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solchen Fatalismus. Natürlich begleitete sie mich auf das Schlachtfeld. Vorher gingen wir zur Stärkung in Birlingers Kaffeestuben. Dort war ich besonders gern, es waren mehrere reizend eingerichtete Biedermeierzimmer. Wir fanden auch einen Tisch in dem frei, das mir am besten gefiel: in Grün und Schwarz gehalten. Ich bestellte Eiskaffee und Torte und bewies so ungewöhnliche Leistungsfähigkeit, daß Erika fast fürchtete, es könnte mir schlecht bekommen. Es war ein fürchterlich heißer Tag. Der Dekan hatte als Prüfungsraum das Sitzungszimmer der Staatswissenschaftlichen Fakultät gewählt, weil es dort am kühlsten war. Er ließ Husserl und mich am Sitzungstisch in bequemen Ledersesseln Platz nehmen. Er selbst setzte sich mit dem Rücken zu uns an den Schreibtisch, als ginge ihn die Sache nichts an. Natürlich hörte er sehr aufmerksam zu, aber er wollte mich so wenig als möglich beirren. So war es mir ein vertraulicher Gedankenaustausch mit dem Meister. Um die Sache wirkungsvoller zu gestalten, leitete er die Fragen ein: „Es ist zwar viel verlangt, daß man in der Prüfung selbständig denken soll, noch dazu bei solcher Hitze – aber können Sie mir vielleicht sagen...? usw.“ Ich vermute, daß der freundliche Beisitzer die fromme List durchschaute. Er ließ aber nichts merken. Die vorgeschriebene Stunde ging mir schnell vorbei. Am Schluß sprang der Dekan auf und sagte. „Nun müssen wir Fräulein Stein aber ein Glas Wasser verschaffen“. Er eilte selbst durchs Haus, um etwas herbeizuholen, obgleich ich durchaus nicht schwach oder erfrischungsbedürftig war. Nun kamen noch die beiden Nebenfächer, für jedes war eine halbe Stunde vorgesehen. Professor Witkop fragte so schöngeistig, daß ich mich vor Husserl schämte. Ich gab aber die gewünschten Antworten, und der Examinator machte Husserl nachher das Kompliment, man hätte doch gleich die philosophische Schulung gemerkt. Er prüfte sogar 40 Minuten, so daß der Dekan schließlich unterbrach und sagte: „Herr Kollege, wir wollen Fräulein Stein doch nicht länger als nötig quälen“. Die Geschichtsprüfung war nur noch ein kleines Anhängsel. Als mir ein Name nicht einfallen wollte, soufflierte Husserl. Um 8 Uhr durfte ich mich entfernen. Die Herren blieben zur Beratung über das Ergebnis zurück. Unten in der großen Halle warteten Erika und Ingarden.

Jetzt erschien auch der Pedell auf der Bildfläche, den ich bisher noch gar nicht zu sehen bekommen hatte. Er beglückwünschte mich: „Summa wird es wohl mindestens geworden sein. Das ist ja gar nicht anders möglich nach dem Urteil, das Husserl unter die Arbeit geschrieben hat“. Er bekam sein Trinkgeld, obwohl er nichts für mich getan hatte.

Für den Abend waren wir zu Husserls eingeladen. Wir wußten

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/310&oldid=- (Version vom 31.7.2018)