Aus dem englischen Schriftstellerleben
In jener Gegend von London welche dem Liebhaber alter Erinnerungen theuer ist, im Westen der Stadt, wohin der Seegeruch des Hafens, der Lärm der City und das Wagengerassel von Oxford- und Regentstreet nicht dringen, unter den Kastanien des Parkes und in der Nähe des Palastes von Kensington, steht seit einigen Jahren ein neues, schönes, solides Haus, aus rothem Backstein mit weißen Sandsteinecken, Säulen und Balcon – ich sage ein neues Haus, obgleich es aussieht, als ob es ein altes wäre, fast so alt, wie der [181] Palast selber, in welchem die gute Königin Anna vor anderthalbhundert Jahren Hof gehalten. Es ist in demselben Styl gebaut, und der Rauch und der Nebel der Londoner Atmosphäre haben ihm in wenigen Jahren die ehrwürdige Farbe von Jahrhunderten gegeben.
In diesem Hause, unter den Kastanien von Kensington, lebte bis zum 24. December 1863 einer der berühmtesten englischen Schriftsteller der Neuzeit, der große Humorist, der feine Menschenkenner, der geistvolle Sittenmaler – William Makepeace Thackeray, der auch in Deutschland gefeierte Verfasser des Romans: „Der Jahrmarkt des Lebens“. Nun, nachdem er sich selber auf diesem „Jahrmarkt“ rüstiger getummelt, als irgend ein Anderer, nachdem er die Welt gesehen unter jeder Beleuchtung und das Leben geprüft unter allen Verhältnissen; nachdem er ein großes ererbtes Vermögen durch unglückliche Speculationen verloren und ein größeres durch eigene Kraft, durch die Feder, wiedergewonnen, war es ihm, fast am Ende seiner Laufbahn, vergönnt, sich dieses Haus zu bauen, gleichsam die Verwirklichung seiner Träume, mitten auf den Schauplatz jener „Eitelkeiten“, die er so meisterhaft geschildert, im Styl des Jahrhunderts, das er so gut gekannt, und in jener „Vorstadt von Palästen“, welche sein Humor und seine Phantasie so gern mit den gepuderten und goldbetreßten Herren, den reifröckigen und geschminkten Frauen der alten Tage bevölkert hat. Er würde niemals eine solche Meinung von sich gehabt haben, wie Eugène Scribe, welcher an die Fronte seines Landhauses schrieb: „Wanderer, tritt ein; denn auch Du hast zu diesem Bau beigetragen“. Aber vielleicht hätte er, bescheidener und aufrichtiger, er, der Dichter der „vanitatum vanitas“, daran schreiben können: „Alles ist eitel; nur nicht das Bewußtsein Etwas gewollt, Etwas gethan und Etwas erreicht zu haben“.
Thackeray hatte dieses Haus entworfen, gebaut und eingerichtet wie irgend einen seiner Romane, deren Zeit und Scene das vorige Jahrhundert ist. Alles darin war nach demselben Geschmack meublirt, drapirt, costümirt, bis auf den Bedienten, welcher die Thür öffnete und die Fremden einließ. Dieser Bediente, der allen Freunden Thackeray’s so wohlbekannte Charles Sargent, sah aus wie das Modell jener plüschhosigen Lakaien, welche der Humorist in mehreren seiner Werke verewigt hat. Er war älter als sein Herr und hatte ihn fast auf allen seinen Lebensfahrten treulich begleitet. Auf der ersten Reise jedoch, die Thackeray noch als Knabe machte, im Jahre 1818, als er von Ostindien nach England kam, da war ein Schwarzer sein Gefährte. Thackeray war im Jahre 1811 von englischen Eltern in Calcutta geboren worden. Sein Vater war ein [182] Beamter der englisch-ostindischen Compagnie gewesen; nach dem Tode desselben kehrte seine Mutter, welche, jetzt eine mehr als achtzigjährige Matrone, in des Sohnes Haus den Sohn überlebt hat, mit demselben in die europäische Heimath der Thackeray’s zurück. Auf dieser Reise war’s, wo der Schwarze den damals siebenjährigen Knaben auf den Arm nahm, als das Schiff bei St. Helena ankerte. Er kroch mit ihm über Felsen und Hügel, bis sie einen Garten erreicht hatten, in welchem sie einen Mann auf- und abgehen sahen. „Das ist er!“ schrie der Neger; „das ist Bonaparte. Er ißt drei Schafe jeden Tag und alle Kinder, die er in seine Gewalt bekommen kann.“ – Derselbe Diener zeigte ihm später, als sie nach London gekommen waren, die Colonnaden von Carlton-House, damals die Residenz des Prinz-Regenten, der Schauplatz seiner Orgien, das Thema von mehr als einer von Thackeray’s bittersten Satiren. „Ich sehe noch die Garden,“ heißt es in einer derselben, „wie sie auf- und abschreiten vor den Gittern des Palastes. Der Palast! Welcher Palast? Der Palast steht so wenig, als der Palast von Nebukadnezar noch steht. Er ist nur noch ein Name.“ – Wo er gestanden, über dem Parke von St. James, er, der stumme Zeuge von so viel Festen des Geistes, der Schönheit und des Leichtsinns, da steht ein viel tugendhafteres Gebäude heute, eines, in dem ich selber des Oeftern gewesen: das Hotel der preußischen Gesandtschaft. Vanitas vanitatum … Eitelkeit der Eitelkeiten!
Sollen wir den Dichter, der diesen Satz des weisen Königs so glänzend illustrirt hat, mit einer solchen Beimischung von Mitleid und Wehmuth, sollen wir ihn noch einmal aufsuchen in seinem Arbeitszimmer, das er verlassen hat, um nicht wiederzukehren, an seinem Schreibtisch, auf welchem das halbbeschriebene Blatt noch liegt, dieses traurige Fragment einer Arbeit, die nicht mehr zu Ende geführt werden soll, unter seinen Büchern, die er liebte? Ach! – wie er selber einst sagte: „der Prediger von gestern ist der Gegenstand der Predigt von heute geworden.“
Thackeray’s Arbeitszimmer war gegen den Park gekehrt. Wenn er an das große Fenster trat, vor welchem die altmodige Commode und der altmodige Lehnstuhl standen, so sah er den Palast der guten Königin, deren Hof und Gesellschaft er in seinem Roman „Henry Esmond“ beschrieben, und seitwärts, über einer hohen dunkeln Mauer und zwischen uralten Bäumen konnte er das ehrwürdige Dach von Holland-House unterscheiden, einst der Wohnsitz Addison’s, dieses guten Mannes, welcher, als er den Tod nahe fühlte, seinen liederlichen Stiefsohn an’s Bett rufen ließ, damit er sehe, „wie ein Christ sterbe“, – dieses feinsten und gelehrtesten von allen Humoristen des achtzehnten Jahrhunderts, denen Thackeray in seinen Vorlesungen über dieselben ein so schönes Denkmal der Pietät errichtet. Der reichste Schmuck von Thackeray’s Arbeitszimmer war der Bücherschrank, welcher, die eine Seite desselben ganz einnehmend, fast bis an das Getäfel der Decke reichte und mit dem Gold und Grün, dem Violett und Roth der kostbaren Bände eine vorzügliche Farbenwirkung in dem sonst sehr vornehmen, sehr originellen, aber durchaus nicht prunkenden Zimmer machte. Es war jeder Comfort darin, aber kein Luxus; es war reich, aber nicht überladen. Ein dunkler Teppich bedeckte den Boden. Ein Rococospiegel hing über dem Kamin; ein paar chinesische Vasen, wie sie der Geschmack des vorigen Jahrhunderts liebte, zierten das Gesimse. Ein paar Portraits aus der Zeit von Sir Joshua Reynolds, eine oder zwei französische Landschaften hingen an seidenen Schnüren und in schweren Rahmen an den Wänden. An einer von diesen erblickte man auch einen alten Galadegen, auf welchen Thackeray ganz besonders hielt. Es war der Degen Schiller’s, den der Dichter trug, wenn er in Uniform bei Hof erscheinen mußte. Thackeray hatte ihn in Weimar gekauft und er sagte, daß er denselben nie ohne Rührung ansehen könne. Er erinnere ihn an die schönsten und freundlichsten Tage seiner Jugend. Ein Paar Stühle von jener Form, wie wir sie in den Staatsgemächern unserer alten Schlösser sehen, ein ähnlicher Tisch mit Etagère, eine Causeuse, eine Büchertreppe, standen hier und da. Es war keine Symmetrie, aber es war Geist in dem Zimmer. Eines paßte zum Andern, und Alles zusammen machte den Eindruck, daß man hier zu einem durch Rang und Reichthum ausgezeichneten Manne gekommen sei. Von der Mitte des hohen und mit Stuck garnirten Deckengetäfels hing ein sehr schöner Kronleuchter. Thackeray’s Schreibtisch stand in der Nähe des Fensters. Die alten Bäume warfen ihre Schatten herein, und er hörte ihr Flüstern, wenn er schrieb. Eine tiefe Ruhe herrschte, eine den Augen wohlthätige Dämmerung von Grün. Es war, als ob die Sonne eines andern Jahrhunderts durch die Gardinen blinzle.
Auf diesem Stuhl mit der hohen Lehne und vor diesem Eichentische saß Thackeray. Wenn Besuch angemeldet worden war, so erhob er sich und führte seinen Gast zu dem altmodigen gelbseidnen Divan auf der andern Seite des Tisches.
Thackeray war der liebenswürdigste Gesellschafter; er plauderte zum Entzücken. Seine Persönlichkeit wirkte anziehend und flößte Zutrauen ein. Es war Nichts darin vom Cyniker, den man ihm so oft zum Vorwurf gemacht. Er war von großer Natur – „sechs Fuß, zwei Zoll“ – er hatte ein breites Gesicht und trug stets eine Brille auf der etwas eingedrückten Nase. Sein Haar war schon in der Mitte seiner vierziger Jahre silberweiß. Er hatte das Aussehen eines Weisen. Man liebte die Moralsprüche aus seinem Munde. Sein Vorrath von Anekdoten war unerschöpflich. Seine Erinnerungen umfaßten beinahe ein halbes Jahrhundert mit allen Celebritäten und Ereignissen desselben. Er hatte die deutschen Dichter sehr gründlich gelesen, citirte sie gern und sprach ziemlich gut deutsch. Von allen Orten des Continents, die er kannte, waren ihm Paris und Weimar die liebsten.
Thackeray war zweimal in Weimar. Als er das erste Mal da war, da lebte der alte Goethe noch. Es war im Jahre 1831. Thackeray kam dorthin, wie er sagte, „des Studiums, des Amüsements und der Gesellschaft halber“. Damals, als die Scheidestrahlen von Goethe’s Sonne noch das Leben in Weimar vergoldeten, übte die kleine Stadt eine große Anziehungskraft auf Fremde; namentlich waren die Engländer, die gegenwärtig Dresden und München bevorzugen, zahlreich dort anwesend. So fand Thackeray eine große Schaar junger Landsleute, als er nach Weimar kam. Er verbrachte dort einen sehr angenehmen Herbst und Winter und vergaß niemals die Freundlichkeit, mit welcher man ihn aufgenommen. Aber er selber ist auch in Weimar nicht vergessen worden. Es werden noch jetzt in Weimar einige Albums aufbewahrt, in denen sich Caricaturen von seiner Hand befinden, „Mein Vergnügen in jenen Tagen,“ sagte Thackeray, „war, Caricaturen für die Kinder zu zeichnen,“ eine Gewohnheit, beiläufig, durch die er bis an sein Lebensende sich viele enthusiastische Freunde in der Welt der Kleinen gemacht hat. Als er, viele Jahre später, in der Fülle seines Ruhmes, die „freundliche, kleine, sächsische Hauptstadt“ wieder besuchte, freute er sich, einige von diesen Andenken einer lange vergangenen Zeit wiederzufinden, und noch mehr, als man ihm sagte, daß der große Goethe selbst sich freundlich darüber geäußert habe.
Es ist keine Frage, daß Weimar ihm das Original gegeben zu jenen Scenen seines Romanes, welche in einer deutschen Residenz, einem deutschen Hoftheater und einem deutschen Gasthof spielen. Aber auch anderweitig hat er sich über seinen dortigen Aufenthalt ausgesprochen, und einige dieser Erinnerungen hat Thackeray’s Freund Lewes seinem bekannten Buche über „Goethe’s Leben und Schriften“ einverleibt. Damals hatte sich Goethe von der Welt zurückgezogen; dennoch war er sehr freundlich gegen Fremde und empfing sie mit Güte. Seine Schwiegertochter machte die Honneurs in seinem Hause. Wem es, wie dem Schreiber dieser Zeilen, vergönnt gewesen, die Dame, welche, jetzt selber alt geworden, meistentheils in Wien lebt, kennen zu lernen, ihr noch immer schönes Auge zu sehen, ihr noch immer lebhaftes Gespräch zu hören, der wird sich einen Begriff machen können, wie liebenswürdig sie gewesen sein muß im Jahre 1831, als Thackeray einer von den Gästen ihres Theetisches war. Da saßen sie Stunden um Stunden und Abend nach Abend und lachten und plauderten und musicirten. Sie lasen zahllose Romane und Gedichte, französische, englische und deutsche. Der alte Herr blieb in seinem Privatzimmer, zu welchem nur einige privilegirte Personen Zutritt hatten. Aber er wollte Alles wissen, was vorging, und nahm an allem Fremden Interesse.
Eines Tages erhielt Thackeray, damals ein junges Bürschchen von zwanzig Jahren, die Anzeige, daß der Herr Geheimerath ihn sehen wollte. Noch nach fünfundzwanzig Jahren erinnerte er sich der Aufregung, mit welcher er diese Nachricht aufnahm. „Dieser denkwürdige Empfang,“ sagte er, „fand in einem kleinen Vorzimmer seiner Privatgemächer statt, welche ringsum ganz mit antiken Abgüssen und Basreliefs bedeckt waren. Er war gekleidet in einen langen grauen oder braunen Oberrock, mit einem weißen Halstuch und einem rothen Bändchen in seinem Knopfloch. Er hielt seine [183] Hände hinter den Rücken, gerade wie in Rauch’s Statuette. Sein Gesicht war sehr heiter, klar und rosig, seine Augen außerordentlich dunkel, durchdringend und glänzend. Ich empfand eine ordentliche Angst vor diesen Augen und erinnere mich, daß ich sie damals mit den Augen eines Helden aus einer unserer Kindergeschichten verglich, welcher einen Pact mit einem gewissen Jemand abgeschlossen und dafür noch im höchsten Alter seine Augen in all ihrem grauenvollen Glanze behielt. Ich bilde mir ein, daß Goethe als ein alter Mann noch schöner gewesen sein müsse, als selbst in den Tagen seiner Jugend. Seine Stimme war sehr klangvoll und angenehm. Er richtete Fragen an mich über mich selber, welche ich, so gut ich konnte, beantwortete. Ich entsinne mich, daß ich mich zuerst wunderte und dann etwas erleichtert fühlte, als ich fand, daß er Französisch mit keinem besonders guten Accent sprach. Vidi tantum – ich habe ihn doch gesehen.“
Gern kam Thackeray, besonders wenn er deutsche Gäste bei sich sah, auf diese Zeit und auf Weimar zurück. Er sprach von Emil Devrient, welchen er hatte spielen sehen, und freute sich, als dieser treffliche Künstler einmal, ich glaube im Jahre 1851, auf einem Londoner Theater (St. James’ Theatre) in einigen seiner Shakespeare’schen Rollen erschien. Auch von der Schröder-Devrient, die er als „Fidelio“ gesehen, sprach er mit Bewunderung. Im Weimarschen Theater hörte er einst eine Aufführung von Beethoven’s „Schlacht von Vitoria“. Als, wie er sich ausdrückte, „unter einem Sturm gloriöser Musik“ die in die Symphonie verwebte englische Nationalhymne: „God save the King“ begann, erhoben sich alle unter dem Publicum anwesenden Engländer und blieben aufrecht stehen, bis die Melodie zu Ende war. – Etwas von dem Abendroth, von der Heiterkeit und Ruhe des Himmels, welche den Heimgang des Dichterfürsten umglänzte, war in Thackeray’s Stimmung und Worten, so oft er von der „theuren, kleinen, sächsischen Stadt“ sprach, „wo der gute Schiller und der große Goethe lebten und begraben liegen.“
Erinnerungen ganz anderer Art verknüpften Thackeray mit Paris. Das waren seine lustigen, seine ausgelassenen Tage, das war Etwas vom künstlerischen Zigeunerthum, sorglos, leichtsinnig, liederlich vielleicht, aber genial, als er mitten im Quartier Latin wohnte, als er die Ateliers besuchte und im Louvre studirte und copirte. Das Julikönigthum stand in voller Blüthe, mit all seiner innern Hohlheit und all seinem äußern Firniß; aber grell hinein in diesen Widerspruch, an dem es zu Grunde ging, zuckte der Blitz von Fieschi’s Höllenmaschine und der düstre, nordlichtartige Schimmer von Napoleon’s zweitem Begräbniß. Von St. Helena, wo Thackeray einst den gefesselten Prometheus an der Kette gesehen, brachten sie die Asche nach dem Dome der Invaliden. Sie glaubten, die Asche sei todt. Aber es waren noch Funken darin!
Damals hegte Thackeray die Absicht, sich der Malerei zu widmen. Er hatte ein ausgesprochenes Talent dafür, welches sich bis an sein Ende nicht verleugnete. Es ist in jedem seiner Werke zu erkennen, in der Schärfe der Umrisse, die er all seinen Charakteren gegeben; auch pflegte er anfangs seine Romane selber zu illustriren und war unerschöpflich in der Erfindung von komischen, außerordentlich geistreichen Initialvignetten zu seinen kleineren Arbeiten. Doch war es von vornherein mehr ein Talent für die Zeichnung, als für die Farbe; es war immer ein Zeichnen mit der Feder. Lange schwankte er zwischen der Feder und dem Crayon. Abwechselnd schrieb er Texte zu seinen Caricaturen oder zeichnete Caricaturen zu seinen Texten. Man sagt, daß folgender Vorfall die Entscheidung herbeigeführt habe. Er war zu einem Besuch von Paris nach London gekommen. Charles Dickens, ein Jahr jünger als Thackeray, hatte eben seine glänzende Laufbahn mit den „Pickwickiern“ eröffnet. Eines Tages trat ein Mensch von vier- oder fünfundzwanzig Jahren in die bescheidene Wohnung des Autors, der sich mit einem einzigen Buche und unter dem angenommenen Namen „Boz“ zum Gespräche von London, von England, von ganz Europa gemacht. „Ich heiße Thackeray,“ sagte der unbekannte junge Mensch; „ich bin Zeichner, ich möchte die Illustrationen zu Ihrem neuen Romane machen,“ Dickens lehnte das Anerbieten ab. „Gut,“ sagte Thackeray, „wenn Sie nicht wollen, daß ich zeichne, so werde ich schreiben.“
Thackeray ging nach Paris zurück. Hier traf ihn plötzlich die Nachricht, daß er sein großes Vermögen verloren habe. Dieser Schlag zwang ihn zu regelmäßiger Beschäftigung. Er machte den Anfang, seine Drohung auszuführen. Er begann zu schreiben, für die Reviews, für die Magazine. Aber es ging ihm sehr kümmerlich dabei. Als sein Schneider ihm am Jahresschluß die Rechnung überreichte, konnte Thackeray sie nicht bezahlen. Thackeray war untröstlich. Aber Mr. Aretz, der Schneider, sagte: „Mon Dieu! lassen Sie sich das nicht zu Herzen gehen. Wenn Sie Geld brauchen, wie das bei Herren in fremden Ländern ja wohl vorkommen kann, so habe ich eine Tausendfrankennote in meinem Hause, welche zu Ihrer Verfügung steht.“ – Thackeray nahm das Darlehen an und stellte seinem generösen Gläubiger folgende Schuldverschreibung aus, welche sich noch jetzt in allen Ausgaben von Thackeray’s Werken als Dedication auf dem ersten Blatte seines „Pariser Skizzenbuches“ befindet: „Mein Herr! Die Geschichte oder die Erfahrung macht uns mit so wenigen Thaten bekannt, welche der Ihrigen verglichen werden könnten; eine Freundlichkeit von einem Fremden und einem Schneider erscheint mir so wunderbar, daß Sie mir verzeihen müssen, wenn ich auf diese Weise Ihre Tugend öffentlich und die englische Nation mit Ihrem Verdienst und Ihrem Namen bekannt mache. Lassen Sie mich hinzufügen, mein Herr, daß Sie Rue Richelieu im ersten Stock wohnen; daß Ihre Tuche und Zuthaten vorzüglich und Ihre Preise nicht hoch sind, und als einen bescheidenen Tribut meiner Bewunderung erlauben Sie mir, diese Bände Ihnen zu Füßen zu legen,“
Das war ein gut angelegtes Capital des Mr. Aretz, diese tausend Francs! Thackeray’s Ruhm waren seine Zinsen. Als Thackeray’s erster Roman, „der Jahrmarkt des Lebens“, ihn zu einer Celebrität ersten Ranges gemacht hatte, da strömte alle Welt in die Rue Richelieu, um den edelmüthigen Schneider zu sehen, welcher einem Dichter aus der Noth geholfen, und um sich von demjenigen einen Rock oder eine Weste machen zu lassen, welchem Thackeray sein erstes Buch gewidmet.
Freilich mußte Mr. Aretz lange darauf warten, so lange, als Thackeray selber, um für seinen Roman einen Verleger zu finden. Denn so leicht, wie seinem großen Rivalen Dickens, sollte es ihm nicht werden. Er hatte zehn Jahre geschrieben, ohne daß die Welt mehr als eine flüchtige Notiz von ihm genommen. Die „schwarze Sorge“ ließ ihn nicht dazu kommen, ein Werk von großem Umfang zu unternehmen. Er zersplitterte seinen ungeheuren Reichthum von Kenntnissen, von Witz, Geist und Erfahrung in lauter kleinen prismatischen Gebilden, die einen Augenblick schimmerten und dann verschwanden. Ein einziges größeres Werk, welches er angefangen, unterbrach ein trauriges Ereigniß, welches er nie ganz verwand: seine Frau ward wahnsinnig. Das Werk riß mitten ab, und Thackeray hat es nie zu Ende führen können. Mehrmals freilich setzte er an, um die Geschichte von der kleinen Caroline, welche von ihrem bösen Manne verlassen wurde, fertig zu schreiben; aber es gelang ihm nicht. „Die Farben sind längst eingetrocknet,“ sagte Thackeray, „des Künstlers Hand ist eine andere geworden. Es ist besser, das Fragment so zu lassen, wie es vor siebzehn Jahren war. Das Andenken der Vergangenheit erneuert sich, wenn ich es ansehe –
Die Bilder froher Tage,
Und manche liebe Schatten steigen auf. –“
Ich glaube, daß wir auch den Roman, der seinen Namen weltberühmt gemacht, nur einem Zufall verdanken. Er beabsichtigte anfänglich damit nur eine Ausbeute seiner continentalen Erinnerungen. Aber der Eigenthümer eines Journales, dem er die Arbeit anbot, wies sie zurück. Um sie vor das Publicum zu bringen, wählte Thackeray nun die beliebte Form des heftweisen Erscheinens, und um das Publicum von Monat zu Monat in Spannung zu halten, entschloß er sich, die einzelnen Skizzen durch einen Romanfaden zusammenzuhalten. Allein in der Ausführung seines Planes wurde, gleichsam unter der Hand, die Nebensache zur Hauptsache. Im Schreiben lernte der Schreiber seine Stärke kennen. Es ist wahr, daß das Pariser Leben seine Streiflichter auf die Figur von Becky Sharp und das Atelier ihres Vaters wirft, und daß die Erinnerungen aus Weimar nicht ohne Einfluß blieben auf die Schilderungen von Amely’s Reise durch Deutschland. Aber doch ward der Roman, die Fabel und die Charakterzeichnung der Nerv des Werkes; die Aeußerlichkeit trat zurück vor der Innerlichkeit; – Indien, Deutschland, London und Brüssel, der Club, der Salon, das Schloß und der Seestrand wurden die Coulissen, und die Menschen traten in den Vordergrund – es wurde eine Aristophaneische Komödie, voll von bitteren Wahrheiten, es wurde ein Roman, dessen tiefer Hintergrund alle Lügen, alle Thorheiten, alle Nichtswürdigkeiten der modernen Welt, aber auch den unversiechbaren Born der [184] Liebe zeigte, die ihre Hoffnung und ihre Rettung ist – ein Werk des Zweifels, nicht der Verzweiflung, voll von sarkastischem Lächeln, aber nicht ohne hier und da eine tröstende Thräne – ein Spiegelbild der Gesellschaft, wie sie ist, aber gesehen mit dem Auge des Dichters und nachgezeichnet von der Hand des Künstlers – es wurde „der Jahrmarkt des Lebens“. Schon nach den ersten drei oder vier Lieferungen war der Erfolg entschieden. Als Thackeray am Morgen nach der Ausgabe der letzten erwachte, war er ein berühmter Mann. Fortan, wenn man von den Heroen der englischen Romanliteratur sprach, nannte man Dickens und Thackeray zusammen.
Das Verhältniß dieser beiden Männer hat etwas Rührendes. Thackeray hörte niemals auf, den Dichter zu bewundern, den die Sonne des Glücks und der öffentlichen Meinung hell umstrahlte, als er selber noch lange im Schatten wandeln mußte. Nichts von Neid, von Eifersucht mischte sich in dieses reine Gefühl, Später, als auch er den Preis seiner Arbeit endlich gewonnen hatte, in einer jener Vorlesungen, die einem Triumphzug durch England und Amerika glichen, beschreibt er einmal eine seiner Töchter, wie sie mit kindlicher Offenheit ausruft: „Papa, ich habe die Bücher von Herrn Dickens viel lieber, als die Deinigen!“ Die beiden Männer wurden erst Rivalen und dann Freunde. In den köstlichen, unbeschreiblich schönen Zeilen, welche Dickens dem Andenken des geschiedenen „Cameraden und Waffenbruders“ widmet, erzählt er, wie Thackeray zwei- oder dreimal plötzlich zu ihm gekommen sei, um ihm zu sagen, daß er gestern über irgend eine Stelle in einem von Dickens’ Büchern habe weinen müssen, und daß er zum Mittagsessen gekommen sei, „weil er sich nicht helfen könne,“ und diese Stelle mit ihm durchsprechen müsse. „Niemand,“ sagt Dickens, „kann ihn jemals inniger, natürlicher, herzlicher, frischer und anregender gesehen haben, als ich ihn bei jenen Gelegenheiten sah. Niemand kann überzeugter sein als ich von der Größe und der Güte des Herzens, das sich mir damals erschloß.“ – Dickens erzählt in demselben Erinnerungsblatt, daß Thackeray die Kinder so lieb gehabt und so reizend mit ihnen umzugehen wußte. Thackeray habe ihn einst gefragt, ob es ihm auch so gehe, daß er niemals einen Knaben sehen könne, ohne sogleich das Bedürfniß zu fühlen, ihm ein Geldstück zu schenken, „Daran dachte ich,“ schreibt Dickens, „als ich in sein Grab niederblickte, nachdem er hineingelegt worden; denn ich blickte nieder in das Grab über die Schulter eines Knaben, welchem er einst Wohlthaten erwiesen.“
Aber auch für seine Freunde, für Alle, die er je gekannt und geliebt, behielt er stets ein warmes Herz; er verleugnete keinen Derjenigen, mit denen er einst im Frühling des Lebens geschwärmt, nachdem sich für ihn die Träume desselben erfüllt hatten. So oft er nach Paris kam, erkundigte er sich nach Denen, die unbekannt geblieben oder vergessen waren. Reichthum und Ruhm setzten ihn in den Stand, das kaiserliche Paris auch in kaiserlichem Styl zu besuchen. Er bewohnte ein prachtvolles Hotel auf der Place Vendôme. Doch war es seine größte Freude, die allen Schauplätze seiner Jugend, seiner Entbehrungen, seiner Kämpfe wiederzusehen, Er durchstreifte das Quartier Latin, und der dürftige Künstler, der bedrängte Schriftsteller, dem er begegnete, durfte seiner hülfreichen Hand sicher sein. Eines Morgens kam ein Freund zu ihm, als er eben damit beschäftigt war, einige Goldstücke in eine Pillenschachtel zu legen, auf deren Deckel geschrieben war: „Nach Bedürfniß zu nehmen“. – „Was machen Sie da?“ fragte der Freund. „O!“ erwiderte Thackeray, „hier ist eine alte Person, welche sagt, sie sei krank und elend, und ich habe starken Verdacht, daß es diese Sorte von Medicin ist, deren sie bedarf, Dr. Thackeray beabsichtigt, es ihr selber zu bringen. Kommen Sie, gehen wir zusammen.“ – Thackeray pflegte zu sagen, daß er nach Paris reise, um sich Ferien zu machen und seine Erinnerungen an die französische Küche wieder aufzufrischen. Aber er arbeitete hier gewöhnlich sehr fleißig, besonders seit der Zeit, wo er das „Cornhill Magazine“ herausgab.
Die Gründung des „Cornhill Magazine“ war der größte Erfolg Thackeray’s in seinen letzten Lebensjahren. Die erste Nummer dieser Monatsschrift erschien im December 1859. Für den geringen Preis von etwa acht oder neun Silbergroschen unseres Geldes sollte dies neue Unternehmen seinen Abonnenten monatlich ein starkes Heft von 128 Seiten der besten Romane, Novellen, Abhandlungen, Gedichte etc. mit großen Illustrationen der ersten Künstler Englands bringen. Der Erfolg war so ungeheuer, daß der Verleger dem „poeta laureatus“ Alfred Tennyson die dem Magazin gelieferten Gedichte mir sieben Thaler pro Zeile honoriren und der Verfasserin von „Adam Bede“ 20,000 Thaler für einen neuen dreibändigen Roman anbieten konnte! Doch schon zu Anfang des zweiten Jahres zog sich Thackeray von der Redaction zurück. Namentlich die Damen waren es, die „Blaustrümpfe“, welche ihm mit ihren Gedichten und Zuschriften das Leben zur Qual machten. „Sie haben mir Dornen in mein Kissen gestopft!“ rief er schon nach den ersten sechs Monaten aus. Sie kannten sein gutes Herz und hörten nicht auf, dasselbe zu attaquiren. Er kam fortwährend in Conflicte zwischen der ihm angeborenen Galanterie und seinen strengen Pflichten als Herausgeber des größten und weitverbreitetsten Magazins in England. „Ich kann zu keinem Diner mehr gehen,“ klagte er, „ohne von schönen Lippen interpellirt und von schönen Augen durchbohrt zu werden.“ Endlich kündigte er im Aprilheft 1862 seinen Entschluß an, die Ruhe seiner Seele dadurch wiederzugewinnen, daß er die Redaction niederlege. „Ich glaube,“ sagt er in dieser Ankündigung, „meine eigenen Leser werden mit mir darin übereinstimmen, daß meine Bücher nicht leiden werden, wenn ihr Verfasser von der täglichen Last befreit ist, die Werke Anderer zu lesen, anzunehmen, abzulehnen, zu verlieren und wiederzusuchen. Nein zu sagen, hat mir oft den Frieden eines Morgens und die Arbeit eines Tages gekostet. Ich bin nicht mehr verantwortlich für abgewiesene Beiträge. Ich habe den Redactionssessel und den großen zinnernen Manuscriptkasten des Cornhill Magazine’s zurückgeschickt.“ – Dennoch hörte er nicht auf, fast für jedes Heft irgend einen Beitrag zu schreiben, und im December 1863 brachte das Magazin die Anzeige, der neue Roman Thackeray’s sei so weit vorgeschritten, daß schon im Januar die ersten Capitel desselben veröffentlicht werden könnten. Ganz London sprach von dem neuen Romane, von dem es hieß, daß er ein Seitenstück zu seinem berühmten „Henry Esmond“ werden würde. Man erfuhr, daß der Stoff aus der Zeit der ersten George genommen und die bereits geschriebenen Capitel in Thackeray’s bestem Style seien. – Ein paar Tage vor Weihnachten hatte er seinen Freunden im Athenäum Club noch ein Blatt davon gezeigt und ihnen lachend erzählt, er habe es im Britischen Museum, wo er seine Studien zu dem Werke machte, liegen lassen, er sei schon ganz verzweifelt gewesen, er habe sein ganzes Haus durchsucht – da sei es ihm heut Morgen unter Couvert durch die Post wieder zugegangen. In der That hatte Thackeray’s Handschrift einen Charakter der Zierlichkeit und Eleganz, der Jedem, der sie einmal gesehen, unvergeßlich bleiben und wohl auch die Beamten des Britischen Museums auf die richtige Spur geführt haben mußte.
Zwei Tage später, am Morgen des 24. December, um neun Uhr, trat sein alter Diener, Charles Sargent, in sein Schlafzimmer. Sein Herr rührte sich nicht, und Sargent wollte ihn nicht stören. Er brachte eine Tasse Kaffee und setzte sie auf einem Tische vor dem Bette nieder. Nach einer Stunde kam er wieder. Der Kaffee war nicht berührt worden. Nun trat er näher. Sein Herr lag, friedlich schlummernd, auf dem Rücken, die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, wie er zu thun pflegte, wenn er von einer sehr anstrengenden Arbeit müde war. Aber er athmete nicht mehr. Er sollte von diesem Schlummer nicht mehr erwachen. Er war todt. Ein Schlaganfall hatte seinem Leben ein Ende gemacht. – Auf seinem Arbeitstische fand man ein Blatt Papier, halb beschrieben. Es war sein Roman, an dem er noch in der Nacht gearbeitet hatte. Die letzten Worte auf diesem Blatte waren: „Und mein Herz klopfte in einer wunderbaren Seligkeit“ (And my heart throbbed with an exquisite bliss). –
Mir diesen Worten auf den Lippen ging er aus der Welt. Er stand erst in seinem 53. Jahre. „Die Mutter, welche ihn in seinen ersten Schlaf gesegnet hatte, segnete ihn in seinen letzten.“ Zwei Töchter – von denen die eine schon einen frühzeitigen Ruf erworben als die Verfasserin des Romanes: „Die Geschichte Elisabeths“ – standen an seiner Leiche. Mit dem Staub eines dritten Kindes, welches ihm im Tode vorangegangen, sollte sich sein Staub mischen. Am Tage nach Weihnachten wurde Thackeray nach dem schönen grünumbuschten Kirchhofe von Kensal Green gefahren. Fünfzehnhundert Menschen, darunter alle literarischen, artistischen und gelehrten Berühmtheiten Londons, folgten seinem Sarge. Dickens warf schluchzend die ersten Schaufeln Erde darauf, und der Nachruhm bezeichnet die Stätte, wo der liebenswürdige Dichter ausruht von dem „Jahrmarkt des Lebens“, für alle Zeiten!
- ↑ Als ein Gegenstück zu diesem mit allem äußern Erfolge überschütteten Londoner Autorleben, werden wir in einer der nächsten Nummern unsern Lesern das Leben eines Leipziger Schriftstellers erzählen, der, obwohl auch reich begabt, unermüdlich thätig und hochgehalten von den Besten seines Volkes, sich keine Rococo-Paläste bauen und keine gepuderten Lakaien halten konnte, sondern, wie ein echter deutscher Dichter, mit Noth und Sorge gekämpft hat bis zur letzten Stunde und Noth und Sorge den Seinen als Erbe hinterläßt. D. Red.