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bringen. „Fräulein Stein freut sich, Freiburg kennenzulernen und zu sehen, wie ich mich hier einrichtete. Sie wird auch viel von meinem Kolleg haben. Den Doktor kann sie das nächste Mal machen“. Ich war auch durchaus nicht fassungslos, dachte aber im stillen, daß dies wohl noch nicht das letzte Wort in der Angelegenheit sei. Es war klar, daß ich dies Kolleg hören mußte. Viermal in der Woche von 5-6 Uhr nachmittags, nur Mittwoch und Samstag frei. Frau Husserl ging auch regelmäßig hin. Nachher warteten wir vor der Universität bis der Meister aus dem Dozentenzimmer kam. Dann gingen wir zu Fuß den Weg nach der Lorettostraße. In der ersten Vorlesung sah ich auch einen alten Göttinger Bekannten wieder: Roman Ingarden, einen der Polen, die vor dem Krieg schon bei Husserl gehört hatten. Den Anfang des Krieges hatte er in der Polnischen Legion mitgemacht, war aber bald wegen eines Herzfehlers entlassen worden und nach Göttingen zurückgekehrt. Als einziger aus dem alten Göttinger Kreis hatte er den Meister nach Freiburg begleitet. Außer ihm war noch ein junger protestantischer Theologe, Rudolf Meyer, mitgekommen. Dazu kam als neue Anhängerin eine Russin, Frau Pluicke. Von diesen beiden wurde mir bei Husserl erzählt, daß sie „darauf brannten“, mich kennen zu lernen. Darum wurde ich bald einmal mit ihnen zusammen eingeladen. Frau Pluicke war begeistert für die Phänomenologie, aber noch begeisterter für Rudolf Steiner. Unter ihrem Einfluß wandte sich auch der „kleine Meyer“ der Anthroposophie zu. Beide verließen Freiburg nach einiger Zeit. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.

Als ich eines Tages von der Lorettostraße nach Günterstal hinausging, begleiteten mich Husserl und seine Frau. Unterwegs sagte er: „Fräulein Stein, meine Frau läßt mir keine Ruhe. Ich muß mir Zeit nehmen, Ihre Arbeit zu lesen. Ich habe noch nie eine Arbeit angenommen, ohne sie zu kennen. Aber diesmal will ich es tun. Gehen Sie zum Dekan und sehen Sie, daß Sie einen möglichst späten Termin für das Rigorosum bekommen, damit ich mich bis dahin hindurcharbeiten kann“. Natürlich unternahm ich sofort alles Nötige. Die Mappe mit den drei Bänden mußte ich Husserl nun fortnehmen, um sie der Fakultät einzureichen. Ich konnte ihm einen Durchschlag zur Verfügung stellen, damit keine Zeit verloren ging, bis ihm das andere Exemplar offiziell wieder zugestellt wurde. Gewöhnlich gehen Doktoranden zuerst zum Pedell der Universität und geben ihm ein Trinkgeld, damit er ihnen zu der Prüfungskommission verhelfe, die sie wünschen. Dieses Hintertürchen verschmähte ich. Ich ging geradewegs zum Dekan der Philosophischen Fakultät. Das war damals Professor Körte, klassischer Philologe. Während des Krieges war er Hauptmann der Reserve, drillte Rekruten in Freiburg und erledigte

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/303&oldid=- (Version vom 31.7.2018)