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in den dienstfreien Stunden seine Amtsgeschäfte als Dekan. So empfing er mich in feldgrauer Uniform. Es war ein sehr liebenswürdiger Herr, man bedurfte wirklich keines Vermittlers, um mit ihm einig zu werden. Die Arbeit konnte niemand anders als Husserl beurteilen. Er mußte also Referent werden. Als Nebenfächer gab ich neuere Geschichte und neuere Literatur an. Dafür kamen Professor Rachfahl und Professor Witkop als Examinatoren in Betracht. Ich erbat mir den 3. August als Examenstermin. Am 6. fing in Breslau die Schule an, ich mußte also am 5. abends zu Hause sein. Einen Tag wollte ich unterwegs in Göttingen bleiben, daher spätestens am 4. früh von Freiburg abreisen. Professor Körte sagte mir, ich müßte selbst die prüfenden Professoren bitten, so lange in Freiburg zu bleiben. Die Vorlesungen pflegten wegen der großen Hitze Ende Juli zu schließen, und dann ging man in die Sommerfrische. Unter diesem Vorbehalt wurde das examen rigorosum auf den 3. August nachmittags 6 Uhr festgesetzt. Nun besuchte ich die beiden Herren und stellte mich ihnen vor. Es war ja etwas Ungewöhnliches, bei ganz Unbekannten die Prüfung zu machen, und ich mußte ein wenig feststellen, wes Geistes Kind sie waren. Rachfahls Bücher hatte ich gelesen. Vor allem war er mir bekannt durch seine Theorie über Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution des Jahres 1848 – eine Theorie, die von meinen Lehrern in der neueren Geschichte (Georg Kaufmann in Breslau und Max Lehmann in Göttingen) – wie auch sonst ziemlich allgemein – entschieden abgelehnt wurde. Die Märzrevolution gehörte zu meinem Spezialgebiet, meine historische Staatsexamensarbeit hing damit zusammen. So mußte ich vorsichtig sein, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Professor Witkop war es, wie ich aus der Unterredung merkte, nicht um Zahlen und Daten, sondern um Ideen zu tun. Er erkundigte sich, ob ich die Bücher von Eugen Kühnemann gelesen hätte. Das sagte mir schon viel. Das Herder-Buch kannte ich noch nicht und holte es mir sofort von der Bibliothek. Mit dem Termin waren beide Herren einverstanden. Ich ging noch einigemal zu ihnen in die Vorlesung, um mich auf ihre Denkweise einzustellen. Ich glaube, nicht mehr als zwei- oder dreimal. Dann meinte ich genügend im Bilde zu sein. Ich mußte ja auch daran denken, daß ich Ferien hatte und mich für ein neues Quartal stärken sollte. Ich ging jetzt gewöhnlich früh morgens mit meinen Büchern von Günterstal aus auf einen der umliegenden Berge, legte mich auf eine Wiese und arbeitete da für die Prüfung.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/304&oldid=- (Version vom 31.7.2018)