie, der Herr Geheimrat sei soeben mit mir nach Triest abgefahren. – Hier!“

Das Geldstück, das in die Hand des Dieners glitt, machte diesen sehr bereitwillig. Er versprach pünktliche Besorgung und eilte dann nach der Schiffstreppe; es war in der That die höchste Zeit, denn eben wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben. Der Geheimrat that einen Schritt, als wollte er nacheilen, aber Robert ergriff ihn ohne weiteres am Arme und hielt ihn fest.

„Jetzt kein Schwanken mehr! Sie haben einmal den Entschluß gefaßt –“

„Nein, Sie haben ihn gefaßt!“ rief der alte Herr, völlig außer sich. „Ich habe gar nichts gethan, ich habe überhaupt nicht gewußt, wie mir geschah, und bin gar nicht zu Atem gekommen bei der Geschichte. Sie standen ja neben mir und kommandierten wie ein General – Sie sind ja ein schrecklicher Mensch!“

Der „schreckliche Mensch“ hielt ihn noch immer fest und sah in aller Gemütsruhe zu, wie die Schiffstreppe emporgezogen wurde und das letzte Boot abstieß, dann erst ließ er sein Opfer los, dessen Entweichen jetzt nicht mehr zu befürchten war, denn [509] gleichzeitig setzte sich der Dampfer in Bewegung und glitt langsam aus dem Hafen.

„So, jetzt schwimmen wir!“ sagte Adlau, im Tone tiefster Befriedigung. „Nun will ich nach der Kajüte und Rücksprache wegen Ihres Platzes nehmen. Freuen Sie sich doch, Herr Geheimrat, jetzt geht es nach Hause!“

Damit ging er, aber der arme Geheimrat dachte nicht daran, sich zu freuen. Er war halb betäubt auf die Bank niedergesunken und überlegte sich jetzt erst die unerhörte Geschichte. Er konnte sich die Scene ausmalen, die dort im Hotel spielte, wenn Elfriede die Nachricht erhielt, mit der Adresse von Adlaus Hand. Das vergab sie ihm nie, er hatte ja auch selbst das vernichtende Bewußtsein, eine Art Rabenvater zu sein, der sein Kind allein im fremden Lande zurückließ! Ja, dieser Robert war ein Gewaltmensch! Je mehr der alte Herr zur Besinnung kam, desto heftiger grollte er mit seinem einstigen Liebling, der an allem schuld war. Aber mitten in diesem Groll schlug er auf einmal mit der Hand auf die Banklehne und sagte überzeugungsvoll:

„Aber wahr ist’s doch! Gerade ein solcher Mann hat dir gefehlt, Friede! – und mir ein solcher Schwiegersohn!“




Am Rhein war der Frühling eingezogen. Die Rebenhügel standen überall im zarten frischen Grün, im Walde sang und klang es von tausend neuerwachten Stimmen und die Wellen des Stromes blitzten im Sonnenschein. Es war ein Maientag von jener zarten, duftigen Schönheit, die nur der deutsche Frühling kennt.

Die Besitzung des Geheimrats Rottenstein war nur ein kleines Landgut, aber wie geschaffen zum behaglichen Ruhesitze des Alters. Das nicht große, aber sehr freundliche Haus lag im Schatten der alten Linden, die ihm den Namen gegeben hatten. An den ausgedehnten Garten schloß sich das Weingütchen, die höchste Freude des alten Herrn, der seinen Wein selbst zu keltern pflegte. Von der rebenumsponnenen Veranda, die an der Hauptseite des Hauses lag, hatte man einen schönen Blick auf den Rhein, zur Linken stiegen die sonnigen Weinberge des Ufers empor und zur Rechten ragte in einiger Entfernung, aus den dichten Laubmassen eines Parkes, ein mächtiges Gebäude auf, Schloß Brankenberg, das länger als ein Jahrhundert im Besitz einer alten Adelsfamilie gewesen war und jetzt einen neuen Herrn hatte.

Auf der Veranda saßen der Geheimrat und sein Gutsnachbar und auf dem Tische funkelte in den Gläsern der Wein, „eigenes Gewächs“, auf das der alte Herr ungemein stolz war. Der heimische Winter schien ihm sehr gut bekommen zu sein, er sah weit wohler und frischer aus als im Herbst, er gehörte nun einmal zu den Naturen, die nur auf dem Heimatboden gedeihen. Robert Adlau hatte sich gar nicht verändert in seiner markigen, kraftvollen Erscheinung, nur etwas bleich sah er heute aus, und die breite schwarze Binde, die er um die Stirn trug, schien auf irgend eine Verletzung hinzudeuten.

„Also auf die glückliche Genesung!“ sagte Rottenstein, sein Glas erhebend. „Das ist freilich schnell genug bei Ihnen gegangen, Robert. Ein anderer hat wochenlang mit einer solchen Kopfwunde zu thun, und Sie laufen schon nach acht Tagen wieder umher, als ob gar nichts geschehen sei.“

„Es war ja nicht all des Aufhebens wert, das davon gemacht wurde,“ entgegnete Adlau mit einem Achselzucken. „Eine längere Betäubung, infolge des Sturzes, ein etwas starker Blutverlust – mir thut nur mein schöner Fuchs leid, der bei der Geschichte draufgegangen ist.“

„Nun besser doch der Fuchs als Sie! Uebrigens sah die Sache im Anfange recht gefährlich aus. Sie ahnen gar nicht, was das für ein Anblick war, als ich nach Brankenberg gerufen wurde und Sie anscheinend leblos und blutüberströmt daliegen sah. Der Doktor machte auch zuerst ein sehr bedenkliches Gesicht, und auch jetzt meint er, eine Natur wie die Ihrige sei ihm noch nicht vorgekommen.“

„Ja, meine Natur ist gut. Uebrigens habe ich dem Inspektor tüchtig den Kopf gewaschen, weil er nichts Gescheiteres wußte, als schleunigst zu Ihnen zu schicken und Sie zu erschrecken mit der Nachricht. Was ging denn das Sie an!“

„Was es mich anging?“ rief der Geheimrat unwillig. „Glauben Sie, daß mir Ihr Leben und Sterben gleichgültig ist?“

„Nun ja – Ihnen vielleicht nicht,“ sagte Robert langsam. „Andere freilich –“ er brach plötzlich ab, als habe er schon zu viel gesagt, der alte Herr aber fiel eifrig ein:

„Ja, andere Freunde haben Sie freilich nicht hier, aber das ist doch nur Ihre eigene Schuld. Ich wollte Ihnen längst schon eine Strafpredigt halten wegen dieses Einsiedlerlebens, das Sie nun bereits seit sechs Monaten führen. Sie haben keinen einzigen Besuch in der Nachbarschaft gemacht, verkehren mit niemand, ziehen sich hartnäckig von jeder Geselligkeit zurück. Wie halten Sie es denn nur aus in dem großen, öden Schlosse, so ganz allein?“

„Nun, im Sommer wird es ja Leben genug geben, wenn meine Schwester mit Mann und Kindern kommt,“ entgegnete Adlau ausweichend. „Für jetzt habe ich noch sehr viel zu thun, viel mehr, als ich anfangs glaubte. Ich habe bisher noch gar keine Zeit für die Geselligkeit gehabt.“

[510] „Ja, Sie kehren in Ihrem Brankenberg so ziemlich das Unterste zu oberst,“ lachte der Geheimrat. „Unsere Landwirte sperren Mund und Nase auf über all das Neue, das da aus dem Boden hervorwächst, aber um so mehr nimmt man Ihnen die Zurückgezogenheit übel. Ich muß es oft genug hören, daß ich in der ganzen Umgegend für Sie der einzige Mensch zu sein scheine.“

„Und der will mich jetzt auch verlassen,“ warf Robert mit etwas gezwungenem Scherz ein. „Sie wollen ja nach der Schweiz.“

Rottenstein nickte und ließ einen schmerzlichen Blick über seinen Garten hingleiten, der in voller Lenzespracht blühte und duftete. „Im nächsten Monat. Meine Tochter hat sich für den Sommeraufenthalt in Interlaken entschieden, und dort treffen wir uns. Ich habe sie ja seit einem halben Jahre nicht gesehen.“

Die letzten Worte klangen sehr weichmütig. Adlau blickte ihn mit halb spöttischer, halb mitleidiger Miene an.

„Ich fürchte, ich habe Ihnen einen schlechten Dienst geleistet mit der damaligen Entführung. Sie sind gar nicht angelegt für einen solchen Gewaltstreich und haben ihn gewiß längst schon bereut.“

„Nicht doch! Ich war ja froh, diesem ewig drohenden Aegypten, mit seinen Pyramiden und Mumien, zu entrinnen, aber freilich, Elfriede – sie nahm mir das sehr übel. Ich habe bittere Dinge lesen müssen.“

„Warum warfen Sie nicht die ganze Verantwortung auf mich allein, wie ich Ihnen riet?“

Der alte Herr schwieg verlegen, er hatte das allerdings gethan, aber das war nur ein erschwerender Umstand gewesen in den Augen seiner Frau Tochter. Er wußte am besten, was er brieflich hatte aushalten müssen.

„Nun, Sie können ja bald mündlich Abbitte leisten,“ spottete Robert. „Malen Sie meine Unthat so schwarz als möglich, ich habe nichts dagegen. – Frau von Wilkow ist also noch in Konstantinopel?“

„Jawohl, und sie beabsichtigt noch einige Wochen dort zu bleiben. Ich erwarte jetzt bestimmte Nachricht darüber, ich schrieb ihr vor acht Tagen, gerade an dem Tage, wo Sie mit dem Pferde gestürzt waren.“

Adlau, der eben im Begriff war, das Glas zum Munde zu führen, setzte es jäh und heftig wieder hin. „Sie haben das doch nicht etwa geschrieben?“

Rottenstein geriet etwas in Verwirrung. Er hatte es allerdings seiner Tochter geschrieben, sogar am Abend des Tages, an dem der Unfall stattgefunden hatte. Dieser zornigen Frage gegenüber wagte er es aber nicht, das einzugestehen, und deshalb klang seine Antwort sehr diplomatisch:

„Wenn Sie es nicht wünschen, werde ich in meinem nächsten Briefe nichts davon erwähnen.“

„Ich bitte ausdrücklich darum. Man hat in Konstantinopel schwerlich Interesse für solche Dinge, wenn man sich in so vortrefflicher Gesellschaft befindet.“

Die Worte klangen in herbster Bitterkeit, aber der Geheimrat hielt es für besser, die Anspielung nicht zu verstehen.

„Elfriede ist allerdings in guter Gesellschaft,“ sagte er mit anscheinender Unbefangenheit. „Ich erzählte Ihnen ja, daß sie in Kairo mit Mister und Mistreß Thornton zusammentraf, der englischen Familie, bei der sie im Sommer zum Besuch war. Sie hatten schon damals dies Zusammentreffen verabredet und machten nun gemeinschaftlich die ganze Reise.“

„Mit dem unvermeidlichen Anhängsel, dem geistreichen Herrn Ferdinand Wellborn?“

„Ja, den scheinen sie allerdings nicht losgeworden zu sein! Von Aegypten ist er mit nach Palästina gegangen, von da nach Konstantinopel, und ich bin überzeugt, er taucht auch in der Schweiz auf. Ich fürchte jetzt auch, er steuert auf ein ganz bestimmtes Ziel los, und solch ein unermüdliches und beharrliches Werben wirkt schließlich bei jeder Frau. Elfriede besonders ist unberechenbar in mancher Hinsicht. Wenn sie sich wirklich überreden ließe, ihr Jawort zu geben, dann –“

Robert stand plötzlich auf und griff nach seinem Hute.

„Dann verdient sie einen solchen Gatten,“ sagte er mit äußerster Schroffheit. „Ich wünsche der gnädigen Frau Glück dazu.“

„Sie wollen schon fort?“ fragte Rottenstein bestürzt. Er war ärgerlich auf sich selbst, er wußte es ja längst, daß Adlau die Berührung dieses Punktes nun einmal nicht vertrug, und hatte sich doch dazu verleiten lassen.

„Sie sind ja kaum eine halbe Stunde hier gewesen,“ fuhr er bittend fort. „Haben Sie es denn so eilig?“

„Jawohl, ich will noch nach dem Reichenauer Forste und mir den dortigen Bestand ansehen. Das Waldrevier soll verkauft werden, es wurde mir angeboten und es liegt mir sehr bequem. Da heißt es, sich rasch entschließen und zugreifen. Also auf Wiedersehen!“

Er ging nach flüchtigem Gruße; der alte Herr blickte ihm nach und schüttelte den Kopf.

„Er kann’s nicht verwinden – trotz alledem!“ sagte er halblaut. „Er wirtschaftet zwar in Brankenberg herum, daß einem Hören und Sehen vergeht, aber Freude hat er nicht daran, und dies Einsiedlerleben kommt auch nur von dem Groll und der Verbitterung her. Ja ja, Friedel, den Robert hast du auf dem Gewissen!“

Ob Elfriede wirklich so ganz gleichgültig war gegen die Nachricht, die er ihr geschrieben hatte? Man hatte ihn damals mit der Schreckensbotschaft vom Schreibtische fortgerufen, und als er zurückkam, noch ganz unter dem ersten Eindruck des Unfalls, der im Anfange gefährlich genug schien, hatte er nur eine Nachschrift unter den halb vollendeten Brief gesetzt: „Ich komme eben von Brankenberg, wo Robert schwer verwundet liegt. Ein Sturz mit dem Pferde – es steht leider alles zu befürchten!“

Das war ja nun glücklicherweise ganz anders gekommen, aber antworten mußte man doch wenigstens auf eine derartige Meldung.

Der Geheimrat saß allein bei seinem Glase, aber der Wein schmeckte ihm nicht mehr, und er versank in trübe Gedanken. Nun kam der Sommer, die schönste Zeit am Rhein, und andere kamen aus weiter Ferne, um das zu genießen, aber er selbst mußte sein behagliches Heim verlassen und auswandern, nach der großen, von Menschen überfüllten Sommerfrische der Schweiz. Es blieb ihm ja nichts anderes übrig, wenn er sein einziges Kind wiedersehen wollte. Elfriede hatte ihm in ihren Briefen mit vollstem Nachdruck wiederholt, sie werde nie wieder Lindenhof betreten, solange der Herr von Brankenberg in seinem Schlosse wohne. Bei der Nähe der beiden Orte hätte sich allerdings eine Begegnung nicht vermeiden lassen!

Da hieß es also wieder monatelang in ungemütlichen Hotelzimmern wohnen und den ganzen Lärm des Reiseverkehrs aushalten, der dann auf seiner Höhe stand. Da ging es wieder Tag für Tag hinaus, auf alle möglichen Berggipfel, zu Pferd, zu Wagen, mit den Bahnen, eine ruhelose Hetzjagd vom Morgen bis zum Abend. Diesmal aber dachte der geplagte Vater nicht daran, durchzugehen, er hatte genug an dem einen Male.

Er griff schließlich nach der Zeitung, um auf andere Gedanken zu kommen, und hatte wohl eine Stunde lang gelesen, da fuhr draußen am Gitterthor ein Wagen vor. Er sah auf: die beiden Koffer deuteten auf Fremde und der Herr, der soeben ausstieg, schien auch den Kutscher nach dem Namen des Landhauses zu fragen. Rottenstein wurde aufmerksam, die Gestalt kam ihm so bekannt vor. Das konnte doch unmöglich – aber jetzt kam der junge Mann durch den Garten, im eleganten, hellen Reiseanzuge, einen Strohhut auf dem sorgfältig gekräuselten Haar, den unvermeidlichen Bädeker in der Hand – wahrhaftig, das war Ferdinand Wellborn und kein anderer!

Dem Geheimrat fuhr der Schrecken in alle Glieder. Das konnte nur einen Grund haben. Elfriede hatte ihr Jawort gegeben und ihr Verlobter kam nun, um sich den väterlichen Segen zu holen. Eine andere Erklärung gab es gar nicht für dies plötzliche Auftauchen.

„Friedel, das hättest du mir und dem Robert doch nicht anthun sollen!“ stöhnte der alte Herr verzweifluugsvoll. „Solch einen Schwiegersohn, das halte ich nicht aus!“

Wellborn kam bereits die Stufen der Veranda herauf, prallte aber förmlich zurück, als er den Hausherrn erblickte, den das Weinlaub seinem Blick bisher entzogen hatte.

„Herr Geheimrat – Sie sind wirklich noch am Leben?“

„Warum soll ich denn nicht am Leben sein?“ fragte der Geheimrat, der seinen künftigen Schwiegersohn in ziemlich gereizter Stimmung empfing. „Haben Sie vielleicht etwas dagegen?“

[511] „O nein, durchaus nicht – ganz im Gegenteil! Aber es ist doch merkwürdig, daß Sie so dasitzen!“

„Ich finde es noch weit merkwürdiger, daß Sie da sind. Ich glaubte Sie in Konstantinopel.“

„Ja, dort war ich noch vor drei Tagen, aber jetzt bin ich hier,“ sagte Ferdinand verwirrt. „Sie sind also wirklich ganz munter und lebendig?“

„Das sehen Sie doch!“ rief der alte Herr, höchst beleidigt durch diesen fortwährenden Zweifel an seiner Lebendigkeit. „Haben Sie vielleicht geglaubt, mich als Leiche zu finden?“

„Ja, das glaubten wir allerdings – das heißt, wir fürchteten es,“ verbesserte sich Wellborn schnell, als jener entrüstet auffuhr. „Die gnädige Frau war in Todesangst und wollte auf der Stelle abreisen, die Kammerjungfer erklärte, in den zwei Stunden nicht packen zu können, da wurde sie einfach mit dem Gepäck zurückgelassen. Die Frau Baronin nahm nur das Allernotwendigste mit – mich hat sie auch mitgenommen. Das heißt, sie wollte es durchaus nicht, aber Mistreß Thornton bestand darauf, daß sie in dieser Angst und Aufregung nicht allein reisen dürfe – und die Kammerjungfer wird mit den Koffern nachkommen.“

„Aber so erklären Sie mir doch endlich die Ursache!“ unterbrach ihn Rottenstein, der bei diesem ohne jede Pause hervorgesprudelten konfusen Bericht die Geduld verlor. „Ich verstehe kein Wort von der ganzen Geschichte, so reden Sie doch vernünftig!“

Der Aufgeregte mochte es wohl selbst fühlen, daß sein Vortrag einigermaßen der Klarheit entbehrte, und so fing er denn noch einmal von vorn an.

„Wir waren in Konstantinopel, mit unseren englischen Reisegefährten, da kam der Unglücksbrief, mit der Nachricht von Ihrem Unfall, von dem schweren Sturze. Mister Thornton wollte erst telegraphisch nähere Nachrichten einziehen, aber die gnädige Frau wollte nichts davon hören und beschloß die sofortige Abreise. So nahmen wir denn den Orient-Expreßzug und sind nur so durch die Länder geflogen, es war eine höchst anstrengende Fahrt. Und nun sitzen Sie hier bei einer Flasche Wein und man sieht Ihnen gar nichts mehr an. O, das ist merkwürdig, höchst merkwürdig!“

Dem Geheimrat ging jetzt ein Licht auf und sein ganzes Gesicht verklärte sich dabei. Das also war die Wirkung jener Nachricht aus Brankenberg gewesen! Nun kommst du doch, Friedel, und noch dazu mit dem Orient-Expreßzug! triumphierte er innerlich, aber er sah doch ein, daß er den Vorwand bestätigen müsse, den seine Tochter für ihre plötzliche Abreise erfunden hatte. „Ja, die Geschichte war gar nicht so gefährlich, als sie anfangs aussah,“ sagte er im gemütlichsten Tone. „Ich bin allerdings die Treppe heruntergefallen –“

„Nein, Sie fielen ja in den Graben, weil der Wagen ein Rad verlor,“ berichtigte Wellborn, der die Sache viel genauer wußte als der Betroffene selbst.

„Richtig, in den Graben! Ich weiß das nicht mehr so genau, mein Kopf hat doch etwas gelitten. Eine kleine Gehirnerschütterung, die aber Gott sei Dank nichts auf sich hatte. Doch nun sagen Sie mir vor allen Dingen, wo ist denn eigentlich meine Tochter?“

„Ist sie denn noch nicht hier?“ fragte Ferdinand höchst betroffen. „Mein Gott, sie hat mich ja schon vor zwei Stunden verlassen und einen Fußweg nach Lindenhof genommen, der bedeutend näher sein soll als die Fahrstraße – durch den Reichenauer Forst, wie sie sagte.“

Der alte Herr sprang vom Stuhle auf. Der Reichenauer Forst! Da gab es nur einen Fußweg und der Wald war überhaupt nicht so groß, daß man sich darin verfehlen konnte. Da lief die Friedel dem Robert ja geradezu in die Arme! „Bravo!“

Er hatte das letzte Wort ganz laut gerufen und fügte nun erklärend hinzu:

„Ich freue mich nämlich sehr, daß meine Tochter da ist!“

„Bitte, vorläufig ist sie noch nicht da,“ warf Ferdinand mit besorgter Miene ein. „Wir fanden keinen Wagen auf der kleinen Station, wo wir ausstiegen; es mußte erst in das Dorf geschickt werden, und der Stationsvorsteher sagte, es könne wohl eine Stunde dauern. So lange wollte die gnädige Frau aber nicht warten, sondern zu Fuß vorausgehen. Ich wollte sie natürlich begleiten, aber sie meinte, ich müsse bei dem Gepäck bleiben. Das that ich denn auch und habe die Koffer gleich mitgebracht.“

Der gute Ferdinand erzählte das ganz naiv, ohne zu merken, welche klägliche Rolle er dabei spielte. Er war es freilich längst gewohnt, von der Dame seines Herzens als eine Art höherer Kammerdiener behandelt zu werden, der auf der Reise alles nötige besorgte, und den man dann, je nach Bedarf, entweder mitnahm oder bei dem Gepäck zurückließ, das fiel ihm gar nicht mehr auf. Geheimrat Rottenstein aber wurde jetzt auf einmal die Liebenswürdigkeit selbst. Er lud den jungen Mann zum Sitzen ein, bot ihm Wein an und äußerte gar keine Besorgnis wegen des Ausbleibens seiner Tochter. Sie kenne den Weg ja genau, man müsse eben warten. Ihm war diese Verspätung der sicherste Beweis, daß Elfriede „jemand“ begegnet sei.

Wellborn war sehr angenehm berührt von dieser Liebenswürdigkeit. Er nahm Platz und begann zu erzählen, wobei er wie gewöhnlich alles mögliche durcheinander schwatzte. Zunächst von der Reise, die er das Glück gehabt hatte, in Gesellschaft der gnädigen Frau zu machen. Es herrsche so unendlich viel Sympathie zwischen ihnen beiden, die Frau Baronin liebe das Reiseleben, er auch, er habe sich jetzt sogar zu einer Reise um die Erde entschlossen. Dann kam er plötzlich ganz unvermittelt auf seine Fabrik, die schon seinen Papa zum reichen Mann gemacht habe und fortwährend glänzende Geschäfte mache. Er habe zwar nicht Rang und Titel zu bieten, aber sonst ständen alle Annehmlichkeiten des Lebens zu Gebote, ihm, dem glücklichen Erben, und einem Wesen, das er nicht nennen wolle, das aber vielleicht erraten werde, da es dem Herrn Geheimrat sehr nahe stehe – kurz, er steuerte, zwar noch etwas schüchtern, aber doch unverkennbar, auf den väterlichen Segen los.

Das hatte nun zwar jetzt keine Gefahr mehr, aber der Geheimrat sah doch ein, daß er es nicht zu einem förmlichen Antrage kommen lassen dürfe. Er lenkte deshalb rasch ab und erkundigte sich angelegentlich nach dem Befinden des Wetterglases.

In dem Gesicht des jungen Mannes zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei dieser Frage, aber er zog sofort das Glas hervor, das er natürlich wieder bei sich hatte, stellte es auf den Tisch und betrachtete es mit nachdenklicher Miene.

„Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte,“ gestand er. „Denken Sie nur, mein Wetterglas stand in Aegypten fortwährend auf Regen, monatelang – und am Nil regnet es ja überhaupt nicht.“

„Da hat sich das Ding eben geirrt, das passiert ihm ja gewöhnlich,“ meinte der alte Herr wohlwollend. „Da hat mein Gärtner ein zuverlässigeres Wetterglas. Sein Laubfrosch saß gestern abend trotz des Regens auf der höchsten Stufe seiner Leiter, und heut’ haben wir wirklich herrliches Wetter.“

„Das zeigt mein Glas ja auch an!“ rief Wellborn triumphierend. „Da sehen Sie selbst – Beständig – höchster Stand! Nein, wie mich das freut!“

„Wohl weil es so selten vorkommt?“ sagte der Geheimrat, aber Ferdinand lächelte etwas verschämt.

„O nein, aus einem anderen Grunde. Ich bekenne mich da einer gewissen Schwäche schuldig. Es ist eine Art Aberglaube – lachen Sie nur, Herr Geheimrat – aber ich nehme diesen günstigen Stand als ein glückliches Vorzeichen für mein Eintreffen in Ihrem Hause, für einen Wunsch, eine Hoffnung, die ich noch nicht nennen will, deren Erfüllung mich aber zum Glücklichsten der Sterblichen –“

Da steuerte er schon wieder auf den Segen los. Rottenstein mußte zum zweitenmal dazwischen fahren, und diesmal erkundigte er sich mit krankhaftem Eifer, wie weit denn das große Reisewerk gediehen sei. Er empfing auch ausführlichen Bescheid. Die Reisebeschreibung war fertig und sollte demnächst erscheinen, in glänzender Ausstattung, natürlich auf Kosten des Verfassers, dessen Mittel ihm das ja erlaubten. Damit geriet Ferdinand wieder ins Schwatzen und fand kein Ende dabei.

Der alte Herr hörte so wenig zu wie damals uuter den Oliven, aber heute schlief er nicht ein, sondern schwelgte in dem erhebenden Bewußtsein, schließlich doch erfolgreich eingegriffen zu haben, wenn auch ganz absichtslos. Er war es ja doch gewesen, der die Nachricht aus Brankenberg gesandt hatte.

[542] Der Reichenauer Forst zog sich dicht an der Grenze von Brankenberg hin. Es war ein prächtiger Laubwald, dessen mächtige Baumkronen im Sommer tiefen, kühlen Schatten spendeten; jetzt flutete der Sonnenschein noch hell durch die Zweige, die das erste zarte Laub trugen, er glitzerte zwischen den Stämmen und spielte in goldenen Lichtern auf dem Boden, wo der Waldmeister duftete und allerlei lustiges Frühlingsleben summte und sich regte.

Etwas abseits von dem schmalen Fußwege, der sich durch den ganzen Forst schlängelte, lag ein schattiges Plätzchen. Das grüne Unterholz, das schon reicheres Laub trug, war hier hoch aufgeschossen und in seinem Schutze plätscherte ein kleiner Waldbrunnen, kunstlos in einer Röhre von Baumrinde aufgefangen. Der helle Wasserstrahl sprudelte aus mosigem Gestein hervor, das von blühenden Ranken dicht umsponnen war, und ein Wildrosenstrauch, ganz übersät mit zarten, rosig angehauchten Blüten, neigte sich tief herab auf den einsamen Quell.

Neben den Steinen, auf dem moosbedeckten Boden ausgestreckt, lag Robert Adlau; aber er schien sich wenig um den Forstbestand zu kümmern, den er doch besichtigen wollte. In finsteres Sinnen verloren, blickte er unverwandt in das niederrieselnde Wasser.

Jetzt, wo er allein war und keinem fremden Auge mehr standzuhalten brauchte, trat der Zug verbissenen Schmerzes in seinem Gesichte deutlicher hervor. Sein alter Freund hatte ganz recht gesehen, der Mann konnte noch immer nicht verwinden, was der Jüngling einst verloren hatte; es ließ ihn nicht los. Wohl hatte er geglaubt, es sei vergessen und begraben, als er aus der Ferne zurückkehrte: da kam jene Begegnung und da flammte die alte Jugendliebe hell wieder auf. Jetzt wußte er es freilich, daß sie nicht gestorben war, aber das füllte die Kluft nicht aus, die sich von neuem aufthat zwischen zwei Menschen, die sich einst so nahe standen. Sie hatten es eben verlernt, einander zu verstehen.

Ein Mann wie Adlau war freilich nicht geschaffen, sich in schmerzlicher Sehnsucht zu verzehren; im Gegenteil, er grollte bitter mit der Frau, die ihren Starrsinn so wenig beugen wollte, wie er den seinen, aber vergessen konnte er sie nicht. Was half es, daß er sich in die Arbeit stürzte und sein Brankenberg zu einem ganz neuen Reiche umschuf: er hatte keine Freude daran! In jeder einsamen Stunde regte sich wieder das alte Weh und regte sich um so schärfer, je trotziger er versuchte, es niederzuhalten, es war stärker als er.

Er hatte lange so dagelegen und erinnerte sich nun endlich, daß es Zeit sei, zu gehen. Mit einer unwilligen Bewegung [543] schüttelte er die Träumerei ab und richtete sich halb empor, aber er verharrte wie gebannt in dieser Stellung. Durch den frühlingslichten Wald, der noch einen vollen Einblick gestattete, kam eine Dame, ganz allein. Sie war noch in ziemlicher Entfernung, aber dem einsamen Manne stockte doch der Atem beim Anblick der schlanken Gestalt in dem grauen Reisekleide. Sein starres, ungläubiges Staunen hielt eine Weile an, dann blieb ihm kein Zweifel: es war Elfriede von Wilkow.

Sie kam rasch näher, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Die Augen zu Boden gesenkt, eilte sie vorwärts, wie gejagt von einer inneren Angst. Jetzt betrat sie den kleinen Seitenpfad, der, eine Windung des größeren Weges abschneidend, zum Waldbrunnen führte, jetzt erreichte sie diesen, da sprang Robert auf und trat ihr entgegen.

Ein Aufschrei rang sich von den Lippen der jungen Frau, totenbleich, bebend an allen Gliedern, blickte sie auf den Mann, den sie tödlich verwundet, sterbend glaubte und der nun hier mitten im Walde ihr gegenüber stand. Das war zu viel für ihre schon durch die Angst erschöpfte Kraft, sie schwankte und griff nach den Holunderzweigen, als suchte sie einen Halt. In demselben Augenblick war Robert aber auch schon an ihrer Seite und stützte sie.

„Um Gottes willen, was ist Ihnen? – Habe ich Sie erschreckt? – Elfriede!“

Erst seine Stimme, seine unmittelbare Nähe schienen die junge Frau zu überzeugen, daß diese Erscheinung Wirklichkeit sei. Ihr Blick glitt scheu und fragend über ihn hin, er war wohl bleicher als sonst, aber doch unverändert; jetzt sah sie auch die Binde um seine Stirn, ein wirkliches Zeichen des Unfalls, und mit der Erkenntnis seiner Rettung kam ihr auch die Besinnung zurück. Mit einer raschen, beinahe heftigen Bewegung machte sie sich los von dem stützenden Arme.

„Mir ist nichts, gar nichts!“ sagte sie, mit einem vergeblichen Versuche, sich zu fassen. „Sie traten nur so plötzlich hervor – ich war in der That erschrocken.“

Sie ließ sich auf einem der moosbewachsenen Steine nieder, notgedrungen, denn ihre Füße trugen sie nicht mehr. Adlau war zurückgetreten, die alte Gereiztheit erwachte wieder in ihm bei der fluchtähnlichen Bewegung, mit der Elfriede sich ihm entzog. Er ahnte ja nicht, daß sie von seinem Unfall etwas wußte, konnte nicht erraten, was sie hergeführt hatte. Aber sie war so bleich, sie zitterte noch immer, und dann ihr Aufschrei, als sie ihn erblickte; schwankend zwischen Unwillen und aufflammender Hoffnung, stand er vor ihr, aber seine Lippen waren fest zusammengepreßt. Die junge Frau brach endlich das beklemmende Schweigen.

„Ich bin auf dem Wege nach Lindenhof,“ erklärte sie leise. „Ich will zu meinem Vater.“

„Und ich komme eben von ihm,“ fiel Robert ein. „Er ahnt noch nichts von Ihrer Ankunft, Sie wollen ihn vermutlich überraschen.“

In das bleiche Gesicht Elfriedens stieg eine helle Glut bei dem Gedanken an die Veranlassung ihrer Reise. Sie hatte in besinnungsloser Angst zu dem Vater gewollt, um mit ihm nach Brankenberg zu eilen – der Todesgefahr gegenüber fielen ja alle Schranken, alle Rücksichten. Aber jetzt stand Robert lebend vor ihr, jetzt durfte er nicht ahnen, was sie hergetrieben hatte, um keinen Preis!

„Es gilt allerdings eine Ueberraschung,“ bestätigte sie, und es gelang ihr wenigstens einigermaßen, das Beben ihrer Stimme zu beherrschen. „Ich weiß ja, wie schwer es meinem Vater wird, sein geliebtes Lindenhof zu verlassen, ich wollte ihm das ersparen, und dann – dann hatte ich auch Sehnsucht nach unserem Rhein.“

„Nach unserem Rhein! Gilt er Ihnen wirklich noch dafür?“

„Wie vorwurfsvoll das klingt! Trauen Sie mir denn gar kein Heimatsgefühl zu?“

„Für den kalten grauen Norden? Für die Enge der deutschen Verhältnisse? Damals in Korfu hatten Sie nur Spott dafür.“

„Nun, dann bin ich wohl dafür bestraft,“ versuchte Elfriede zu scherzen. „Ich habe diesmal im Orient thatsächlich Heimweh gehabt, Sehnsucht nach einem deutschen Frühling.“

„Wirklich? Und findet er noch Gnade vor Ihren Augen?“

Die junge Frau schwieg. Sie hatte ja nichts gesehen von all der Frühlingspracht ringsum, nicht auf ihrer Fahrt durch Deutschland, nicht auf dem Wege hierher. Vor ihrer Seele stand nur das Eine, Furchtbare: die Todesgefahr des Mannes, den sie liebte – wie sehr, das hatte ihr die Stunde gezeigt, in der sie jene Nachricht empfing. Jetzt hob sie das Auge zu ihm empor, mit einem tiefen Atemzuge der Erlösung, und dann floh es doch wieder scheu das seinige und schweifte hinaus in den sonnigen Forst, jetzt erst sah sie, daß es Lenz geworden war in der Welt.

Hier freilich zeigte sich kein südliches Landschaftsbild mit Lorbeeren und Cypressen, keine mächtigen Berggipfel ragten auf, kein tiefblaues Meer wogte fern am Horizonte, aber hier rauschte ein deutscher Wald in seinem lichten Maiengewande. Durch die zartgrünen Schleier des jungen Laubes blickte der klare Frühlingshimmel mit den weißen Wolken, die hoch oben dahinschifften, und der Sonnenschein flutete herein und durchleuchtete den ganzen Wald mit goldigem Schimmer. Von allen Zweigen sang und klang es mit süßem Gezwitscher, mit hellem Lockruf, mit jubelndem Finkenschlag, und in den Gebüschen ringsum regte sich ein Wehen, ein Summen und Schwirren ohne Ende.

Und inmitten dieses Waldwebens rauschte und rieselte der einsame Quell, der da aus dem Gestein hervorbrach mit seinem hellen Wasserstrahl, überschattet von den blühenden Wildrosen. Es klang und flüsterte in diesem Rauschen geheimnisvoll aber deutlich vernehmbar für die beiden, die sich hier so nahe und doch so fern gegenüberstanden: Habt acht! Laßt die Schicksalsstunde nicht wieder entfliehen! Sonst ist’s vorbei – vorbei!

Robert harrte vergebens einer Antwort auf seine Frage, sein Blick ruhte mit schmerzlichem Ausdruck auf dem Antlitz der jungen Frau, als er fortfuhr: „Wie lange ist es denn her, daß wir zusammen einen deutschen Frühling erlebten? Wissen Sie es noch, Elfriede? Ich zog damals hinaus, um drüben jenseit des Oceans das Glück zu suchen, aber ich hatte mir die Sache doch allzuleicht gedacht. Der Kampf um das Glück wurde zunächst nur ein verzweifelter Kampf um das Dasein überhaupt. Oft genug war ich am Unterliegen, aber da war eines, was mich immer wieder emporriß, was mir Mut und Kraft gab zu neuem Ringen, eine Hoffnung, die Erinnerung an jene Abschiedsstunde, wo meine Braut an meiner Brust lag und mir unter Thränen gelobte: ,Was auch kommen mag, Robert, ich lasse nicht von dir!’“

„Robert, ich bitte Sie – nicht diese Erinnerungen!“ Die Stimme der jungen Frau klang halb erstickt, aber er beachtete die Bitte nicht, sondern fuhr mit steigender Bitterkeit fort:

„Zwei Jahre später freilich, da erhielt ich einen Brief, der ganz anders klang. Da wurde mir mitgeteilt, daß sich ein reicher vornehmer Freier gefunden habe, der alles das bieten konnte, was mir fehlte, daß die Eltern drängten, daß – kurz und gut, ich las es deutlich zwischen den Zeilen, daß man der ‚aussichtslosen Geschichte‘ müde war. Der Frau Mutter war sie ja stets ein Dorn im Auge gewesen; als sich nun vollends eine glänzende Partie fand, da war mein Urteil gesprochen. Und du, Elfriede – du gabst mich auf!“

„Nein, du warst es, der mich aufgab!“ fuhr Elfriede mit vollster Heftigkeit auf. „Ich stand allein, schutzlos, dem unermüdlichen Werben Wilkows, dem Drängen meiner Mutter gegenüber. Sie hielt es mir täglich vor, daß ich schon halb vergessen sei, deine Briefe würden ja immer kürzer, immer spärlicher – o, ich wußte das am besten! In meiner Angst, in meinem erwachenden Mißtrauen suchte ich bei dir Schutz. Ich schrieb dir alles, und was war die Antwort? Du sagtest dich los von mir mit den wildesten Anklagen gegen mich und meinen ‚Verrat‘, mit dem Ausbruch eines maßlosen Hasses gegen den Mann, der um mich warb, und den du nicht einmal kanntest. Du gabst mir nicht mein Wort zurück – vor die Füße hast du es mir geworfen!“

Der Vorwurf mochte wohl nicht ungerecht sein, denn Robert wies ihn nicht zurück und seine Stimme klang milder, als er erwiderte:

„Meine Briefe – nun ja, die mögen kurz und karg gewesen sein, weil ich nichts Gutes zu melden hatte. Ich war ausgezogen mit dem stolzen Versprechen, uns ein Vermögen zu erringen, und sollte nun eingestehen, daß ich tagtäglich mit der bittersten Not rang! Es wollte mir ja nichts, nichts glücken! Was ich begann, schlug fehl, was ich wirklich einmal gewann, das ging wieder verloren. Und mitten in diesem verzweifelten [544] Ringen kam der Brief, den ich für eine verhüllte Absage nahm – meine Antwort ist damals nur eine Verzweiflungsthat gewesen!“

„Und mein Jawort an Wilkow war es auch!“ sagte Elfriede leise.

„Aber du wurdest doch sein Weib,“ warf Robert mit bitterem Vorwurfe ein, „und wie zum Hohne kam bei mir schon im nächsten Jahre der Wendepunkt meines Lebens. Es gelang mir, Fuß zu fassen, und als ich erst fest stand, trotzte ich auch dem Schicksale ab, was es mir bis dahin versagte. Da ging es auf einmal aufwärts mit schwindelnder Schnelligkeit, da suchte mich das Glück förmlich, nachdem es mich so lange geflohen hatte, aber da war es zu spät – ich hatte dich verloren!“

„Verloren?“ Die junge Frau sah nicht auf, sie beugte sich tief über den sprudelnden Quell, als sie kaum vernehmbar hinzusetzte: „Du bist ja frei geblieben, Robert, und ich – bin es wieder geworden!“

„Aber du bist eine andere geworden, Friedel, eine ganz andere,“ sagte er herb. „Wie du es verlernt hast, die Heimat zu lieben, so hast du auch kein Herz mehr für mich. Damals, bei unserer letzten Begegnung in Korfu, hätte ein Wort von dir unser beider Schicksal entschieden. Ich harrte darauf. Du sahst es, aber du gingst und ließest mich zum zweitenmal allein.“

„Nun, so bin ich jetzt gekommen!“ Sie hatte sich emporgerichtet und in den dunklen Augen standen heiße Thränen. „Ich kam freilich in Todesangst, aber ich kam ja doch zu dir!“

„Zu mir?“ Adlau stutzte und sah sie einen Augenblick lang verständnislos an, dann aber erriet er die Wahrheit. „Du wußtest also – du hattest erfahren –?“

„Von deinem Sturze, ja. Der Vater schrieb mir, du seiest schwer verwundet, es sei alles zu fürchten; da faßte mich die Angst, die Verzweiflung. Ich ließ mich nicht halten, sondern flog hierher. O, es waren furchtbare Stunden und Tage, aber gleichviel – ich wollte zu dir!“

Sie lehnte in ausbrechendem Weinen ihr Haupt an seine Schulter, er hatte ja längst schon die Arme ausgestreckt und sie stürmisch an seine Brust gezogen. Da versiegten denn die Thränen bald.

„Friedel!“ Die Stimme Roberts bebte, aber sie klang in vollster Innigkeit. „Friedel, wir können ja doch nicht voneinander lassen, wir haben es oft genug erprobt! Du und ich, wir gehören nun einmal zusammen, nun, so wollen wir es auch zusammen suchen, was doch keiner von uns allein gefunden hat – das Glück!“

Friedel antwortete nicht, sie schmiegte sich nur fester in seine Arme. Zu ihren Füßen rauschte und rieselte der Quell und wieder klang es empor, wie leises Flüstern, wie ein verhallendes Echo – das Glück! Das Glück!


Geheimrat Rottenstein saß noch auf der Veranda mit seinem Gaste und sah nach der Uhr: nun, meinte er, könne die Sache im Reichenauer Forst endlich erledigt sein. Wellborn, der sich die unbegreifliche Sorglosigkeit des Vaters nicht erklären konnte, war längst unruhig geworden über das lange Ausbleiben der jungen Frau. Er behauptete, es müsse ihr im Walde etwas passiert sein, und machte eben zum zweitenmal den Vorschlag, Nachforschungen anzustellen.

„Ist gar nicht nötig, da kommen sie schon!“ rief der alte Herr und wies auf das Gitterthor, wo soeben die Vermißte erschien, aber nicht allein.

„Gott sei Dank!“ sagte Wellborn. „Aber Herr Adlau ist auch dabei – natürlich, er ist ja Ihr nächster Gutsnachbar.“

„Ja, ich finde das auch ganz natürlich, aber jetzt entschuldigen Sie mich!“ rief der Geheimrat, indem er mit jugendlicher Rüstigkeit aufsprang und die Stufen hinabeilte, den Ankommenden entgegen. Wellborn erhob sich gleichfalls und schickte sich an, zu folgen. Er fand es auch „ganz natürlich“, daß Elfriede in die weit ausgebreiteten Arme des Vaters flog und sich an seine Brust warf, aber dann kam etwas, das er „merkwürdig“ fand. Der alte Herr wandte sich zu Adlau und streckte ihm die Hand hin, aber dieser umarmte ihn ohne weiteres und küßte ihn herzhaft auf beide Wangen. Das schien ja eine sehr intime Freundschaft und Nachbarschaft geworden zu sein, ob die gnädige Frau wohl damit einverstanden war? Ferdinand setzte eben den Fuß auf die Treppe, da – da legte dieser Freund und Nachbar urplötzlich den Arm um die gnädige Frau und küßte sie, hier im offenen Garten, am hellen Mittage, und sie schien ganz einverstanden damit!

Der junge Mann stand da wie eine Salzsäule. Er begriff überhaupt etwas schwer, bei diesem Anblick aber hörte sein Begriffsvermögen vollständig auf. Doch schon in der nächsten Minute ward ihm die Erklärung dafür, denn die laute, fröhliche Stimme des alten Herrn tönte bis zu ihm herüber:

„Also verlobt habt ihr euch, Kinder? Das dachte ich mir, weil die Geschichte so lange dauerte, und eine Ueberraschung war das gar nicht für mich! Ich saß bereits seit einer halben Stunde auf der Veranda und wartete auf das Brautpaar. Aber eine Freude habt ihr mir gemacht, eine wahre Herzensfreude!“

Er breitete die Arme aus, und nun fing das Umarmen wieder an. Dem unglücklichen Ferdinand wurde es ganz schwarz vor Augen. Er hatte gerade noch so viel Besinnung, sein Wetterglas vom Tisch zu raffen und damit in den Hausflur zu flüchten, der glücklicherweise auf der anderen Seite wieder hinaus und in den Hintergarten führte. Wie er eigentlich durch diesen Garten und hinausgekommen war, das wußte Wellborn dann selbst nicht. Er stand auf einmal am Ufer eines kleinen Baches, der lustig plätschernd zwischen Weinbergen dahineilte, und starrte wie geistesabwesend auf sein Wetterglas, das er krampfhaft festhielt. Dieses schändliche Glas wollte noch immer die günstige Vorbedeutung aufrecht erhalten, es stand unverrückt auf „Schön Wetter“. Da packte den jungen Mann die Wut.

„Du bist falsch, wie der, der dich erfunden hat, grundfalsch!“ brach er ingrimmig aus. „Und sie ist auch falsch, die ganze Welt ist es! Fort mit dir!“

Im weiten Bogen flog das Wetterglas hinein in die Weinreben, wo es klirrend aufstieß; aber diese außergewöhnliche Benutzung schien ihm Spaß zu machen. Es blieb nicht liegen, sondern hüpfte in lustigen Sprüngen den ganzen Berg hinunter und schließlich in den Bach. Da tauchte es noch einmal auf und verschwand dann in den Wellen. Merkwürdig, wie das ganze Dasein dieser Erfindung war auch ihr Ende!

Dem Geheimrat Rottenstein war es eine große Erleichterung, als er bei der Rückkehr in die Veranda seinen Gast nicht mehr vorfand. Man wäre doch einigermaßen in Verlegenheit gewesen, was mit Ferdinand anzufangen sei, und erriet ungefähr, weshalb er so spurlos verschwand. Der alte Herr aber fand es jetzt für gut, in die Tiefe seines Kellers niederzutauchen, um dort etwas ganz Besonderes heraufzuholen. Er nahm eben den Schlüssel, da ertönte draußen ein Lachen, so hell, so übermütig und jugendfrisch, wie er es lange Jahre nicht gehört hatte.

„Gott sei Dank, sie kann wieder lachen, meine Friedel!“ sagte er seelenvergnügt. „Das war ganz der alte Ton! Und jetzt brauche ich auch nicht mehr nach Aegypten oder gar nach Indien, jetzt ,versumpfe‘ ich fröhlich weiter hier in meinem Lindenhof!“

Zufällig hatte Robert draußen auf der Veranda dasselbe Wort ausgesprochen; er hatte seine Braut gefragt, ob sie denn wirklich entschlossen sei, in Brankenberg zu versumpfen, und damit jenes helle Lachen hervorgerufen; jetzt aber fügte er tröstend hinzu: „Aber gar zu eng wollen wir uns doch nicht einspinnen in unserem Nest. Ich bin ja auch lange genug ,da draußen‘ gewesen; da bleibt immer etwas hängen von der alten Wanderlust. Wir fliegen noch manchmal in die Welt hinaus, aber wir wissen dann doch, wo unsere Heimat ist. Wird dir das genug sein, Friedel?“

Die junge Frau war plötzlich ernst geworden und ihre Augen schimmerten feucht, als sie leise erwiderte: „Wenn du wüßtest, Robert, wie unglücklich ich gewesen bin in all den Jahren, wo sich die halbe Welt vor mir aufthat, wie öde und einsam es in mir war, während eine ganze Flut von Menschen mich umwogte! Eingestanden habe ich das freilich niemals, nicht einmal mir selber, aber sie ist mir wie ein verlorenes Paradies erschienen, jene Zeit, wo wir beide noch arm waren – und so jung, so hoffnungsreich!“

Robert lächelte nur und sah ihr tief in das Auge. „Nun, so uralt sind wir doch auch jetzt noch nicht, sollte ich meinen! Wir müssen es eben lernen, wieder jung zu sein. Den Reichenauer Forst aber kaufe ich jetzt unter allen Umständen. Da haben wir beide heute den Quell entdeckt, aus dem man sich neue Jugend trinkt und neues Leben, und den lassen wir keinem anderen, gelt Friedel? Den wollen wir hüten unser Leben lang!“