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3.

Am nächsten Mittag um 12 Uhr war ich in Freiburg. Meine Freundin Suse Mugdan hatte mir dringend empfohlen, in Günterstal zu wohnen, damit ich auch etwas Ferienerholung hätte. Ein freundlicher Mann führte mich vom Bahnhof zur Haltestelle der Straßenbahn, die nach Günterstal geht. Es ist ein eingemeindetes Dorf im Süden der Stadt, aus der Ebene in die Schwarzwaldberge hineingebaut. Vor dem Eingang zum Dorf liegt am Waldrand, etwas erhöht, ein großes Haus im reinsten italienischen Stil. Der fremdartige Anblick fällt jedem sofort in die Augen. Die Straßenbahnschaffner sagten einem, es sei die Wohlgemut’sche Villa. Sooft man vorbeikam, wünschte man sich, in das verschlossene Paradies einmal eintreten zu dürfen. Es sollte mir später lieb und vertraut werden, als es in den Besitz der Liobaschwestern übergegangen war.

Diesmal fuhr ich daran vorbei durch das kleine alte Tor bis zur Endstation der Straßenbahn. Ganz in der Nähe fand ich in einem sauberen Bauernhaus ein nettes Stübchen zu ebener Erde bei einer freundlichen jungen Frau. Ihr Mann war im Felde; sie hatte die alten Schwiegereltern bei sich. Schrägüber in dem ländlichen Gasthaus zum Kybfelsen gab es für wenig Geld gut und reichlich zu essen, bei schönem Wetter im großen Wirtsgarten.

Sobald ich mein Quartier hatte, machte ich mich auf den Weg zu Husserls. Sie wohnten in der Lorettostraße, halbswegs zwischen Günterstal und der Stadtmitte, am Fuß des Lorettoberges; nicht im eigenen Hause wie in Göttingen, sondern in einer geräumigen Mietswohnung. Als ich in die Diele geführt wurde, sah ich schon den lieben Meister durch eine große Glastür in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzen. Das tat mir leid. In Göttingen hat er ganz weltabgeschieden im Oberstock arbeiten können. Er kam in Zeiten, in denen er mit Hochdruck arbeitete, nicht einmal zum Abendessen herunter. Und nun saß er wie in einem Glashaus. Ich wurde sofort zu ihm geführt. Er kam mir entgegen und rief scherzend: „Exekution kommt!“ Nein, er hatte meine Arbeit noch nicht ansehen können. Das erste Semester an der neuen Universität – er arbeitete sein Kolleg ganz neu aus und brauchte alle Zeit dafür. Übrigens würde mich dieses Kolleg sehr interessieren: die Philosophie der Neuzeit, von unserem Standpunkt aus gesehen, so daß die Hörer dadurch zugleich in die Phänomenologie eingeführt würden. Unter diesen Umständen werde es für mich kaum angehen, jetzt zu promovieren. Frau Husserl war ganz außer sich. „Fräulein Stein hat eigens die weite Reise von Breslau nach Freiburg gemacht, und nun soll es umsonst sein!“ Der Meister ließ sich nicht aus der Fassung

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/302&oldid=- (Version vom 31.7.2018)