Aus dem Leben einer jüdischen Familie/Vom Rigorosum in Freiburg

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X
Vom Rigorosum in Freiburg


1.

Die Osterferien benützte ich, um meine Arbeit zu diktieren. Meine Cousinen Adelheid Burchard und Grete Pick, beide sehr tüchtige Stenotypistinnen, stellten sich mir zur Verfügung und kamen abwechselnd in ihrer dienstfreien Zeit zu mir. Alle Sonn- und Feiertage wurden dafür ausgenützt. Es war eine große Arbeit, denn die Dissertation war zu einem unheimlichen Umfang angeschwollen. Ich hatte in einem ersten Teil, noch in Anlehnung an einige Andeutungen in Husserls Vorlesungen, den Akt der „Einfühlung“ als einen besonderen Akt der Erkenntnis untersucht. Von da aber war ich weitergegangen zu etwas, was mir persönlich besonders am Herzen lag und mich in allen späteren Arbeiten immer wieder neu beschäftigte: zum Aufbau der menschlichen Person. Im Zusammenhang jener Erstlingsarbeit war diese Untersuchung notwendig, um begreiflich zu machen, wie sich das Verstehen geistiger Zusammenhänge vom einfachen Wahrnehmen seelischer Zustände unterscheidet. Für diese Fragen waren mir Max Schelers Vorlesungen und Schriften, sowie die Werke von Wilhelm Dilthey von großer Bedeutung. Im Anschluß an die umfangreiche Einfühlungsliteratur, die ich durchgearbeitet hatte, fügte ich noch einige Kapitel über Einfühlung auf sozialem, ethischem und aesthetischem Gebiet an. Diese Teile habe ich später nicht mit drucken lassen.

Das Manuskript, auf starkem weißem Aktenpapier getippt, war so umfangreich, daß ich es nicht in einem Band binden lassen konnte. Es hätte einen Folianten ergeben, der für den guten Meister allzu unhandlich gewesen wäre. So ließ ich drei Hefte mit biegsamem blauen Pappeinband herstellen, dazu eine feste Mappe, in die alle drei hineingelegt wurden. In dieser Aufmachung ging das Opus kurz nach Ostern als Postpaket nach Freiburg ab. Ich bat Husserl, es im Lauf des Sommers zu prüfen. Im Juli, während meiner Großen Ferien, wollte ich selbst nachkommen, um das Rigorosum zu machen. Der Meister freute sich über das stattliche Werk, bereitete mich aber gleich darauf vor, daß er nicht leicht Zeit finden würde, es durchzusehen. Es war sein erstes Freiburger Semester. Er hielt ein Kolleg [280] zur Einführung in die Philosophie und arbeitete es mit größter Sorgfalt ganz neu aus, um den neuen Schülern das Verständnis für die phänomenologische Methode zu erschließen. Das nahm seine ganze Kraft in Anspruch. Ich ließ mich dadurch nicht einschüchtern. Meine schulfreie Zeit benützte ich jetzt zur Vorbereitung auf die mündliche Prüfung. Auch sonst rüstete ich mich für die große Reise. Seit ich in den Schuldienst eingetreten war, hatte ich es schon für notwendig gefunden, mit größerer Sorgfalt meine Kleider zu wählen. Es war mir klar, wie sehr man beobachtet wird, wenn man vor jungen Mädchen auf dem Katheder steht, und ich wollte ebenso wenig durch Nachlässigkeit wie durch übertriebenen Putz auffallen. Für die Reise mußten noch einige neue Sachen angeschafft werden. Für die Prüfung selbst spendete meine Mutter mir das erste seidene Kleid. (Seidene Kleider trug man damals nur bei feierlichen Gelegenheiten. Meine Schwestern hatten die ersten in ihrer Aussteuer bekommen, als sie heirateten. Erst als in den letzten Kriegsjahren keine Wollstoffe mehr zu haben waren, wurde Seide etwas Alltägliches). Wir wählten miteinander einen schweren, weichen Seidenstoff; die Farbe war ein mattes Pflaumenrot.

Ich freute mich sehr auf die Reise. Zum erstenmal sollte ich über die „Mainlinie“ hinausgelangen. Ich kannte ja Süddeutschland noch gar nicht und hatte mich schon immer danach gesehnt. Der Aufenthalt in Freiburg sollte zugleich meine Ferienerholung bilden. Suse Mugdan hatte ein Semester dort studiert und gab mir verschiedene gute Ratschläge mit. Vor allem sollte ich nicht im Innern der Stadt, sondern draußen in Günterstal wohnen. Dann wäre ich schon im Schwarzwald. In den ersten Julitagen hatten wir Schulschluß. Ich reiste sofort ab. Ich kann gar nicht sagen, wie tief ich aufatmete, als ich die Schule hinter mir hatte. Ich stellte fest, daß für die Lehrer die Ferien noch viel, viel schöner sind als für die Kinder. (Meine Freundin Erika Gothe erklärte später: „Ferien zur Erholung von der Schule sind schön. Aber Ferien ohne Schule sind noch schöner“).

Eine erste große Freude erwartete mich in Dresden. Hans Lipps war dort bei seiner Mutter; mein erster Ferientag war sein letzter Urlaubstag, wir konnten uns gerade noch in Dresden treffen und zusammen bis Leipzig fahren. Er erwartete mich am Bahnhof. Auch er war im Kriege stärker geworden und sah in seiner feldgrauen Uniform mit den braunen Ledergamaschen sehr stattlich aus. Wir hatten nicht genügend Zeit, um noch seine Mutter aufzusuchen. So warteten wir auf die Abfahrt unseres Zuges in einem Café in der Nähe des Bahnhofs. Wir tauschten Nachrichten über unsern Kreis aus. Dabei fragte er: „Gehören Sie auch zu diesem Klub in München, [281] der alle Tage in die Messe geht?“ Ich mußte über seine drollige Ausdrucksweise lachen, obgleich ich den Mangel an Ehrfurcht lebhaft empfand. Er meinte Dietrich von Hildebrand und Siegfried Hamburger, die konvertiert hatten und nun einen großen Eifer zeigten. Nein, ich gehörte nicht dazu. Fast hätte ich gesagt: „Leider nein“. „Was ist das eigentlich, Fräulein Stein? Ich verstehe gar nichts davon“. Ich verstand ein wenig, aber ich konnte nicht viel darüber sagen.

Dann saßen wir in einem Abteil II. Klasse einander gegenüber, die meiste Zeit allein. Lipps hatte auf der Herfahrt den Meister in Freiburg besucht. „Haben Sie gehört, ob er schon etwas von meiner Arbeit gelesen hat?“ „O, keine Spur! Gezeigt hat er sie mir. Er bindet manchmal die Mappe auf, nimmt die Hefte heraus, wägt sie in der Hand und sagt wohlgefällig: Sehen Sie nur, was für eine große Arbeit mir Fräulein Stein geschickt hat! Dann legt er sie schön in die Mappe zurück und bindet sie wieder zu“. „Das sind ja gute Aussichten“, sagte ich lachend.

Ich erzählte von unserm Schulbetrieb und meinen Lateinstunden. Plötzlich unterbrach mich Lipps: „Ach, Fräulein Stein, Sie wissen gar nicht, wie inferior ich mir Ihnen gegenüber vor komme!“ Ich schüttelte den Kopf. „Wie ist das möglich, da Sie doch diese Dinge selbst für durchaus inferior halten?“ „Diese Dinge – ja ...“ Aber der Eindruck war da. Er beruhte übrigens durchaus auf Gegenseitigkeit. Schon früher war mir in seinen knappen Äußerungen eine Tiefe der Einsicht entgegengetreten, neben der mir alle meine Arbeit als Stümperei erschien. Und so ging es mir auch jetzt.


2.
Echt, 7. I. 39
Vorbemerkung

Im Mai 1935, kurz nach meiner 1. hl. Profeß, mußte ich diese Aufzeichnungen abbrechen, da meine Vorgesetzten mir die Vollendung eines großen philosophischen Werkes auftrugen. Erst heute ist es mir nach mancherlei wunderbaren Fügungen möglich, mit der Fortsetzung zu beginnen.

Das Letzte, wovon ich berichtete, war meine Reise von Breslau nach Freiburg im Juli 1916. In Leipzig trennte ich mich von Hans Lipps und fuhr die Nacht hindurch bis Heidelberg. Ich hatte während meiner Gymnasialjahre immer den Traum, in Heidelberg zu [282] studieren. Daraus war nichts geworden. Nun wollte ich es wenigstens kennenlernen, und so unterbrach ich für einen Tag die Fahrt. Übrigens bin ich nicht sicher, ob das auf dieser Reise war oder einige Monate später, als ich wiederum nach Freiburg fuhr. Ebenso weiß ich nicht mehr recht, auf welcher der beiden Fahrten ich mich in Frankfurt mit Pauline Reinach traf. Wir hatten uns viel zu sagen, während wir durch die Altstadt schlenderten, die mir aus Goethes Gedanken und Erinnerungen so vertraut war.

Es machten aber andere Dinge mehr Eindruck auf mich als der Römerberg und der Hirschgraben. Wir traten für einige Minuten in den Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas ganz Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch. Das habe ich nie vergessen können.

Pauline führte mich später am Main entlang in das Liebig’sche Institut, wo Myrons Athena steht. Aber ehe wir zu ihr gelangten, kamen wir in einen Raum, wo von einer Flämischen Grablegung aus dem 16. Jahrhundert vier Figuren aufgestellt waren: die Mutter Gottes und Johannes in der Mitte, Magdalena und Nikodemus an den Seiten. Das corpus Christi war nicht mehr vorhanden. Diese Figuren waren von so überwältigendem Ausdruck, daß wir uns lange nicht davon losreißen konnten. Und als wir von dort zur Athena kamen, fand ich sie nur überaus anmutig, aber sie ließ mich kalt. Erst viele Jahre später habe ich bei einem erneuten Besuch den Zugang zu ihr gefunden.

In Heidelberg hatte ich auch eine gute Führerin: Elisabeth Staiger, die Tochter des Göttinger Mathematikers Felix Klein. Wahrscheinlich habe ich schon von ihr erzählt, denn ich lernte sie Weihnachten 1915 bei Reinachs kennen. Sie war nach dem Tode ihres Mannes wieder in den Schuldienst gegangen und nun hier an einer Bubenschule tätig. Es machte ihr die größte Freude, mit mir Schulerfahrungen auszutauschen. Ich habe das Heidelberger Schloß, den Neckar und die schönen Minnesängerhandschriften in der Universitätsbibliothek gesehen. Und doch hat sich wieder etwas anderes tiefer eingeprägt als diese Weltwunder: eine Simultankirche, die in der Mitte durch eine Wand geteilt ist und diesseits für den protestantischen, jenseits für den katholischen Gottesdienst benützt wird.


[283]
3.

Am nächsten Mittag um 12 Uhr war ich in Freiburg. Meine Freundin Suse Mugdan hatte mir dringend empfohlen, in Günterstal zu wohnen, damit ich auch etwas Ferienerholung hätte. Ein freundlicher Mann führte mich vom Bahnhof zur Haltestelle der Straßenbahn, die nach Günterstal geht. Es ist ein eingemeindetes Dorf im Süden der Stadt, aus der Ebene in die Schwarzwaldberge hineingebaut. Vor dem Eingang zum Dorf liegt am Waldrand, etwas erhöht, ein großes Haus im reinsten italienischen Stil. Der fremdartige Anblick fällt jedem sofort in die Augen. Die Straßenbahnschaffner sagten einem, es sei die Wohlgemut’sche Villa. Sooft man vorbeikam, wünschte man sich, in das verschlossene Paradies einmal eintreten zu dürfen. Es sollte mir später lieb und vertraut werden, als es in den Besitz der Liobaschwestern übergegangen war.

Diesmal fuhr ich daran vorbei durch das kleine alte Tor bis zur Endstation der Straßenbahn. Ganz in der Nähe fand ich in einem sauberen Bauernhaus ein nettes Stübchen zu ebener Erde bei einer freundlichen jungen Frau. Ihr Mann war im Felde; sie hatte die alten Schwiegereltern bei sich. Schrägüber in dem ländlichen Gasthaus zum Kybfelsen gab es für wenig Geld gut und reichlich zu essen, bei schönem Wetter im großen Wirtsgarten.

Sobald ich mein Quartier hatte, machte ich mich auf den Weg zu Husserls. Sie wohnten in der Lorettostraße, halbswegs zwischen Günterstal und der Stadtmitte, am Fuß des Lorettoberges; nicht im eigenen Hause wie in Göttingen, sondern in einer geräumigen Mietswohnung. Als ich in die Diele geführt wurde, sah ich schon den lieben Meister durch eine große Glastür in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzen. Das tat mir leid. In Göttingen hat er ganz weltabgeschieden im Oberstock arbeiten können. Er kam in Zeiten, in denen er mit Hochdruck arbeitete, nicht einmal zum Abendessen herunter. Und nun saß er wie in einem Glashaus. Ich wurde sofort zu ihm geführt. Er kam mir entgegen und rief scherzend: „Exekution kommt!“ Nein, er hatte meine Arbeit noch nicht ansehen können. Das erste Semester an der neuen Universität – er arbeitete sein Kolleg ganz neu aus und brauchte alle Zeit dafür. Übrigens würde mich dieses Kolleg sehr interessieren: die Philosophie der Neuzeit, von unserem Standpunkt aus gesehen, so daß die Hörer dadurch zugleich in die Phänomenologie eingeführt würden. Unter diesen Umständen werde es für mich kaum angehen, jetzt zu promovieren. Frau Husserl war ganz außer sich. „Fräulein Stein hat eigens die weite Reise von Breslau nach Freiburg gemacht, und nun soll es umsonst sein!“ Der Meister ließ sich nicht aus der Fassung [284] bringen. „Fräulein Stein freut sich, Freiburg kennenzulernen und zu sehen, wie ich mich hier einrichtete. Sie wird auch viel von meinem Kolleg haben. Den Doktor kann sie das nächste Mal machen“. Ich war auch durchaus nicht fassungslos, dachte aber im stillen, daß dies wohl noch nicht das letzte Wort in der Angelegenheit sei. Es war klar, daß ich dies Kolleg hören mußte. Viermal in der Woche von 5-6 Uhr nachmittags, nur Mittwoch und Samstag frei. Frau Husserl ging auch regelmäßig hin. Nachher warteten wir vor der Universität bis der Meister aus dem Dozentenzimmer kam. Dann gingen wir zu Fuß den Weg nach der Lorettostraße. In der ersten Vorlesung sah ich auch einen alten Göttinger Bekannten wieder: Roman Ingarden, einen der Polen, die vor dem Krieg schon bei Husserl gehört hatten. Den Anfang des Krieges hatte er in der Polnischen Legion mitgemacht, war aber bald wegen eines Herzfehlers entlassen worden und nach Göttingen zurückgekehrt. Als einziger aus dem alten Göttinger Kreis hatte er den Meister nach Freiburg begleitet. Außer ihm war noch ein junger protestantischer Theologe, Rudolf Meyer, mitgekommen. Dazu kam als neue Anhängerin eine Russin, Frau Pluicke. Von diesen beiden wurde mir bei Husserl erzählt, daß sie „darauf brannten“, mich kennen zu lernen. Darum wurde ich bald einmal mit ihnen zusammen eingeladen. Frau Pluicke war begeistert für die Phänomenologie, aber noch begeisterter für Rudolf Steiner. Unter ihrem Einfluß wandte sich auch der „kleine Meyer“ der Anthroposophie zu. Beide verließen Freiburg nach einiger Zeit. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.

Als ich eines Tages von der Lorettostraße nach Günterstal hinausging, begleiteten mich Husserl und seine Frau. Unterwegs sagte er: „Fräulein Stein, meine Frau läßt mir keine Ruhe. Ich muß mir Zeit nehmen, Ihre Arbeit zu lesen. Ich habe noch nie eine Arbeit angenommen, ohne sie zu kennen. Aber diesmal will ich es tun. Gehen Sie zum Dekan und sehen Sie, daß Sie einen möglichst späten Termin für das Rigorosum bekommen, damit ich mich bis dahin hindurcharbeiten kann“. Natürlich unternahm ich sofort alles Nötige. Die Mappe mit den drei Bänden mußte ich Husserl nun fortnehmen, um sie der Fakultät einzureichen. Ich konnte ihm einen Durchschlag zur Verfügung stellen, damit keine Zeit verloren ging, bis ihm das andere Exemplar offiziell wieder zugestellt wurde. Gewöhnlich gehen Doktoranden zuerst zum Pedell der Universität und geben ihm ein Trinkgeld, damit er ihnen zu der Prüfungskommission verhelfe, die sie wünschen. Dieses Hintertürchen verschmähte ich. Ich ging geradewegs zum Dekan der Philosophischen Fakultät. Das war damals Professor Körte, klassischer Philologe. Während des Krieges war er Hauptmann der Reserve, drillte Rekruten in Freiburg und erledigte [285] in den dienstfreien Stunden seine Amtsgeschäfte als Dekan. So empfing er mich in feldgrauer Uniform. Es war ein sehr liebenswürdiger Herr, man bedurfte wirklich keines Vermittlers, um mit ihm einig zu werden. Die Arbeit konnte niemand anders als Husserl beurteilen. Er mußte also Referent werden. Als Nebenfächer gab ich neuere Geschichte und neuere Literatur an. Dafür kamen Professor Rachfahl und Professor Witkop als Examinatoren in Betracht. Ich erbat mir den 3. August als Examenstermin. Am 6. fing in Breslau die Schule an, ich mußte also am 5. abends zu Hause sein. Einen Tag wollte ich unterwegs in Göttingen bleiben, daher spätestens am 4. früh von Freiburg abreisen. Professor Körte sagte mir, ich müßte selbst die prüfenden Professoren bitten, so lange in Freiburg zu bleiben. Die Vorlesungen pflegten wegen der großen Hitze Ende Juli zu schließen, und dann ging man in die Sommerfrische. Unter diesem Vorbehalt wurde das examen rigorosum auf den 3. August nachmittags 6 Uhr festgesetzt. Nun besuchte ich die beiden Herren und stellte mich ihnen vor. Es war ja etwas Ungewöhnliches, bei ganz Unbekannten die Prüfung zu machen, und ich mußte ein wenig feststellen, wes Geistes Kind sie waren. Rachfahls Bücher hatte ich gelesen. Vor allem war er mir bekannt durch seine Theorie über Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution des Jahres 1848 – eine Theorie, die von meinen Lehrern in der neueren Geschichte (Georg Kaufmann in Breslau und Max Lehmann in Göttingen) – wie auch sonst ziemlich allgemein – entschieden abgelehnt wurde. Die Märzrevolution gehörte zu meinem Spezialgebiet, meine historische Staatsexamensarbeit hing damit zusammen. So mußte ich vorsichtig sein, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Professor Witkop war es, wie ich aus der Unterredung merkte, nicht um Zahlen und Daten, sondern um Ideen zu tun. Er erkundigte sich, ob ich die Bücher von Eugen Kühnemann gelesen hätte. Das sagte mir schon viel. Das Herder-Buch kannte ich noch nicht und holte es mir sofort von der Bibliothek. Mit dem Termin waren beide Herren einverstanden. Ich ging noch einigemal zu ihnen in die Vorlesung, um mich auf ihre Denkweise einzustellen. Ich glaube, nicht mehr als zwei- oder dreimal. Dann meinte ich genügend im Bilde zu sein. Ich mußte ja auch daran denken, daß ich Ferien hatte und mich für ein neues Quartal stärken sollte. Ich ging jetzt gewöhnlich früh morgens mit meinen Büchern von Günterstal aus auf einen der umliegenden Berge, legte mich auf eine Wiese und arbeitete da für die Prüfung.


[286]
4.

In diesen Tagen kam meine Freundin Erika Gothe von Göttingen, Auch für sie sollte es die Ferienerholung sein; zugleich wollte sie mir beistehen, daß ich nicht mutterseelenallein am Prüfungstage hier sei. Ich holte sie vom Bahnhof ab. Als wir dann in meinem kleinen Stübchen beisammensaßen, legte ich meine Schwarzwaldkarte vor sie hin und zeigte ihr: Hier ist der Feldberg. Da müssen wir einmal hin. Auch an den Bodensee müssen wir einmal. Erika strahlte vor Freude und umarmte mich. Reinachs hatten ihr dringend abgeraten, zu mir zu fahren. Ich würde jetzt doch nur fürs Examen arbeiten und für nichts anderes zu haben sein. Nun wurde sie für ihre Freundestreue belohnt. Wir mußten es aber schlau anstellen mit unsern Ausflügen. Es durfte kein Husserl-Kolleg geschwänzt werden. Für den Feldberg mußte die Zeit von einer Vorlesung zur andern reichen. Wir machten den Hinweg ganz zu Fuß, von Günterstal über den Schauinsland, übernachteten unterwegs und konnten nachmittags stolz nach der Vorlesung erzählen, daß wir früh auf dem Feldberg gewesen waren und beim Morgenkaffee die Alpen gesehen hatten. Mit der Fahrt zum Bodensee warteten wir bis zu den letzten Tagen vor der Prüfung. Dafür mußten wir etwas mehr Zeit haben und benützten den Samstag und Sonntag. Wir beschlossen, bei Husserls vorläufig nichts zu erzählen, weil es den Meister beunruhigen könnte, daß ich mir so etwas unmittelbar vor dem Examen gönnte. Als wir auf dem Wiehrer Bahnhof die Höllentalbahn erwarteten, bemerkten wir die ganze Familie auf dem Bahnsteig. Sie stiegen nicht weit von uns entfernt in denselben Zug und fuhren eine Strecke weit mit, ich glaube, bis Hinterzarten. Es kam uns vor, als wollten sie so wenig von uns gesehen werden wie wir von ihnen. Gerhart war bei ihnen; er war nur für wenige Tage auf Urlaub da, und wir nahmen an, daß die Eltern gern mit ihrem Sohn allein sein wollten. Wir fuhren durch das ganze Höllental durch nach Donaueschingen. Dort nahmen wir den Zug nach Singen hinunter. Als wir kürzlich vom Feldberg herab im Osten die Hegauer Berge wie Schaumkämme aufsteigen sahen, hatte ich beschlossen, daß wir den Hohentwiel besuchen wollten. Wir blieben über Nacht in Singen. Es war schön, am Abend auf den Berg hinaufzusteigen, in der alten Burg herumzuwandern, an Eckehart zu denken und an Schillers Jugendjahre, da so mancher Gefangene auf dieser Zwingburg schmachtete. Am Morgen ging es weiter an den See. Eine alte Frau fuhr uns von Radolfszell im Kahn beim Klang der Kirchenglocken hinüber nach der Insel Reichenau. Das Kloster hat mir damals keinen besonders tiefen Eindruck gemacht. Weingärten unter tiefblauem [287] Himmel, in blendendem Sonnenlicht, umspielt von den grünen Wellen des Sees – das ist es, was mir von diesem Tag geblieben ist.

Neben fröhlichen Wanderfahrten gab es aber auch sehr ernste Eindrücke in diesen Tagen. Gleich in der ersten oder zweiten Nacht nach Erikas Ankunft wurden wir von einem Fliegerangriff geweckt. Ich war es schon so gewöhnt und kümmerte mich nicht viel darum. Erika schlief in einem andern Zimmer, Wand an Wand mit dem alten Ehepaar. Plötzlich klopfte mir der Mann und sagte in seinem badischen Dialekt, mein Kamerad weine. Ich zog mich schnell an und lief zu ihr hinüber. Sie war in der Tat in Tränen aufgelöst, aber nicht aus Angst für sich selbst. Man hatte ihr erzählt, in Freiburg sei das Geschützfeuer aus den Vogesen zu hören, und drüben stand ihr Bruder Hans als Leutnant. Nun hörte sie das Krachen der Granaten und sagte: Wenn das hier schon so entsetzlich klingt, was muß es drüben für eine Hölle sein! Ich kniete vor ihrem Bett und beruhigte sie. Was wir hörten, seien die Abwehrgeschütze, die vom Schloßberg herab Sperrfeuer über die ganze Stadt legten. Von den Vogesen könne man nur ein dumpfes Dröhnen hören. Nun versiegten die Tränen sofort. Erika war völlig getröstet. Sie hatte sogar Augen für das Kleid, das ich schnell übergeworfen hatte. „Sie haben Ihren Stil gefunden“, sagte sie. Seit ich Lehrerin war, gab ich mir Mühe, tadellos gekleidet zu sein. Ich stand ja vor erwachsenen Mädchen aus den besten Familien auf dem Katheder und wußte, was für scharfe Augen sie für das Äußere hatten. Ich wollte so wenig durch Nachlässigkeit wie durch übertriebene Eleganz Anstoß geben, sondern möglichst unauffällig sein, um die Aufmerksamkeit so wenig als möglich vom Unterricht auf meine Person abzulenken.

Natürlich mußte ich meine Vorbereitung auf die mündliche Prüfung trotz Erikas Ferien fortsetzen. Wir hatten jetzt früh noch mehr auf die Berge hinaufzuschleppen. Während ich mit meinen Büchern beschäftigt war, studierte Erika meine Arbeit. Sie ging auch ganz getreu nachmittags mit in Husserls Vorlesung, und wir warteten nun nachher zu dritt auf ihn. Einmal sagte er beim Herauskommen zu mir: „Es ist gut, daß Sie jetzt nicht mit im Dozentenzimmer waren, sonst könnten Sie eitel werden; ich habe den andern Herren von Ihnen erzählt, habe auch Ihre Verdienste im Krieg als Schwester hervorgehoben“. Es war ihm sehr viel daran gelegen, daß ich die Prüfung gut bestand. Es hatte ja noch niemand aus seinem Schülerkreis in Freiburg promoviert, ich als erste sollte nun einen guten Eindruck machen. Er hatte schon bei mehreren Prüfungen mitgewirkt, da Philosophie öfters als Nebenfach gewählt wurde. Als wir einmal abends bei ihm eingeladen waren, erzählte [288] er von seinen Erfahrungen. Die Anforderungen seien sehr hoch. Cum laude sei schon ein sehr gutes Prädikat, magna cum laude werde selten gegeben, summa cum laude nur für Habilitationskandidaten. „Dann will ich mich mal auf cum laude einstellen“, sagte ich scherzend. „Seien Sie froh, wenn Sie überhaupt durchkommen“, war die Antwort. Das war ein kleiner Dämpfer für meinen Übermut. Übrigens seufzte der Meister sehr unter dem Zwang, meine Arbeit durchzustudieren. Fräulein Ortmann kam einmal über Sonntag von Straßburg zu uns herüber. Wir waren nachmittags mit ihr bei Husserls. Der Meister erschien zum Kaffee auf der Veranda, zog sich aber bald zurück. „Ich kann Ihnen gar keine Zeit widmen“, sagte er zu Fräulein Ortmann. „Bedanken Sie sich bei Fräulein Stein, ich brauche alle Zeit für ihre Arbeit“. Mich rief er zu sich in sein Studierzimmer, ich sollte ihm etwas erklären, was er nicht ganz verstanden hatte. Dabei sprachen wir etwas über das Ganze. „Es ist ja nur eine Schülerarbeit“, sagte ich. „Nein, durchaus nicht“, antwortete er entschieden, „ich finde sie sogar sehr selbständig“. Es war das erste Urteil, das ich zu hören bekam, und klang sehr verheißungsvoll.

Einmal waren wir in größerem Kreis bei Husserls eingeladen. Wenn ich mich nicht irre, war es an diesem Abend, daß ich Martin Heidegger kennenlernte. Er hatte sich noch bei Rickert habilitiert, Husserl hatte ihn von seinem Vorgänger übernommen. Seine Antrittsvorlesung hielt er erst, als Husserl schon in Freiburg war. Sie hatte unverkennbare Spitzen gegen die Phänomenologie. Seine spätere Frau, damals noch Fräulein Petri, war im Seminar bei Husserl und opponierte lebhaft. Er hatte mir selbst davon erzählt: „Wenn ein Weibsbild so widerspenstig ist, dann steckt ein Mannsbild dahinter“. An diesem Abend gefiel mir Heidegger sehr gut. Er war still und in sich gekehrt, solange nicht von Philosophie gesprochen wurde. Sobald aber eine philosophische Frage auftauchte, war er voller Leben.

Als wir wieder in Günterstal waren, sprachen wir noch im Bett über den Abend. (Wenn wir spät nach Hause kamen, legte sich die junge Wirtin in mein kleines Zimmerchen nach der Straße hin und überließ uns ihr großes Schlafzimmer mit zwei Betten.) Erika hatte lange mit dem Meister allein gesprochen. Er hatte geklagt, daß er mit seiner Arbeit nicht vorankomme. Er hatte den II. Teil seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie im Zusammenhang mit dem I. 1912 entworfen. Nachdem der erste Teil 1913 erschienen war, drängte man ihn, erst die Neuauflage der Logischen Untersuchungen zu besorgen, da die alte Auflage vergriffen war. Dann kam der Ausbruch des Krieges, der Tod seines Sohnes Wolfgang, die Übersiedlung nach [289] Freiburg. Das alles hatte ihn aus den Gedankengängen seines Werkes herausgerissen, und er konnte sich nicht wieder hineinfinden. Den Entwurf konnte er nicht mehr entziffern, denn er hatte ihn in winzigen Bleistiftzeichen stenographiert; dafür langte seine Sehkraft nicht mehr aus, er klagte schon lange über die Schwäche seiner Augen, hätte gerne eine Staroperation vornehmen lassen, das Übel wurde aber nicht operationsreif. Jetzt wußte er nur eine Rettung: er mußte einen Assistenten haben. Wir lagen in unsern Betten und zerbrachen uns die Köpfe: wo sollten wir einen Assistenten für den Meister hernehmen, da alle alten Schüler im Felde standen? Am ehesten hätte sich wohl Fritz Frankfurter dafür geeignet. Aber er war ja als einer der ersten gefallen. „Wenn ich dächte, daß er mich brauchen könnte“, sagte ich schließlich, „würde ich kommen“. Erika war ganz erstaunt. „Wäre das möglich? Ich könnte es nicht. Ich muß jetzt in den Schuldienst gehen und etwas verdienen“. Ich hatte auch kein Vermögen, von dem ich leben konnte. Aber Rechnen war nicht meine Sache. Ich würde es einfach tun. Nur schien es mir gar nicht denkbar, daß ich in Betracht kommen könnte. Ich war doch so ein kleines Ding und Husserl der erste unter den lebenden Philosophen – nach meiner Überzeugung einer von den ganz Großen, die ihre Zeit überleben und die Geschichte bestimmen[1]. Aber ich wußte mir Rat. „Ich will ihn selbst fragen. Ich kann noch warten bis nach der Prüfung. Wenn er die Arbeit fertig gelesen hat, wird er es ja auch besser beurteilen können“. Damit beschlossen wir unsere Beratung und sagten uns Gute Nacht.


5.

Als wir am nächsten Tage um 6 Uhr nachmittags mit Frau Husserl vor dem Portal der Universität warteten und Husserl die Stufen herabkam, sagte er zu seiner Frau: „Geh mit Fräulein Gothe voraus, ich habe mit Fräulein Stein zu sprechen“. So setzten wir uns zwei und zwei in Bewegung. Ich wartete gespannt, was nun kommen würde. Schon vor einigen Tagen hatte der Meister gescherzt: „Ihre Arbeit gefällt mir immer besser. Ich muß mich in acht nehmen, daß es nicht gar zu hoch hinaufgeht“. Jetzt ging es zunächst im selben Ton fort: „Ich bin nun schon ziemlich weit in Ihrer Arbeit. Sie sind ja ein sehr begabtes kleines Mädchen“. Dann wurde er etwas ernsthafter. „Ich habe nur Bedenken, ob diese Arbeit [290] neben den Ideen im Jahrbuch möglich sein wird. Ich habe den Eindruck, daß Sie manches aus dem II. Teil der Ideen vorweggenommen haben“. Es gab mir innerlich einen Ruck. Da war ja ein Punkt, wo ich mit meiner Frage einhaken konnte. Nun schnell die Gelegenheit beim Schopf packen. „Wenn das wirklich so ist, Herr Professor – ich habe sowieso noch etwas fragen wollen. Fräulein Gothe sagte mir, Sie müßten einen Assistenten haben. Meinen Sie, daß ich Ihnen helfen könnte?“ Wir waren gerade im Begriff, über die Dreisam zu gehen. Der Meister blieb mitten auf der Friedrichsbrücke stehen und rief in freudigster Überraschung: „Wollen Sie zu mir kommen? Ja, mit Ihnen möchte ich arbeiten!“ Ich weiß nicht, wer von uns beiden glücklicher war. Wir waren wie ein junges Paar im Augenblick der Verlobung. In der Lorettostraße standen Frau Husserl und Erika und sahen uns entgegen. Husserl sagte zu seiner Frau: „Denke Dir, Fräulein Stein will zu mir als Assistentin kommen“. Erika sah mich an. Wir brauchten keine Worte zur Verständigung. In ihren tiefliegenden, dunklen Augen leuchtete die innigste Freude auf. Als wir abends wieder in unsern Betten lagen, sagte sie: „Gute Nacht, Assistentin!“

Wenn wir jetzt wieder mit Husserls zusammentrafen, wurden eifrig Zukunftspläne geschmiedet. Ich mußte noch für zwei Monate an die Schule in Breslau zurückkehren. Es war ja im Augenblick kein Ersatz für mich da, noch im Herbst hatte ich im Abiturium Latein zu prüfen. Aber vom 1. Oktober ab wollte ich mich frei machen. Husserls waren selbst erstaunt, daß ich ohne jedes Bedenken den Schuldienst an den Nagel hängen wollte. Frau Husserl zog daraus den Schluß, daß ich wohl sehr vermögend sein müsse. Jedenfalls wurde mir einige Jahre später wiedererzählt, daß sie mich dafür ausgegeben habe. Es wurde ernstlich über die Gehaltsfrage gesprochen. Husserl sagte, 100 Mark im Monat könne er mir geben. Damit würde ich freilich nicht durchkommen, aber es wäre doch eine große Erleichterung; meine Angehörigen würden dann lieber ihre Zustimmung geben. Ich sagte zu allem ja. Solche Dinge waren mir peinlich, ich wollte möglichst schnell davon loskommen.

Die Prüfung stand jetzt gar nicht mehr im Vordergrunde. Husserl sagte lachend: „Wir können sprechen, wovon Sie wollen. Sogar von Einfühlung. (Das war der Gegenstand meiner Doktorarbeit). Nur das Wort müssen wir vermeiden“. Ich schärfte ihm ein: „Prüfen Sie nur nicht so lange Geschichte der Philosophie wie im Staatsexamen“. Er meinte, dann würde es wohl gerade nötig sein.

Endlich kam der große Tag, der 3. August 1916. Am Vorabend fragte Erika im Bett, wie mir zumute sei. Ich antwortete: „In 24 Stunden ist es auf alle Fälle vorbei“. Sie war sehr erstaunt über [291] solchen Fatalismus. Natürlich begleitete sie mich auf das Schlachtfeld. Vorher gingen wir zur Stärkung in Birlingers Kaffeestuben. Dort war ich besonders gern, es waren mehrere reizend eingerichtete Biedermeierzimmer. Wir fanden auch einen Tisch in dem frei, das mir am besten gefiel: in Grün und Schwarz gehalten. Ich bestellte Eiskaffee und Torte und bewies so ungewöhnliche Leistungsfähigkeit, daß Erika fast fürchtete, es könnte mir schlecht bekommen. Es war ein fürchterlich heißer Tag. Der Dekan hatte als Prüfungsraum das Sitzungszimmer der Staatswissenschaftlichen Fakultät gewählt, weil es dort am kühlsten war. Er ließ Husserl und mich am Sitzungstisch in bequemen Ledersesseln Platz nehmen. Er selbst setzte sich mit dem Rücken zu uns an den Schreibtisch, als ginge ihn die Sache nichts an. Natürlich hörte er sehr aufmerksam zu, aber er wollte mich so wenig als möglich beirren. So war es mir ein vertraulicher Gedankenaustausch mit dem Meister. Um die Sache wirkungsvoller zu gestalten, leitete er die Fragen ein: „Es ist zwar viel verlangt, daß man in der Prüfung selbständig denken soll, noch dazu bei solcher Hitze – aber können Sie mir vielleicht sagen...? usw.“ Ich vermute, daß der freundliche Beisitzer die fromme List durchschaute. Er ließ aber nichts merken. Die vorgeschriebene Stunde ging mir schnell vorbei. Am Schluß sprang der Dekan auf und sagte. „Nun müssen wir Fräulein Stein aber ein Glas Wasser verschaffen“. Er eilte selbst durchs Haus, um etwas herbeizuholen, obgleich ich durchaus nicht schwach oder erfrischungsbedürftig war. Nun kamen noch die beiden Nebenfächer, für jedes war eine halbe Stunde vorgesehen. Professor Witkop fragte so schöngeistig, daß ich mich vor Husserl schämte. Ich gab aber die gewünschten Antworten, und der Examinator machte Husserl nachher das Kompliment, man hätte doch gleich die philosophische Schulung gemerkt. Er prüfte sogar 40 Minuten, so daß der Dekan schließlich unterbrach und sagte: „Herr Kollege, wir wollen Fräulein Stein doch nicht länger als nötig quälen“. Die Geschichtsprüfung war nur noch ein kleines Anhängsel. Als mir ein Name nicht einfallen wollte, soufflierte Husserl. Um 8 Uhr durfte ich mich entfernen. Die Herren blieben zur Beratung über das Ergebnis zurück. Unten in der großen Halle warteten Erika und Ingarden.

Jetzt erschien auch der Pedell auf der Bildfläche, den ich bisher noch gar nicht zu sehen bekommen hatte. Er beglückwünschte mich: „Summa wird es wohl mindestens geworden sein. Das ist ja gar nicht anders möglich nach dem Urteil, das Husserl unter die Arbeit geschrieben hat“. Er bekam sein Trinkgeld, obwohl er nichts für mich getan hatte.

Für den Abend waren wir zu Husserls eingeladen. Wir wußten [292] aber, daß es dort nur etwas Süßes geben würde, so wollten wir noch vorher irgendwo ein Nachtessen nehmen. Ingarden schlug zwar vor, darauf zu verzichten, da wir aber nicht darauf eingingen, führte er uns zu einem Restaurant in der Nähe. Hier wollte er sich verabschieden. Es kam heraus, daß er kein Geld hatte. Sein Monatswechsel war noch nicht eingetroffen, und vom alten Monat war nichts mehr übrig. „Es ist doch selbstverständlich, daß Sie heute mein Gast sind“, sagte ich. Als wir mit dem Essen fertig waren, schob ich ihm heimlich mein Geldtäschchen zu und ließ ihn für uns alle bezahlen.

Nun war es aber reichlich spät geworden. Bei Husserls warteten schon alle auf uns. Frau Husserl und Elli hatten einen prächtigen Kranz aus Efeu und Margeriten gewunden. Der wurde mir statt eines Lorbeerkranzes aufgesetzt. „Wie eine Königin“, sagte der kleine Meyer ganz begeistert. Husserl strahlte vor Freude. Der Dekan selbst hatte das Prädikat Summa cum laude vorgeschlagen. Es war wohl nach Mitternacht, als wir uns verabschiedeten. Es ging keine Straßenbahn mehr. Wir mußten im Stockfinstern den Weg zu Fuß machen. Wegen der Fliegergefahr war ja immer alles völlig abgedunkelt. Ingarden begleitete uns bis vor unser Häuschen. Er hatte gehört, daß ich am 1. Oktober wiederkäme, und war ganz glücklich, daß er dann nicht mehr allein in Freiburg sein werde.

Drinnen wurde die junge Frau wach, als wir hereinkamen. Ich hatte noch den Kranz auf. „So müßte man Sie photographieren“, sagte sie, „solange noch der Glückstrahl da ist. Sonst hat sie immer so ein schaffig’s Gesicht“.

Am Morgen telegraphierte ich nach Hause, um das Ergebnis und die Stunde meiner Ankunft zu melden. Dann reisten wir ab. Ich weiß nicht mehr, warum Erika nicht mehr mit nach Göttingen fahren konnte. Ich erinnere mich nur, daß ich allein dort ankam. Frau Reinach erwartete mich, ich nahm aber ein Zimmer in Gebhards Hotel am Bahnhof, weil ich am nächsten Morgen schon weiterfahren mußte. Dann fuhren wir in einer Taxe zum Steinsgraben.



Druck: Drukkerij „De Maas en Waler“, R. Bosman, Druten (Gld)

  1. Ich schreibe dies am 27. IV. 1939. Heute vor einem Jahr ist der liebe Meister in die Ewigkeit gegangen.
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