Textdaten
Autor: Oscar Wilde
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Titel: Aus dem Zuchthaus zu Reading
Untertitel:
aus: Verschollene Meister der Literatur. II. Oscar Wilde. Drei Essays.
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1904
Verlag: Karl Schnabel
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft: Daily Chronicle
Quelle: Internet Archive = Google-USA* = Commons
Kurzbeschreibung: Offener Brief an den Herausgeber des „Daily Chronicle“
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[99]
AUS DEM ZUCHTHAUS ZU READING

[100] Die Londoner Zeitung „The Daily Chronicle“ hatte berichtet, ein Gefängnisaufseher sei entlassen worden, weil er einem hungrigen Kinde, das im Gefängnis eingesperrt war, ein paar Kakes zu essen gegeben habe. Darauf richtete O. W. folgenden Brief an den Herausgeber des Blattes.


[101] Mit grossem Bedauern entnehme ich den Spalten Ihrer Zeitung, dass der Aufseher Martin aus dem Reading-Gefängnis von der Gefängnisinspektion entlassen wurde, weil er einem armen hungrigen Kinde ein paar Kakes gegeben hat. Ich habe die drei Kinder selbst an dem Montag, der meiner Entlassung vorherging, gesehen. Sie waren verurteilt worden und standen der Reihe nach in der Zentralhalle; sie hatten die Gefängniskleidung an, trugen ihre Bettbezüge unter dem Arm und warteten, bis man sie in die für sie bestimmten Zellen abführte. Ich kam gerade auf einer der letzten Galerien vorbei, auf dem Wege zum Besuchszimmer, wo ich eine Besprechung mit einem Freunde haben sollte. Es waren ganz [102] kleine Kinder, das jüngste – eben das, dem der Aufseher die Kakes gab – ein winziges Kerlchen, für das sie offenbar keine passenden Kleider finden konnten, die vorhandenen waren alle zu gross. Ich habe natürlich im Gefängnis in den zwei Jahren, in denen ich eingesperrt war, viele Kinder gesehen. Besonders das Wandworth-Gefängnis beherbergte immer eine Anzahl Kinder. Aber das kleine Kind, das ich am Montag nachmittag in Reading sah, war winziger als irgend ein anderes. Ich kann kaum beschreiben, wie äusserst betrübt ich war, diese Kinder in Reading zu sehen, denn ich kannte die Behandlung, die ihrer wartete. Die Grausamkeit, die man bei Tag und bei Nacht an Kindern in englischen Gefängnissen verübt, ist unglaublich für alle, die sie nicht selbst mit angesehen haben und die Brutalität des Systems nicht kennen.

Die Menschen unserer Zeit wissen nicht, was Grausamkeit ist. Sie halten sie für eine Art schreckliche mittelalterliche Leidenschaft und bringen sie in Verbindung mit Männern vom Schlage Ezzelins [103] da Romano und anderer, denen es in der Tat einen wahnsinnigen Genuss bereitete, absichtlich Schmerzen zuzufügen. Aber Männer vom Gepräge Ezzelins sind nur aussergewöhnliche Typen eines perversen Individualismus. Die Grausamkeit des Alltags ist nichts weiter als Dummheit. Sie ist der gänzliche Mangel der Fähigkeit, sich ein Bild von den Dingen zu machen – des Verstandes. Sie ist in unseren Tagen die Folge der sterotypierten Systeme, der harten und festen Gesetze, der Dummheit. Wo Zentralisation herrscht, herrscht Dummheit. Wo im modernen Leben der Beamte anfängt, hört der Mensch auf. Die Autorität ist ebenso gefährlich für die, die sie ausüben, wie für die, gegen die sie ausgeübt wird. Die Gefängnisbehörde und das System, das sie durchführt, ist die ursprüngliche Quelle der Grausamkeit, die an einem Kinde im Gefängnis verübt wird. Die Leute, die das System aufrecht erhalten, haben vielleicht vortreffliche Absichten. Die es ausführen, sind in ihren Absichten ebenfalls human. Die Verantwortlichkeit ruht auf den Vorschriften [104] der Disziplin. Es wird angenommen, eine Sache sei recht, wenn sie Gesetz ist.

Die gegenwärtige Behandlung der Kinder ist schrecklich, besonders wo es sich um Leute handelt, die die besondere Psychologie der Kindesnatur nicht verstehen. Ein Kind kann eine Bestrafung, die von einem einzelnen Individuum, so vom Vater oder vom Vormund, ausgeht, verstehen und sie mit einem gewissen Grad von Fügsamkeit ertragen. Was es aber nicht verstehen kann, das ist eine Bestrafung von seiten der Gesellschaft. Es kann sich nicht vorstellen, was das ist: die Gesellschaft. Mit erwachsenen Personen verhält es sich natürlich umgekehrt. Diejenigen unter uns, die im Gefängnis sind oder gewesen sind, können und werden verstehen, was die Kollektivkraft, die man Gesellschaft nennt, bedeutet; und was wir auch von ihrer Methode und ihren Ansprüchen halten mögen, wir können uns dazu zwingen, uns zu fügen. Andrerseits aber ist eine Bestrafung, die uns von einem Individuum zugefügt wird, eine [105] Sache, die kein Erwachsener duldet, wenigstens erwartet es niemand von ihm.

Das Kind also, das von Leuten, die es nie gesehen hat und von denen es nichts weiss, seinen Eltern entrissen wird, das sich in einer öden und abstossenden Zelle befindet, das von fremden Gestalten beobachtet wird, das von den Vertretern eines Systems, das es nicht verstehen kann, kommandiert und abgestraft wird, wird dem ersten und schlimmsten unter den Gefühlen, die das Gefängnisleben hervorbringt, zum Raub: dem Gefühl des Schreckens. Der Schrecken eines Kindes im Gefängnis ist grenzenlos. Ich erinnere mich, einmal in Reading, als ich zur Freistunde ging, in der düsteren Zelle, die der meinen gegenüberlag, einen Knaben gesehen zu haben. Zwei Aufseher – keine unfreundlichen Männer – sprachen zu ihm, offenbar etwas strenge, oder gaben ihm einen nützlichen Rat in bezug auf sein Verhalten. Einer war bei ihm in der Zelle, der andere stand aussen. Das Antlitz des Kindes war voller Schrecken und totenblass. In seinen Augen lag der Schrecken [106] eines gehetzten Wildes. Am nächsten Morgen, zur Frühstückszeit, hörte ich ihn schreien und rufen, man solle ihn herauslassen. Er schrie nach seinen Eltern. Von Zeit zu Zeit konnte ich die tiefe Stimme des Aufsehers hören, der ihm sagte, er solle sich ruhig verhalten. Und dabei war er nicht einmal wegen irgend eines Vergehens verurteilt. Er war in Untersuchungshaft. Das sah ich daran, dass er seine eigenen Kleider trug, die ziemlich sauber schienen. Indessen trug er Anstaltsstrümpfe und -Schuhe, und das zeigte, dass er ein wirklich armer Knabe war, dessen eigene Schuhe, wenn er welche hatte, in einer bösen Verfassung waren.

Richter und Beamte, in der Regel ein ganz dummer Menschenschlag, stecken oft Kinder für acht Tage ein und erlassen dann irgend eine Strafe, die zu verhängen sie berechtigt sind. Sie nennen dies „ein Kind nicht ins Gefängnis schicken“. Das ist natürlich eine blöde Auffassung von ihnen. Ein Kind kann die Spitzfindigkeit, ob es in Untersuchungs- oder Strafhaft ist, nicht unterscheiden. Das Schreckliche [107] für das Kind ist, überhaupt da zu sein. In den Augen der Menschheit sollte es etwas Schreckliches sein, dass es überhaupt da ist.

Dieser Schrecken, der das Kind beherrscht, ebenso wie er auch den Erwachsenen beherrscht, wird natürlich über alle Massen verstärkt durch die Einsamkeit des Zellensystems. Jedes Kind ist dreiundzwanzig Stunden von vierundzwanzig in seiner Zelle eingesperrt. Dies ist das Schreckliche an der Sache. Dass ein Kind dreiundzwanzig Stunden im Tag in eine dunkle Zelle gesperrt wird, ist ein Beispiel für die Grausamkeit der Dummheit. Wenn ein Individuum, ein Vater oder Vormund, etwas der Art einem Kinde antäte, würde er streng bestraft werden. Der Schutzverein gegen die Kinderquälerei würde sich der Sache annehmen. Auf allen Seiten würde sich die lebhafteste Entrüstung über solche Grausamkeit erheben. Aber unsere eigene gegenwärtige Gesellschaft tut selbst noch Schlimmeres, und für ein Kind, das von einer unverständlichen abstrakten Gewalt so behandelt wird, für [108] deren Ansprüche es keinen Verstand hat, ist solches viel schlimmer, als wenn es von seinem Vater oder seiner Mutter oder sonst einem Bekannten geschähe. Die unmenschliche Behandlung eines Kindes ist immer unmenschlich, von wem sie auch zugefügt wird. Aber die unmenschliche Behandlung, die von der Gesellschaft ausgeht, ist für das Kind schrecklicher, weil es gegen sie keine Berufung gibt. Ein Vater oder ein Vormund kann gerührt werden, so dass er das Kind aus dem dunkeln, öden Raum, in dem es eingesperrt ist, herauslässt. Aber ein Aufseher kann das nicht. Die meisten Aufseher sind aufrichtige Kinderfreunde. Aber das System verwehrt es ihnen, dem Kind irgend welchen Beistand zu leisten. Falls sie das tun, wie in dem Fall des Aufsehers Martin, werden sie entlassen.

Das zweite, worunter ein Kind im Gefängnis zu leiden hat, ist der Hunger. Die Nahrung, die es erhält, besteht aus einem Stück Gefängnisbrot, das gewöhnlich schlecht gebacken ist, und einem Krug Wasser zum Frühstück um halb sieben [109] Uhr. Um zwölf Uhr gibt es Mittagessen, das aus einem Topf Haferbrei besteht, und um halb sechs Uhr bekommt es ein Stück trockenes Brot und einen Krug Wasser zum Abendessen. Diese Ernährung bringt bei einem starken erwachsenen Manne immer irgend welches Unwohlsein hervor, besonders natürlich Durchfall und in seinem Gefolge Schwäche. In der Tat werden in jedem grösseren Gefängnis stopfende Medizinen regelmässig, als ob es sich von selbst verstünde, von den Aufsehern verabreicht. Was aber das Kind angeht, so ist es in der Regel überhaupt nicht imstande, die Kost zu essen.

Jeder, der etwas von Kindern versteht, weiss, wie leicht die Verdauung eines Kindes durch das viele Weinen oder durch Kummer und Seelenschmerz gestört wird. Ein Kind, das den ganzen Tag und vielleicht die halbe Nacht in einer öden dunklen Zelle geweint hat und vom Schrecken gepeinigt wird, kann solche schlechte grobe Kost einfach nicht essen. In dem Fall des kleinen Kindes, dem der Aufseher Martin die Kakes gab, weinte das [110] Kind am Dienstag morgen vor Hunger und war völlig unfähig, das Brot und das Wasser, das ihm zum Frühstück gegeben wurde, zu sich zu nehmen. Martin ging, nachdem er das Frühstück ausgegeben hatte, aus und kaufte dem Kinde lieber die paar Kakes, als dass er es Hunger leiden sah. Das war schön von ihm gehandelt, und es wurde von dem Kinde so dankbar empfunden, dass es, ohne eine Ahnung von den Gefängnisvorschriften zu haben, einem der Ober-Aufseher erzählte, wie freundlich dieser Aufseher zu ihm gewesen sei. Die Folge davon war natürlich eine Anzeige und die Entlassung.

Ich kannte Martin sehr gut; er war in den letzten sieben Wochen meiner Gefangenschaft mein Aufseher. Er hatte in Reading auf dem C-Flügel Dienst, in dem ich eingesperrt war, und so sah ich ihn fortwährend.

Ich war überrascht über die seltene Freundlichkeit und Menschlichkeit, mit der er zu mir und den übrigen Gefangenen sprach. Freundliche Worte sind im Gefängnis viel wert, und ein einfaches [111] „Guten Morgen“ oder „Guten Abend“ machen einen so glücklich, als es im Gefängnis möglich ist. Er war immer mild und massvoll. Ich erinnere mich an einen andern Fall, in dem er sich einem der Gefangenen gegenüber sehr freundlich erwies, und ich nehme keinen Anstand, ihn zu erwähnen. Einer der schrecklichsten Zustände im Gefängnis sind die schlechten hygienischen Einrichtungen. Es ist dem Gefangenen unter keinen Umständen erlaubt, nach halb sechs Uhr die Zelle zu verlassen. Wenn er also an Durchfall leidet, muss er seine Zelle als Kloset benutzen und die Nacht in einer sehr stinkenden und ungesunden Luft verbringen. Einige Tage vor meiner Entlassung machte Martin um halb acht Uhr mit einem der Ober-Aufseher die Runde, um die Werkzeuge und das Werg aus den Zellen zu schaffen. Ein jüngst Verurteilter, der infolge der ungewohnten Nahrung an heftigem Durchfall litt, bat den Ober-Aufseher, ihm zu erlauben, das Gefäss in seiner Zelle leeren zu dürfen, wegen des schlechten Geruchs, und da er noch einmal in [112] der Nacht unwohl werden könnte. Der Ober-Aufseher lehnte das strikt ab; es war gegen die Vorschrift. Der Mann hätte die Nacht in seiner schrecklichen Lage verbringen müssen. Martin aber, der den armen Mann nicht in einer so abscheulichen Situation lassen wollte, sagte, er wolle ihm das Gefäss selbst ausleeren, und tat das auch. Ein Aufseher, der das Gefäss eines Gefangenen ausleert, ist natürlich gegen die Vorschrift, aber Martin erwies dem Mann diese Gefälligkeit aus der einfachen Menschlichkeit seiner Natur heraus, und der Mann war natürlich sehr dankbar.

Was die Kinder angeht, so ist in letzter Zeit viel über den verderbenden Einfluss des Gefängnisses auf junge Kinder geredet und geschrieben worden. Was da gesagt wird, ist sehr wahr. Ein Kind wird durch das Gefängnisleben sehr verdorben. Aber der verderbliche Einfluss geht nicht von den Gefangenen aus. Er geht aus von dem ganzen Gefängnissystem – vom Direktor, dem Geistlichen, den Aufsehern, der öden Zelle, der Isolierung, der empörenden [113] Ernährung, den Gefängnisvorschriften, der Art, wie die Disziplin ausgeübt wird, dem ganzen Leben. Es ist alle erdenkliche Sorgfalt getroffen, dass das Kind die Gefangenen über sechzehn Jahren nicht einmal zu sehen bekommt. Die Kinder sitzen in der Kirche hinter einem Vorhang und haben ihre Freistunde in kleinen Höfen, wo keine Sonne hinkommt, nur damit sie die älteren Gefangenen nicht zu sehen bekommen. Aber in Wahrheit geht der einzige wirklich menschliche Einfluss, der im Gefängnis ausgeübt wird, von Gefangenen aus. Ihre Heiterkeit unter schrecklichen Umständen, ihre Sympathie füreinander, ihre Bescheidenheit, ihre Liebenswürdigkeit, ihr freundliches Lächeln, mit dem sie sich beim Begegnen begrüssen, die völlige Ruhe, mit der sie sich in ihre Strafe fügen, alles das ist ganz wundervoll, und ich selbst habe manches Gute von ihnen gelernt. Ich will nicht vorschlagen, die Kinder sollten in der Kirche nicht hinter einem Vorhang sitzen, oder sie sollten mit den andern zusammen ihre Freistunde haben. Ich will nur feststellen, [114] dass der schlechte Einfluss nicht von den Gefangenen, sondern vom Gefängnissystem selbst ausgeht. Es ist nicht ein einziger Mann im Reading-Gefängnis, der nicht gern die Strafe der drei Kinder auf sich genommen hätte. Ich sah sie zuletzt an dem Dienstag, der ihrer Verurteilung folgte. Ich ging um halb zwölf Uhr mit ungefähr zwölf andern Männern zur Freistunde, und die drei Kinder gingen an uns vorbei, in Begleitung eines Aufsehers; sie kamen von dem dumpfigen, traurigen Hof, wo sie zur Freistunde gewesen waren. Ich sah in den Augen meiner Gefährten das grösste und herzlichste Mitgefühl, als sie die Kinder erblickten. Gefangene sind, als eine zusammengehörige Menschenklasse, ausserordentlich freundlich und liebevoll zueinander. Leiden und die Gemeinsamkeit der Leiden machen die Menschen gütig, und Tag für Tag, wenn ich auf dem Hof einherging, fühlte ich mit Befriedigung und Freude, was Carlyle irgendwo „den stillen rhythmischen Reiz der menschlichen Kameradschaft“ nennt. In diesem und in allen anderen Dingen sind die [115] Philanthropen und Leute ihres Schlages auf dem Holzwege. Nicht die Gefangenen bedürfen der Wandlung, sondern die Gefängnisse.

Ich möchte jetzt die Aufmerksamkeit auf eine andere schreckliche Sache lenken, die in englischen Gefängnissen, in der Tat in den Gefängnissen der ganzen Welt umgeht, wo das System des Schweigens und der Zelleneinsperrung ausgeübt wird. Ich spreche von der grossen Zahl derer, die im Gefängnis wahnsinnig oder geistesgestört werden. In Zuchthäusern ist dies natürlich ganz allgemein; aber ebenso in anderen Gefängnissen, so z. B. in dem, wo ich eingesperrt war.

Vor etwa drei Monaten bemerkte ich unter den Gefangenen, die mit mir Freistunde hatten, einen jungen Mann, der mir blödsinnig oder schwachsinnig zu sein schien. Jedes Gefängnis hat seine schwachsinnigen Kunden, die immer wiederkommen, von denen man fast sagen kann, dass sie ihr Leben im Gefängnis zubringen. Aber dieser junge Mensch schien mir mehr als gewöhnlich schwachsinnig zu sein, [116] wegen seines blöden Grinsens und der idiotischen Art, in der er in sich hineinlachte, und wegen der Ruhelosigkeit seiner Hände, die ewig zu zupfen hatten. Er fiel allen anderen Gefangenen wegen seines sonderbaren Wesens auf. Von Zeit zu Zeit blieb er in der Freistunde aus, ein Zeichen, dass er zur Strafe in seiner Zelle eingesperrt war. Endlich bemerkte ich, dass er unter Beobachtung stand und Tag und Nacht von Aufsehern bewacht wurde. Wenn er in der Freistunde erschien, schien er immer hysterisch zu sein und ging schreiend und lachend herum. In der Kirche sass er unter der strengen Beobachtung zweier Aufseher, die ihn sorgsam die ganze Zeit über bewachten. Manchmal wollte er sein Haupt in den Händen bergen, was ein Verstoss gegen die Kirchenordnung war, und sein Kopf wurde sofort von einem der Aufseher zurückgebogen, so dass er seine Augen fortwährend nach dem Altar richten musste. Manchmal wollte er aufschreien, aber er durfte keine Störung machen, die Tränen liefen in Strömen über sein Gesicht, und ein [117] hysterisches Schluchzen drang aus seiner Kehle. Manchmal grinste er idiotisch in sich hinein und schnitt Gesichter. Bei mehr als einer Gelegenheit wurde er aus der Kirche in seine Zelle zurückgeführt, und natürlich wurde er fortwährend bestraft. Da die Bank, auf der ich gewöhnlich in der Kirche sass, direkt hinter der Bank war, an deren Ende der Unglückliche seinen Platz hatte, hatte ich oft Gelegenheit, ihn zu beobachten. Ich sah ihn auch oft in der Freistunde, und ich sah, dass er im Begriff war, wahnsinnig zu werden, während er als Simulant behandelt wurde.

Am Samstag der letzten Woche war ich ungefähr um ein Uhr damit beschäftigt, die Gefässe, die ich zum Mittagessen benutzte, zu reinigen und blank zu putzen. Plötzlich wurde ich heftig erschreckt: die Stille des Gefängnisses wurde gebrochen durch furchtbares Geschrei oder eigentlich Geheul; ich dachte zuerst, ein Tier, ein Stier oder eine Kuh werde ausserhalb der Gefängnismauern ungeschickt geschlachtet. Ich hörte indessen bald, dass [118] das Geheul aus dem Erdgeschoss des Gefängnisses kam, und ich merkte, dass irgend ein Unseliger gepeitscht wurde. Ich kann nicht beschreiben, wie entsetzlich und schrecklich es für mich war, und ich fragte mich erstaunt, wer in dieser empörenden Weise gezüchtigt wurde. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass es wohl dieser unglückliche Wahnsinnige war, der gepeitscht wurde. Was ich dabei empfand, brauche ich nicht mitzuteilen, es hat nichts mit dieser Frage zu tun.

Am nächsten Tag, am Sonntag, den 16., sah ich den armen Mann in der Freistunde, sein hässliches Gesicht war von Tränen und hysterischen Krämpfen so entstellt, dass er kaum zu erkennen war. Er ging in dem inneren Ring mit den alten Männern, den Bettlern und Lahmen, so dass ich ihn die ganze Zeit über beobachten konnte. Es war mein letzter Sonntag im Gefängnis, es war ein sehr lieblicher Tag, der schönste Tag, den wir im ganzen Jahr gehabt hatten, und da in diesem herrlichen Sonnenlicht ging dieses arme Geschöpf – das einst nach dem [119] Ebenbilde Gottes geschaffen war – grinsend wie ein Affe und mit seinen Händen die seltsamsten Gestikulationen machend, als ob er in der Luft auf einem unsichtbaren Saiteninstrument spielte, oder wie wenn er auf einem sonderbaren Spielbrett die Steine ordnete und verteilte. Mittlerweile hatten diese hysterischen Tränen, ohne die keiner von uns ihn jemals sah, tiefe Rinnen in sein verschwollenes Gesicht gegraben. Seine scheusslichen und bedächtigen Gesten machten ihn einem Possenreisser vergleichbar. Er war ein Urbild des Grotesken. Die andern Gefangenen beobachteten ihn alle und nicht einer von ihnen lächelte. Jeder wusste, was ihm zugestossen war und dass er in den Wahnsinn getrieben worden war, dass er bereits wahnsinnig war. Nach einer halben Stunde befahl ihm einer der Aufseher hineinzugehen, ich vermute, dass er wieder bestraft wurde. Wenigstens war er am Montag nicht in der Freistunde, obwohl ich glaube, ihn an einer Ecke des Hofes in Begleitung eines Aufsehers gesehen zu haben.

[120] Am Dienstag – meinem letzten Tag im Gefängnis – sah ich ihn in der Freistunde. Er befand sich schlimmer als vorher und wurde wieder hineingeschickt. Seitdem weiss ich nichts von ihm, aber ich erfuhr von einem der Gefangenen, der mit mir in der Freistunde ging, dass er am Samstag Nachmittag auf Befehl der Inspektionsbehörde auf Grund eines Berichtes des Arztes im Küchenraum 24 Hiebe erhalten habe. Das Geheul, das uns allen Entsetzen eingeflösst hatte, war von ihm gekommen.

Dieser Mann wird ohne Zweifel unheilbar wahnsinnig. Gefängnisärzte haben keine Kenntnis von Geisteskrankheiten. Sie sind durch die Bank unwissende Menschen. Die Lehre von den Krankheiten des Geistes ist ihnen unbekannt. Wenn ein Mann wahnsinnig wird, behandeln sie ihn als Simulanten. Sie haben ihn wieder und wieder bestraft. Natürlich wird der Zustand des Mannes schlimmer. Wenn die gewöhnlichen Strafen erschöpft sind, berichtet der Arzt über den Fall an die Behörde. Die Folge davon ist: er wird ausgepeitscht. [121] Gewiss wird das Peitschen nicht mit der neunschwänzigen Katze ausgeführt, man benutzt eine Birkenrute; aber die Folgen, die diese Prozedur bei dem unseligen, halbverrückten Opfer hervorbringt, kann man sich vorstellen. Dieser Fall ist ein treffendes Beispiel für die Grausamkeit, die von einem unsinnigen System nicht zu trennen ist, denn der gegenwärtige Direktor von Reading ist ein Mann von edlem und menschenfreundlichem Charakter, der bei allen Gefangenen sehr beliebt und angesehen ist. Es ist ihm aber doch ganz unmöglich, das System zu ändern. Ohne Zweifel sieht er täglich vieles, was er selbst für ungerecht, töricht und grausam hält. Aber die Hände sind ihm gebunden.