Aus meinen Theatererinnerungen

Textdaten
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Autor: Wilhelm Koffka
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Titel: Aus meinen Theatererinnerungen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 434–437
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Aus meinen Theatererinnerungen.


Von Wilhelm Koffka.


Meine Theatererinnerungen beginnen mit dem Herbste des Jahres 1843 und knüpfen an die Leipziger Bühne der damaligen Zeit an. Nicht etwa, als ob nicht auch aus früherer Zeit Bühnenreminiscenzen in mir wach wären, vielmehr weiß ich mich noch genau der ersten Theatervorstellung, welche ich als achtjähriger Knabe im Jahre 1830 in meiner Vaterstadt Breslau sah, zu erinnern; es war Raimund’s „Alpenkönig und Menschenfeind“, und der jugendliche Zuschauer oben auf der Galerie in dem Theater an der „kalten Asche“ – so hieß der alte Breslauer Kunsttempel, berühmt in der Kunstgeschichte durch Ludwig Devrient, der hier seine Blüthezeit erlebte, und durch Holtei’s unübertreffliche Schilderungen in seinen „Vierzig Jahren“ – der junge Knabe war da, als die Lampen eine nach der andern angezündet wurden und die Musiker allmählich an ihre Pulte traten und zu stimmen anfingen, und als endlich das dicke Haupt des Musikdirectors Luge am Pulte erschien und die Musik begann, da ergriff ihn jener heilige Schauer, den die Jugend zu empfinden pflegt, wenn sie zum ersten Male vor den Geheimnissen steht, welche der Theatervorhang verhüllt, und der Dinge harrt, die da kommen sollen. Der Leipziger Bühne trat ich zuerst mit gereifterer Anschauung und der Fähigkeit, Theater und Theaterkunst zu verstehen und zu würdigen, gegenüber.

Als ich nach Leipzig kam, führte Ringelhardt die Direction des dortigen Theaters. Schon stand das Ende seines Regiments bevor, da er eine Verlängerung seiner Pacht nicht erhalten hatte, dieselbe vielmehr einem neuen Bewerber, in der Person des Dr. Schmidt, übertragen worden war. Dies hatte jedoch auf die Leitung des Geschäfts nicht den mindesten Einfluß. Dasselbe ging in jeder Hinsicht mit musterhafter Ordnung; wer es nicht wußte, konnte nicht merken, daß ein Wechsel in der Directionsführung so nahe bevorstehend sei. Ich habe im Laufe der Jahre die verschiedensten Formen der Bühnenleitungen und die mannigfaltigsten Schattirungen in den Persönlichkeiten und Charakteren der Bühnenvorstände zu beobachten Gelegenheit gehabt: eine solche Sicherheit, Sachkenntniß und praktischer Blick im Allgemeinen, eine größere Geschicklichkeit in der Behandlung der Bühnenmitglieder im Besonderen, ist mir nirgends vorgekommen, wie bei Ringelhardt. Bevorzugungen irgend welcher Art kannte er nicht; mit gleicher Gemessenheit trat er Jedem entgegen; er zeigte überall, daß er mit fester Hand die Leitung führe, ohne in jene Tyrannenmanieren zu verfallen, wie sie in der damaligen Zeit manche Theatermonarchen, wie z. B. Cerf in Berlin, Carl in Wien, anzunehmen beliebt hatten. Von Rollenstreitigkeiten, Rollenzurückschickungen etc. habe ich damals nie etwas gehört; jedes Mitglied that nach Kräften seine Schuldigkeit, und plagte vielleicht Diesen oder Jenen einmal eine theatralische Grille, er wußte sie bald zu unterdrücken, weil ihm bekannt war, daß die Direction ihr nicht die geringste Lebensdauer verstatten würde. Ich habe auch niemals wieder eine solche Collegialität gefunden, wie sie unter den Angehörigen des Leipziger Theaters damals herrschte. Mag dies zum Theil an den betreffenden Persönlichkeiten der Mitglieder selbst gelegen haben, wesentlich, oder vielleicht sagt man richtiger, am wesentlichsten trug dazu die bestimmte, etwas vornehm abwehrende Art bei, in welcher Ringelhardt die Grenze zwischen Direction und Personal zu ziehen und gegen Jeden ohne Ausnahme festzuhalten verstand. Uebrigens war seine Leipziger Bühnenführung auch durchweg von Glück begünstigt gewesen. Die zunehmende Frequenz der Leipziger Messen in den zehn Jahren seiner Direction kam ihm natürlich in materieller Hinsicht sehr zu statten; die Production an Novitäten mit klingenden Cassenresultaten war überdies eine sehr reiche; die Meyerbeer’schen, Halevy’schen, Auber’schen, Marschner’schen Opern kamen eine nach der andern und machten volle Häuser; der Gagen-Etat war im Verhältniß zu den Anforderungen der heutigen Zeit verschwindend klein – kein Wunder, daß Ringelhardt am Ende seiner Leipziger Zeit ein wohlhabender, für die damaligen Begriffe sogar reicher Mann war, ein Glücks- und Vermögenswechsel, den ihm einzig und allein Leipzig geschaffen hatte.

Die Anzahl der Theatermitglieder war genau den Bühnenforderungen entsprechend, jedes Fach besetzt, und damit die Möglichkeit gegeben, in der Oper, wie im Schauspiel allen Bedürfnissen eines großen Repertoires zu genügen. Da mehrere und zwar hervorragende Kräfte in der Oper und im Schauspiel verwendet werden konnten, so ließ sich die numerische Dürftigkeit des Personals vollständig ausgleichen. Unter diesen beidlebigen Künstlern standen in erster Linie Albert Lortzing und Caroline Günther. Lortzing spielte im Schauspiel jugendlich komische, Bonvivants- und Liebhaberrollen, z. B. den „Erbprinz von Bayreuth“ in „Zopf und Schwert“, den „Baron“ im „Ball zu Ellerbrunn“, den „Pierrot“ in „Muttersegen“; in den Opern sang er die Tenorbuffopartien, den „Peter Iwanow“ ist seinem „Czar und Zimmermann“, den „Paul“ in der „Schweizerfamilie“ und ähnliche.

Zu der Zeit, da ich Lortzing auf der Bühne sah, hatte er bereits den Entschluß gefaßt, den Brettern als Darsteller zu entsagen und schon die Capellmeisterstelle von der neuen Direction in der Tasche; das Komödienspielen mochte ihm also wohl wenig Vergnügen mehr machen. Nichtsdestoweniger erschien der damals in voller Manneskraft stehende Künstler immer eifrig in seinem Berufe, für welchen er eine sehr angenehme Persönlichkeit mitbrachte; sein blühendes, hübsches Gesicht mit den schönen, blitzenden Augen und dem unverkennbaren Ausdrucke von Freundlichkeit und Herzensgüte empfahl ihn Jedem, der ihn sah, von Hause aus auf das Wärmste, und was vielleicht an Stärke des Talents ihm mangelte, das wußte er durch eine sehr große Bühnengewandtheit zu ersetzen. Im persönlichen Umgange war er von hinreißender Liebenswürdigkeit. Jeder verkehrte gern mit ihm, seine Collegen nicht minder, wie die hervorragendsten Persönlichkeiten aus den geselligen Kreisen, an denen Leipzig nie arm war, und die gerade in jener Zeit besonders gern die geachteten Mitglieder der dortigen Bühne unter sich sahen An [435] launigen Einfällen, an gesunder Munterkeit fehlte es ihm nie, im Leben wie auf der Bühne.

Ich erinnere mich einer Aufführung des bekannten Rührstückes „Muttersegen oder die neue Fanchon“, das sich, von den vorhandenen Kräften vortrefflich gegeben, großer Beliebtheit erfreute und sehr oft wiederholt wurde. Die Dessoir spielte die „Marie“, die Günther die „Chonchon“ unvergleichlich, Baudius den „Commandeur“, Reger den „Loustalot“, Lortzing den „Pierrot“. Eines Abends, da die Vorstellung des Stückes wieder stattfand, war irgendwo großer Ball, zu welchem Reger und Lortzing Einladungen erhalten hatten. Natürlich lag ihnen daran, so früh wie möglich aus dem Theater zu kommen, aber unglücklicher Weise dauert das Stück ziemlich lange, und gerade im letzten Acte haben Loustalot und Pierrot eine sehr lange, lange Scene, in welcher der junge Savoyarde dem alten Vater Mariens seine mannigfachen Erlebnisse in Paris zu erzählen hat. Jedoch Lortzing wußte Rath. Anstatt mit der Erzählung anzufangen, sagte er zu Reger: „Kommt, Vater Loustalot! Ich will Euch die Geschichte draußen erzählen,“ und damit gingen Beide ab, und das Stück war um mehr als zwanzig Minuten früher aus.

Als Componist hatte Lortzing damals schon seinen Ruf in der deutschen Bühnenwelt durch „Czar und Zimmermann“ und „Wildschütz“ gegründet, aber er war noch lange nicht in dem Besitze der Berühmtheit und Beliebtheit, welche ihm seine Werke leider erst nach seinem Tode eintrugen, und deren sie sich heute überall zu erfreuen haben. Die beiden bekanntesten Opern, welche Lortzing in Leipzig geschaffen hat, und bei deren Composition er offenbar die Eigenthümlichkeiten des dortigen Opernpersonals im Auge gehabt hat, wurden dort ganz ausgezeichnet gegeben. Die wichtigen Buffopartien des „Van Bett“ und „Baculus“ waren ganz für Berthold’s originelle Persönlichkeit und Künstlereigenthümlichkeit berechnet. Ein ausgezeichnetes Exemplar sogenannter trockener Komik, regte schon seine Erscheinung zur Heiterkeit an, die anhielt, so lange er sich auf den Brettern befand. Die Baritonpartien, welche ebenfalls in Lortzing’s Opern eine große Rolle spielen, der „Czar Peter“ in der einen, der „Graf“ in der andern, hatten eine glänzende Vertretung in Kindermann, einem Sänger, der heute noch mit beinahe ungeschwächter Kraft seine Stellung an der Münchener Oper behauptet, welche ihn nach seinem im Jahre 1846 erfolgten Abgang von Leipzig für sich zu fesseln wußte. Das große Glück – oder sollte man nicht lieber sagen Geschick? – welches Ringelhardt bei seinen Engagements gehabt hat, zeigte sich hier recht augenscheinlich. Aus dem Berliner Chor heraus war der junge Kindermann frischweg für erste Partien von Ringelhardt engagirt worden, und sehr bald stellte sich heraus, wie glücklich der Griff gewesen war. Die klangvolle, markige Stimme des Sängers fand schnell Gelegenheit sich hervorzuthun; die schlanke, große Figur des jungen Mannes, sein ausdrucksvolles Gesicht, der schön geformte Kopf, alles dies vereinte sich, ihn zu einer ungemein interessanten Erscheinung zu machen, welche den genannten Partien der Lortzing’schen Opern vortrefflich zu Statten kam. Als „Czar“ wurde er bald neben den besten Repräsentanten dieser Partie in der damaligen Zeit, Poeckh in Braunschweig, Biberhofer, Hauser bekannt; als „Graf“ im „Wildschütz“ hat er wohl alle Vertreter der Rolle übertroffen. Für seine Soubrettenpartien konnte der Componist, der zugleich sein eigener Librettist war, kein glücklicheres Original finden, als die damalige Leipziger Soubrette, die Günther. Ringelhardt hatte, wie schon bemerkt, einen ungemeinen Treffer bei seinen Engagements. Den glücklichsten hat er unzweifelhaft gemacht, da er Caroline Günther von Braunschweig nach Leipzig holte. So viel Talent mit so glücklicher Persönlichkeit gerade für das Fach der Soubrette in der Oper, wie im Schauspiele wird selten wieder in einer Künstlerin sich so glücklich vereint finden, wie in diesem langjährigen Lieblinge des Leipziger Publicums, das seiner Günther (seit ihrer in der ersten Zeit der Dr. Schmidt’schen Direction im Jahre 1844 erfolgten Vermählung – ein Eheband, welches der Tod des Gatten schon im nächstfolgenden Jahre löste – Günther-Bachmann) von Anfang bis zu Ende treu blieb und noch vor Kurzem Gelegenheit hatte, bei dem plötzlichen Hinscheiden der vortrefflichen Schauspielerin, ihr Kränze und Blumen in Fülle in das Grab mitzugeben, wie es ihr dieselben so oft im Leben zu spenden gewohnt war. Zu der Zeit, da ich nach Leipzig kam, war die Günther so recht in ihrer künstlerischen Blüthe. Die Natur hatte sie auf das Vortheilhafteste ausgestattet, ihr jede Eigenschaft verliehen, welche zu einer erfolgreichen Bühnenthätigkeit gehört. Ein ungemein anziehendes Aeußere, eine metallreiche Stimme, ein durchaus lebenswarmes und frisches Naturell gaben ihr das gefügige Material zu ihren Schöpfungen, denen aber erst die Eigenart ihres künstlerischen Wesens den unwiderstehlichen Reiz verlieh, welcher sie ganz besonders fesselnd erscheinen ließ.

Der Zauber, den sie ausübte, lag zunächst allerdings in ihrer persönlichen Begabung; er würde indeß sicher nicht von solcher Nachhaltigkeit gewesen sein, wie es der Fall war, wenn die Künstlerin nicht stets mit dem vollsten Ernste an die Lösung ihrer Aufgaben, der größten wie der kleinsten, gegangen wäre, wenn sie die reichen Mittel, die ihr zu Gebote standen, nicht statt als bloße Mittel zum Zweck vielmehr als Selbstzweck hätte brauchen wollen. Mit den erforderlichen Eigenschaften für die Oper, wie für das Schauspiel ausgerüstet, mit dem entschiedensten Talente für jede Gattung von Bühnengestaltungen begabt, war ihr die vielseitigste Leistungsfähigkeit vergönnt, deren geschickte Ausnutzung der Direction wie dem Publicum zu Statten kam, jener, indem sie mit einem Mitglied mehrere Fächer deckte, diesem, weil ihm die Künstlerin in jedem Gebiete, in welchem sie erschien, gleich hohe Genüsse gewährte. Wenn die Günther heute als Susanne in „Figaro’s Hochzeit“ entzückte, so riß sie morgen als „Vicomte von Letorières“ Alles zum stürmischsten Beifall hin; „Carlo Broschi“ in „Teufels Antheil“ und Franciska in „Minna von Barnhelm“, „die Regimentstochter“ und „Puck“ im „Sommernachtstraum“, der „Ludwig“ im „Weltumsegler wider Willen“ (eine Posse, welche gerade zu der Zeit in Leipzig florirte) oder irgend ein Dienstmädchen in einer kleinen Posse – das waren beispielsweise die Rollen, die sie im bunten Wechsel des Repertoires zu spielen hatte und welchen allen von ihrer Seite das glänzendste Genüge geschah.

An der Günther hatte Lortzing für seine Marie in „Czar und Zimmermann“ und für die Baronin im „Wildschütz“ ein Prototyp, wie es sich nicht glücklicher denken ließ. Sie war wohl geeignet, den Dichter und Tonsetzer bei der Schöpfung dieser anmuthigen, pikanten Gestalten entsprechend zu begeistern. Aber auch für kleinere Partien in seinen Opern fand Lortzing manch treffliches Original. So z. B. für seinen Haushofmeister im „Wildschütz“ den recht beliebten Komiker Ballmann, dessen stehende Redensart „wie närr’sch“ eine der Charakteristik der Rolle sehr gut zusagende Verwendung erhielt. Den Peter Iwanow in „Czar und Zimmermann“ gab Lortzing selbst, die Frau Brown des Componisten Mutter, die, obschon hochbetagt, doch immer noch eine große Beweglichkeit auf der Bühne zeigte. Die Tenorpartien des „Chateauneuf“ und des Baron im „Wildschütz“ sang der erste Tenor der Leipziger Oper, Schmidt, ein Sänger nicht von bestechenden Mitteln, aber gewandt und von musikalischer Sicherheit und Geschmack.

Von Ringelhardt’s Schauspielpersonal, wie ich es bei meiner Ankunft in Leipzig vorfand, traten in den Vordergrund: die erste Liebhaberin Frau Dessoir, der Darsteller der Väterrollen Reger, und der Charakterspieler Baudius. Die Dessoir genoß damals großer Beliebtheit bei dem Leipziger Publicum. Von dem Breslauer Theater, wo sie unter Haake’s Direction mit ihrem Gatten Ludwig Dessoir engagirt gewesen war und ebenfalls zu den Lieblingen gehört hatte – ich erinnere mich, als Gymnasiast sie dort mehrmals gesehen zu haben und des ihr gespendeten enthusiastischen Beifalls Zeuge gewesen zu sein – war die junge schöne Frau nach Leipzig gekommen und nach glänzend ausgefallenem Gastspiele von dem klugen Director sofort an seine Bühne gefesselt worden. Seitdem waren zehn Jahre vergangen, die den Credit der Künstlerin immer mehr gesteigert hatten. Noch immer galten ihre Thekla, Louise, Antigone für mustergültig, noch immer erfreute man sich an der für schwärmerische Gestalten wie für die realen Persönlichkeiten junger lebenslustiger Frauen gleich glücklich gearteten Erscheinung, an ihrer stets von großem Verständniß Zeugniß ablegenden, von jeder Manier freien Darstellungsweise.

Reger wurde als Schauspieler sehr geschätzt und genoß auch wie sein Freund Lortzing, für dessen „Czar und Zimmermann“ er bekanntlich die Strophen des Czarenliedes gedichtet [436] hat, die allgemeine Achtung und Zuneigung der gesellschaftlichen Kreise. In Leipzig fand ich in ihm einen sehr achtbaren Schauspieler, der seinen Mann überall stellte und sich als eine durchaus schätzenswerthe Kraft in einem guten Schauspielensemble bewährte. So weit reichte sein Talent, gesteigert durch große Bühnengewandtheit und Erfahrung; zum Fluge in höhere Regionen, in das Reich der Phantasie, der Ideale, waren ihm keine Schwingen gewachsen.

Das Fach der Intriguants und ernsten wie komischen Charakterrollen bekleidete Baudius. Ein durch und durch routinirter Schauspieler, suchte er seine Stärke nicht sowohl in dem innerlichen Erfassen der Charaktere wie vielmehr in ihrer äußerlichen Repräsentation. Die Maske war ihm die Hauptsache. Wenn er beschäftigt war, konnte man ihn sicher schon Nachmittags um drei Uhr in’s Theater gehen sehen. Stundenlang brachte er mit dem Schminken zu, auf das er eine Sorgfalt verwendete, wie vielleicht vor ihm und nach ihm keiner seiner Kunstgenossen. Sonderling, wie er hierin war, auch sonst in seinen Gewohnheiten, gab er in der Garderobe oft Veranlassung zu den komischsten Scenen. Bei der schon erwähnten Collegialität, die unter Ringelhardt eine der schätzenswerthesten Eigenthümlichkeiten seines Personals war, fehlte es nicht an den amüsantesten Scherzen, die namentlich Lortzing und Reger während des Ankleidens sich mit Baudius zu erlauben pflegten und deren Erzählung bald die Runde in den Theaterkreisen machte und immer die allgemeinste Heiterkeit erregte.

Von großer Vielseitigkeit und Verwendbarkeit waren fast sämmtliche Mitglieder des damaligen Leipziger Theaters, die Repräsentanten der ersten Fächer sowohl wie die, welche eine secundäre Stellung bekleideten. So vor Allen Stürmer, der ja noch heutzutage der Leipziger Bühne angehört. In der Oper wie im Schauspiele thätig, verging fast kein Abend, an welchem er nicht beschäftigt war. Immer mit dem vollsten Ernste bei der Sache, von getreuester Pflichterfüllung in seinem Berufe, hielt er auch die kleinste Rolle nicht für zu unbedeutend, um ihr, so viel nur irgend in seinen Kräften stand, gerecht zu werden. Seine Gewissenhaftigkeit in allen Dingen machte ihn dem Theater nützlich, bei den Collegen geachtet und Allen, die in nähere Beziehung zu ihm traten, werth.

Endlich muß ich in der Erinnerung an die Ringelhardt’sche Theaterzeit noch einer jugendlichen Kraft erwähnen, die damals auftauchte und, an passender Stelle mit Geschick verwendet, sich sehr bald recht nützlich und überaus günstig bemerkbar machte. Die Mittel, über welche das Leipziger Ballet zu jener Zeit verfügte, waren höchst bescheiden; sie reichten gerade nothdürftig hin, um in den großen Opern die Balletmusik nicht ohne entsprechende Begleitung auf der Bühne ausführen zu lassen. Die talentvollste unter den Balletangehörigen war ein junges, hübsches Mädchen von anmuthiger Gestalt und graziösen Formen, auch von ausdrucksvoller Mimik, so daß ihr Partien wie die „Helene“ in Meyerbeer’s „Robert“ anvertraut werden konnten und von ihr mit bestem Erfolge ausgeführt wurden. Aber in der jugendlichen Ballerina schlummerte ein anderes Talent, das nur geweckt und gepflegt zu werden brauchte, um sich in günstigster Weise zu verwerthen. Es war der Keim zu einer sehr tüchtigen Schauspielerin, der bald zu Knospen und Blüthen trieb. In kleinen Rollen zuerst, dann in bedeutenderen verwendet, schuf die angehende Künstlerin eine Anzahl reizender Gestalten, deren Schmuck eben die jugendliche Anmuth und die einfache, ungekünstelte Natürlichkeit der Darstellerin war. Ihre „Titania“ im „Sommernachtstraum“, „Hermine“ im „Vicomte von Letorières“, „Renate“ in „Christoph und Renate“ hatten ebenso das Gefällige der Erscheinung wie die herzige Naivetät des Ausdrucks für sich. Die junge Dame, von der hier die Rede, war Agnes Kretzschmar, welche später als Agnes Wallner in der Theaterwelt ein großes Renommée erlangte.

Das Repertoire der Leipziger Bühne unterschied sich unter Ringelhardt in keiner Weise von dem anderer Theater. So sehr er als praktischer Theaterdirector als Muster gelten konnte, in höherer, künstlerischer Beziehung ragte er nicht hervor. Von einem bestimmten, auf poetische und ästhetische Interessen gerichteten Plane war nicht die Rede. Davon wußte man überhaupt zu jener Zeit nicht viel. An den Hofbühnen galt es meist der Befriedigung egoistischer Neigungen und wechselnder Launen, an den Stadttheatern handelte es sich nur um möglichst gute Einnahmen. Um diese zu erzielen, wurde nun Alles durcheinander gegeben, ein Zustand, der wohl auch heute noch nicht verschwunden ist, insofern aber wenigstens eine wesentliche Besserung erfahren hat, als man von der Ueberschwemmung mit französischen Bühnenstücken, welche damals fast ohne jede Auswahl, frisch, wie sie aus den Uebersetzungsfabriken hervorgingen, gegeben wurden, zurückgekommen ist und fast allerwärts für eine reichere Aufnahme der classischen Werke Sorge getragen hat, ganz besonders aber die Pflege Shakespeare’scher Werke sich angelegen sein läßt. Jene Zeit, von welcher ich hier spreche, war noch so weit zurück darin, daß man in Leipzig statt der „Bezähmten Widerspenstigen“ z. B. die verwässerte Holbein’sche Komödie „Liebe kann Alles“ gab, daß man es ruhig hinnahm und es vielleicht gar als eine beifallswürdige Besonderheit ansah, wenn an Schiller’s Geburtstag, der damals in keiner Stadt in Deutschland so gefeiert wurde wie gerade in Leipzig, das Theater, statt eines der Schauspiele des großen Dichters zur Aufführung zu bringen, ein Quodlibet von Scenen aus allen Schiller’schen Stücken vor den Augen der Zuschauer erscheinen ließ, eine Geschmacksnaivetät oder Geschmacksverirrung, von der man heute wohl kaum mehr sich einen Begriff machen kann.

Der Cassenzweck, welcher als höchstes Ziel vorschwebte, wurde durch ein möglichst buntes Repertoire, sowie durch rasche Aufnahme von Novitäten und häufige Gastspiele zu fördern gesucht. Wählerisch war man bei den Neuigkeiten durchaus nicht; was neu war, suchte man eben zu nutzen. Es kam auch wohl vor, daß ein Stück, welches man am Abend der ersten Aufführung ausgepfiffen hatte, wiederholt wurde, in der Erwartung, der vorauszusehende abermalige Lärm würde ein recht volles Haus machen. Dies war beispielsweise bei den „Geheimnissen von Paris“ der Fall, einer jämmerlichen theatralischen Bearbeitung des damals von der Leserwelt gierig verschlungenen Sue’schen Romans. Das Machwerk fiel glänzend durch, erlebte aber gleichwohl eine Wiederholung, bei welcher es abermals unter Zischen und Pfeifen zu Grabe getragen wurde.

Von den Gastspielen, welche aus jener Zeit in meiner Erinnerung haften, nenne ich zuerst das der Schröder-Devrient. Die große Künstlerin war damals nicht mehr in dem Vollbesitze ihrer Mittel, die ihr früher überall die glänzendsten Triumphe gesichert hatten. Die Stimme hatte ihre Fülle verloren, und den Ansprüchen an Höhe und Kraft konnte sie nur noch mit Mühe genügen. So versicherten Alle, welche sie in den vergangenen Jahren gehört und bewundert hatten, und die ruhmvollste Vergangenheit konnte nicht verhindern, daß sich jetzt in den lauten Beifall auch vereinzelte Zischlaute einzelner rücksichtsloser, nur mit dem Moment beschäftigter Zuhörer mischten. Gleichwohl war die Sängerin immer noch bedeutend genug, um Denjenigen, welcher nicht durch Vergleiche mit einer frühern Zeit in seiner Auffassung beschwert war, zur Bewunderung hinzureißen. Die dramatische Kraft, welche sich in ihren Darbietungen aussprach, war ebenso mächtig und überwältigend wie der Zauber ihrer persönlichen Erscheinung unwiderstehlich. Ich hörte und sah sie als „Romeo“ in der Bellinischen Oper, als „Marie“ in Gretry’s „Blaubart“ und als „Valentine“ in den „Hugenotten“. Unverwischbar sind mir die Eindrücke geblieben, welche ich von diesen in dramatischer Hinsicht vollendeten Kunstgestaltungen empfing, und so oft ich diese Opern wieder hörte, immer drängte sich mir unvermeidlich in den betreffenden Partien das Bild der unvergleichlichen Schröder-Devrient wieder auf.

In der Ostermesse, der letzten unter Ringelhardt’s Direction, gastirte Rott von Berlin und dann seine Kunstgenossin Charlotte von Hagn. Rott machte als „Richard der Dritte“ einen besonders mächtigen Eindruck auf mich. Er war ein Schauspieler, der über große Mittel verfügte, seiner Persönlichkeit wie seinem Organe nach, stark genug, um der Träger großer Rollen und großer Stücke zu sein. Der Vorwurf komödiantischer Velleitäten, etwas äußerlicher Effectspielerei, einer gewissen Manierirtheit traf ihn häufig nicht ohne Grund; doch mußte man ihm ein bedeutendes schauspielerisches Talent und vollkommene Bühnengewalt zugestehen. Oft wird, was positiv nicht ganz zweifellos erscheint, durch die Negation zur vollen Klarheit gebracht. Von allen Nachfolgern, welche Rott an der Berliner Hofbühne seither gehabt hat, ist ihm in schauspielerischer Beziehung [437] vielleicht Dessoir, sonst Keiner, gleichgekommen und in der persönlichen Begabung am allerwenigsten.

Charlotte von Hagn fesselte durch ihre Schönheit nicht minder wie durch die ungemeine Feinheit ihrer Zeichnungen und die meisterhafte Sicherheit und Beherrschung des Stoffes, mit welcher sie in und über ihren Rollen stand. Den ganzen Nüancenreichthum ihrer Virtuosität brachte sie im Lustspiele zur Anschauung, in welcher Gattung sie namentlich als „Vicomte von Letorières“, als „Christoph“ in „Christoph und Renate“ bei ihrem Gastspiel brillirte. Auch die „Margarethe“ im „Faust“ spielte sie ebenfalls mit großem Beifall, aber nicht mit allseitiger, gleichmäßiger Zustimmung, weil man statt der Unmittelbarkeit der Empfindung, der ungekünstelten Natürlichkeit zu viel Berechnung in der Naivetät und in den tragischen Formen nicht genug Gewalt der Leidenschaft gefunden haben wollte. Wie die Schröder-Devrient, so gehörte übrigens auch die Hagn zu jenen Bühnenerscheinungen, welche sich, einmal gesehen, in dem mächtigen Eindrucke auf den Zuschauer für dessen Lebenszeit zu behaupten wußten. Die Natur hatte sie wunderbar ausgestattet und die Kunst ihr alle Attribute der Majestät verliehen.