Aus alten Zeiten/Johannchen und Binchen

Was der Großvater von seinem Vater hörte Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
Lauter Scheiden
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[54]
3. Johannchen und Binchen (Benigna).




„Dort habe ich meine glücklichsten Kindheitsjahre ver­bracht," – sagte der blinde Großvater von dem Pastorate Durben, als er jüngst von seinen Erinnerungen berichtete und schließlich bis zur grausen Pestzeit aufstieg. Und gewiß darf ein Menschenkind, das bei uns in einem ländlichen Pfarrhause das Licht dieser Welt erblickt, vor vielen andern rühmen: „Das Los ist mir gefallen aufs Liebliche; mir ist ein schön Erbteil geworden.“

Sind’s freilich oft nur alte, baufällige Räume, einfach ausgestattet (zumal in jener Zeit), unsere Pastorate, so wissen sie doch meist nichts von jener dumpfen, drückenden Enge, in welcher es so manchem andern Menschendasein bestimmt war, zuerst zum Bewußtsein zu erwachen und, fast einem kleinen Gefangenen gleich, seine ersten Lebens­jahre in düstrer Eintönigkeit zu verbringen. Meist schließt sich an das Pfarrhaus ein größerer Garten; Wald und Flur, Fluß oder Teich pflegen auch nicht weit zu sein, – und was das für eine Kindesseele bedeutet, das weiß nur der recht zu fühlen, der die armen bleichen Stadtkinder, namentlich unsrer Großstädte zu vergleichen Gelegenheit hatte, deren erste Welt, oft auf Jahre hin, ein enger, düstrer Hof ist, und die unter dem Druck der Armut nicht einmal in den flüchtigen Sommertagen ländlicher Freude und Frei­heit teilhaft werden. Ist ferner auch in unsern Pastoraten [55] nur sehr ausnahmsweise ein Überfluß an irdischen Gütern zu finden, so fehlt doch meist auch die niederbeugende Sorge, – und selbst, wo sie sich einstellt, ist sie durch des Glau­bens Demut und Mut gemildert, so daß sie dem Kinde am wenigsten vor die Augen tritt. Nirgends hält irdische Not das erwachende geistige Streben nieder, — wenigstens so lange nicht, als noch des Vaters Augen offen stehen. Freilich bleibt auch dort das Leben von dem, was aller wohl­geordnetes Geschick an Leid und Heimsuchung einschließen soll, so wenig unberührt wie anderswo, – und wer könnte sich’s anders wünschen! – dazu findet fremdes Leid naturgemäß noch viel häufiger, als fremde Freude, seinen Weg zum Pfarrhaus; doch auch das ist Gewinn im Vergleich zu denen, die ihre Kindheitstage verbringen, ohne der großen Welt des Leides, in der wir mitten inne stehen, auch nur nah gekommen zu sein. Nur Eins mag dem Pfarrhause ferner bleiben, als andern, – die unruhige Hast des Erwerbens mit allem Zwiespalt, den sie gebiert, der endlose Streit der Eitelkeit und Hoffart mit all den Verbitterungen, die sie im Schoße tragen. Das Wort Gottes, das täglich von dorther verkündet wird, gießt seinen Friedensodem über das Haus und glättet die Wogen, auch wo sie, wie in jedem Menschenleben, ihr unruhiges Haupt erheben; die Gemeinschaft des Glaubens und des Gebets und die Teilnahme an den schönen Gottesdiensten des Herrn geben selbst den verschiedensten Lebensaltern und Charaktern ein wohlthätig einendes Band. Angehörige, Freunde, liebe Nach­barn pflegen sich gern im Pfarrhause zu sammeln, – für manche der erstern ist es selbst in vielen Fällen die nächste und gern geöffnete Zufluchtsstätte, – so daß selbst die Einsamkeit des Landlebens nicht zur Öde und Eintönigkeit herabzusinken vermag, und das Kind von seinen frühesten Tagen an nicht ohne Anregung bleibt.

[56] Das alles ward auch unserm Großvater Joh. Wilh. Reimer, dem Sohne des Propstes Paul Friedrich Reimer in Durben, in seiner Kindheit reichlich zu teil. Unter den Sonnenblicken der Vater- und Mutterliebe wuchs „Johannchen“ fröhlich empor, ein herziges Kind mit blauen Augen, lockigem Haar, ein Liebling aller. War es ein Erb­teil des Vaters, dessen Angesicht uns noch heute so mild aus dem mehr als hundertjährigen Pastellbilde anschaut, war es eine Mitgift der Mutter, die in hervorragender Weise bis in ihr hohes Alter hinein sich der Menschen Herzen zu gewinnen und zu bewahren verstand, – ein reicher Schatz an Liebe wohnte in diesem Knaben, eine Weichheit des Gemüts, die kein fremdes Leid unbewegt ansehen konnte, – was sich später oft zum eignen Schaden geltend machte, – ein Frohsinn, der auch dem Schwersten gern etwas Versöhnendes abgewann, und nie glücklicher war, als wenn er andere fröhlich machen konnte, ein muntres, aufgewecktes Wesen, – kein Wunder, daß er den Haus­genossen, wie den Fremden, den Alten sowohl, wie den kleinen Geschwistern lieb und wert war. Doch kein Paradies ohne Schlange! – O nein, – das wäre zu hart; eine Schlange war sie nicht, die hagere, verbitterte Tante Bertha. Sagen wir lieber: „Keine Rose ohne Dornen;“ scharf und spitzig wie ein Dorn war sie in der That; bedrohend, ja verletzend stand sie namentlich inmitten der fröhlichen, glücklichen Welt, die sich um sie bewegte. Jemand zu verwunden, schien ihr mehr Freude als Kummer zu bereiten; für Kinderthränen hatte sie vollends weder Gefühl, noch Verständnis, wie Johannchen und sein kleines Schwesterlein Binchen (Abkürzung von Benigna) leider nur zu oft zu erfahren hatten. Die beiden allerjüngsten im Haufe waren glücklicherweise noch so klein, daß sie mit der gefürchteten Tante in keine Berührung kamen. [57] Und was war die Ursache all dieser Bitterkeit und Härte? Rückert singt:

Hoffnung auf Hoffnung geht zu Scheiter,
Doch das Herz hofft immer weiter.
Daß es hoffen und hoffen mag,
Das ist des Herzens Wellenschlag.

Aber nicht jedes Menschenherz erträgt das Scheitern seiner Hoffnungen mit gleichem Mut, nicht jedes weiß die­selben, je mehrere ihrer ohne Rückkehr hinabsanken, nur desto fester an andere, unwandelbare Ziele zu heften, die kein trügerisches Spiel uns rauben kann, — nicht jedes weiß sich in Gottes Rat zu ergeben und seinen Frieden in dem zu finden, was seine Gnade auf Erden uns gab oder ließ, und in dem, was sie uns in jener Welt verheißt. Es giebt ihrer leider nur zu viele, die mit unbeugsamer Zähigkeit an den eigenen Traumgebilden festhalten, Ge­müter, die durch jede Enttäuschung nur desto heftiger sich mit ihrem Geschick verfeinden und die ganze Welt für das, was ihnen versagt blieb, verantwortlich machen, und nament­lich ihrer Umgebung, wie freundlich sie auch sei, oft nur mit unverdientem Hasse lohnen. Selbst eines Kindes fröhliches Lachen, sein Scherz, seine Ausgelassenheit, finden vor­ dem verbitterten Gemüt keine Gnade; im Gegenteil, je fröh­licher, je lauter, je unbefangener diese Stimmen sind, desto schriller, desto widerwärtiger klingen sie in die eigne Traurig­keit, den eignen Haß hinein. Trifft sich’s nun gar noch, daß Hausgenossen oder Nachbarn da sind, welche die wunden Stellen nicht zu schonen verstehen, sondern sie geflissent­lich mit roher Hand berühren, so wird die Verstimmung nicht selten bis zu einem Grade gesteigert, der jeden Verkehr aufhebt oder selbst für die Bestgesinnten in hohem Grade peinlich macht. Und das war hier der Fall. Zwei Onkel, – (in welchem nahen oder fernen Verwandtschafts­grade [58] sie zu ihr oder zum Hause standen, bleibt unentschieden; bekanntlich heißt in der „kleinen Welt“ jeder Herr, der nicht der Vater ist und doch irgendwie dem Hause angehört, ein „Onkel,“ und aus Johannchens Munde berichten wir ja) — hatten ihre Freude daran, Jungfer Bertha, die ihr vierzigstes Lebensjahr glücklich überschritten, in jeder Weise zu necken und sie an Jugendträume und Täuschungen boshaft zu erinnern.

Klein Johannchen nun, das muntere Bürschlein, hatte, wie gesagt, vor allen unter der übeln Laune der bösen Tante zu leiden, vielleicht mit deswegen, weil er aller andern Liebling war. Was er auch that, – alles war ihrer Ungnade gewiß, die sich täglich in Wort oder That bemerk­bar machte; wir sagen nochmals: auch mit der That. Die Tante nämlich, die als tüchtige Wirtin und wackere Gehilfin der Hausfrau ihr Zimmer an dem Küchenende des Hauses gewählt hatte, führte dort ein eisernes Regiment, wozu die Roheit und der diebische Sinn der Dienstboten vielleicht reichlichen Anlaß bieten mochten. Peinlich in ihrer Ordnung, wie in ihren Forderungen, hatte sie täglich zu schelten, und dabei fiel für den „Schweine-Peter,“ dessen Nachlässigkeit nicht selten Einbrüche der zuchtlosen Herde in den Gemüsegarten verschuldete, oder die unverbesserlich faule „Gänse-Grete“ in der That mancher pädagogische Schlag ab. Um in nichts vor den Anforderungen ihrer Zeit zurück­zustehen, war die gute Tante, wie unsere Großmütter und zum Teil unsere Mütter noch, natürlich eine fleißige Lichtzieherin. Darum stand denn auch in ihrer Handkammer stets ein wohlversorgtes Bündel Stäbe, Lichtspieße genannt, nicht bloß, um hervorgelangt zu werden, so oft der schreck­liche Tag des schmelzenden Talges erschien, sondern auch, wie bei den römischen Liktoren, als Insignie der Herrschaft. Flugs war im gegebenen Moment ein Lichtspieß aus dem [59] Bündel heraus, um zu dem strafenden Wort das Aus­rufungszeichen den Missethätern auf den Rücken zu schreiben. – Auch Johannchen hatte damit Bekanntschaft gemacht, oft ohne recht zu wissen, was er verbrochen. Er trug nur die Erinnerung davon, daß die Tante „heute wieder ein­mal sehr böse gewesen.“

Solch eine Scene hatte eben an dem „Tantenende“ gespielt, als Johannchen mit verweinten Augen durch den Saal kam, wo die nichtsnutzigen Onkel plauderten und ihre langen Pfeifen rauchten. So wenig sie sich sonst um den kleinen Jungen kümmerten, so wandten sie ihm doch dies­mal ein huldvoll teilnehmendes Auge zu.

„Tante wieder einmal böse gewesen?“ fragte einer von ihnen.

„Ja.“

„Aber du thust ja auch nichts, um ihre Gunst zu ge­winnen. Wenn du klug wärest, thätest du schön, brächtest ihr ein Ständchen; dann hättest du Nüsse und Honig, wie viel du willst, und Saft und Pfannkuchen.“

„Was ist ein Ständchen?“ fragte das arme Büblein.

„Das heißt, Junge, du mußt der Tante früh mor­gens zum Geburtstag etwas vorspielen, vorsingen. Willst du das?“

„Ja, gern, gern, lieber Onkel, wenn ich nur was wüßte.“

„Da kann Rat werden,“ sprach der Arglistige; „komm nur heute herüber zu uns," – sie wohnten in einem Neben­gebäude („Herberge“) – „ich will dir’s schon anzeigen.“

So ging denn klein Johannchen hinüber und lernte von dem mutwilligen Onkel einige Striche auf der Violine und ein Liedchen, um der Tante Herz zu erfreuen.

Bald erschien auch der erwartete Geburtstag, und früher als sonst war das Bürschlein auf den Beinen. Mit seiner Violine stellt es sich vor die Kammerthür der Tante, fängt [60] auf des Onkels Wink an zu spielen und, ohne zu ahnen, was es bedeute oder welches die Wirkung sein könnte, mit seinem hellen Silberstimmchen zu singen:

Ach! Gretel, ach, Gretel! wie ist die Liebe so süß,
Wie hüpfet das Herze, wie springen die Füß!

Plötzlich fliegt die Thür auf, und die hagere Tante, den gefürchteten Lichtspieß in der Hand, auf den unschuldigen Kleinen zu. Zornige Worte, böse Schläge gab es in Menge, – und weinend schleicht sich Johannchen von dannen. Kein Wort der Teilnahme wird ihm geschenkt, selbst nicht von den häßlichen Onkeln, die ihn doch einzig ins Unglück ge­bracht haben, und jetzt nur im Hintergrunde sich köstlich amüsieren, daß sie der alten Jungfer den Schabernack ge­spielt haben.

Wohl darf ich voraussetzen, daß meine Leser eben so sehr, wie ich, davon überzeugt sind, daß dieser rohe, un­ziemliche Scherz und Johannchens Mißgeschick nicht verdien­ten, dem Lose jahrelanger Vergessenheit entrissen zu werden. Und gewiß wäre dies auch nicht geschehen, wenn nicht gerade aus diesem Scherz, wie eine weiße Wasserlilie aus dem trü­ben, moorigen Grunde, eine edle und noch dazu unvergäng­liche Blüte hervorgewachsen wäre. Wie aus Sauls finste­rem, ungerechtem Zorn die fleckenlose Lilie der Freundschaft Jonathans und Davids entsproß, – so ward auch hier in Anlaß dieses blinden Zornesausbruchs ein Herzensbund der Bruder- und der Schwesterliebe geschlossen, der bis zum späten Grabe nicht erkaltete. Kaum hatte nämlich Johann­chen sich in ein einsames Zimmer zurückgezogen, um seine Thränen auszuweinen, so erschien Binchen, setzte sich teil­nehmend zu ihm und sagte, wie erklärend, wie beschwichti­gend und, trotz seiner fünf Jährchen, doch schon richtig von dem Instinkt des Herzens geleitet: „Die Tante ist so bös, – so bös! Auch die Onkel sind schlecht. Keiner liebt [61] dich. Aber ich werd’ dich immer lieb haben!“ Damit warf sie sich ihm um den Hals, schlang ihre zarten, runden Ärmchen um ihn und küßte ihn heiß, während aus ihrem schönen, blauen Kindesauge die vollen heißen Schwesterthränen auf Johannchens Wangen niederrannen. Dann erzählte sie ihm von einem neu entdeckten Vogelnest, von ihren Puppen und was sie alles gethan oder nicht gethan hätten, und wie es durchaus notwendig sei, ihnen heute ein neues Haus zu geben, mit zwei Zimmern. Johannchen, der sei so klug, der werde es gewiß im Garten bauen; ein Brett habe sie schon, u. s. w. Nach wenig Augen­blicken liefen sie denn auch schon hinaus in den Garten, und unter des neuen Hauses Freuden und Sorgen war das unglückliche Ständchen und aller Herzenskummer bald vergessen.

Man achtet im ganzen wenig darauf, was alles dazu beiträgt, Kinderherzen einander näher zu bringen oder von einander zu entfernen. Oft sind es ganz geringfügige Er­lebnisse in dem täglichen Thun und Treiben der kleinen Welt, die dazu mitwirken. Nichtig in den Augen der Frem­den, werden sie gleichwohl in hohem Grade bedeutungsvoll für die Beteiligten. Ein gemeinsam erduldetes Ungemach, ein Zug der Liebe, der Selbstaufopferung, in welchem sich das innerste Leben und Denken erschließt, reicht hin, um eine für alle Zeiten unvergeßliche Erinnerung zu bilden, und eine aufrichtige und dauernde Freundschaft zu begründen, oder ein schon bestehendes Band geistiger Gemeinschaft zu verstärken. So sollte es auch mit den beiden Geschwistern sein, von denen wir sprechen.

In unsern Landen geschah es und geschieht es auch wohl jetzt nicht selten, daß Kinder der Gemeinde, namentlich in harter Winterszeit, nicht in die ungeheizten Kirchen zur Taufe gebracht werden, wo die Gesundheit derselben [62] zumal bei schwächern Kindern, unvermeidlich mancher Ge­fahr ausgesetzt bliebe, sondern ins Pastorat. So bekommen des Pastors Kindlein denn schon früh eine Taufe zu sehen. Daß sie dabei andachtsvoll zuhören und aufmerken und, was sie sehen und hören, sich nach ihrem Sinne zurecht­legen, ist ebenso natürlich, wie das andere, daß sie, nach­dem die Taufgäste kaum dem Pastorat den Rücken gekehrt haben, ihrerseis Taufe untereinander feiern. Das war denn auch im Pastorate Durben öfter geschehen, und hatte dabei Johannchen mit Würde und Nachdruck Binchens Pup­pen groß und klein getauft. Die junge Mutter war auch stets mit seinen Diensten zufrieden gewesen, und hatte nur ab und zu auszusetzen gefunden, daß er ihre Kinder zu tief ins Wasser getaucht hätte, wodurch sie ihres Angesichtes blühende Farbe verloren und bleichsüchtig geworden, ferner daß er etlichemal sogar ihre Kleider mit ins Wasser getaucht, was doch Vater mit keinem Taufkinde thue. Doch, muß man hinzufügen, hatten sich die lieben Puppen stets wieder erholt, auch war die Freundschaft der Geschwister niemals ernstlich bedroht gewesen. – Nur Eins hatte der Vater bei diesen Spielen untersagt: es durfte weder seine Agende, noch die heil. Schrift dabei benutzt, ebensowenig das Vaterunser oder sonst ein Gotteswort dabei mißbraucht werden; da es aber doch ohne Buch nicht ging, so wurde eine alte lateinische Grammatik zu solchem Gebrauch gestattet. Dadurch entstand eine glücklicherweise unschädliche Ketzerei, nämlich, daß Binchens sämtliche Kinder von Johannchen „auf den Namen der Grammatik,“ aber sonst ganz mit Ton und Würde des Herrn Präpositi zu Durben getauft wurden. Ich kann nicht leugnen, daß es nach meinem Geschmack besser gewesen wäre, diese Art kindlicher Spiele freundlich, aber bestimmt den lieben Kleinen ganz zu untersagen. Doch ich darf als getreuer Berichterstatter [63] auch die mancherlei Schwächen nicht verschweigen, die mei­nen Vorfahren angehaftet haben; jedenfalls muß ich aber die Versicherung geben, daß die erwähnte Nachahmung väterlicher Amtsthätigkeit ohne Arg gestattet und ohne Arg geübt wurde.

Heute war nun ein Tag, der ganz besonders zu einem solchen Fest geeignet schien; denn gestern war bei einer Knechtsfamilie auf dem Pastoratshofe Kindtaufe gewesen; Binchen aber hatte nicht bloß der Taufhandlung wie sonst zugesehen, sondern auch alle Zubereitungen zum Taufschmaus, das Kuchen- und Brotbacken u. s. w. mit der ganzen Neugier einer zukünftigen Hausfrau verfolgt. Heute waren zufällig Vater und Mutter gegen Abend ausgefahren und auch die böse Tante zu den Nachbarn gegangen, glücklicherweise nicht ohne Binchen durch die übliche Sonntagsgabe an Zwieback, Syrup und Rosinen erfreut zu haben, welche zur Anfertigung der Puppenmahlzeiten unerläßlich waren. So waren denn auch alle Kuchen gebacken, die Tische gedeckt, die Kinder zur Taufe angezogen. Johannchen, voll Würde in Mutters schwarzer Schürze und einem improvisierten Bäffchen, stand zur Handlung bereit, – als Binchen traurig bemerkte: „Aber wir haben keine Paten; ohne Paten kann man nicht taufen.“

Und hier war wirklich guter Rat teuer; wohl gab’s zwei kleinere Schwestern in der nahen Kinderstube, auch hätte die eine zur Not wohl stehen können, wenn es überhaupt nur möglich gewesen wäre, sie zum Stillstehen zu bewegen. Leider war dafür wenig Aussicht vorhanden. „Sie ist so dumm!“ sagte Binchen verdrießlich und gab diesen Plan als unausführbar auf. Von dem andern Schwesterchen, das noch in der Wiege lag, konnte vollends nicht die Rede sein.

Da wirft Binchen zufällig ihre Augen auf zwei schwarze, [64] hölzerne Engel, die seit undenklichen Jahren als Zierat oben auf dem alten, großen Schrank im Eßzimmer thronten.

„Ach, wenn man die Engel herunterkriegen könnte! Die könnten schön Pate stehen!“ seufzt die Kleine und sieht dabei Johannchen so bittend an.

„Die hol ich herunter:“ erwidert er. Wo es zu klettern gab, war der kleine Bursch mit Freuden zur Hand. So wird denn nicht ohne Mühe und Qual von den beiden Gnomen ein Tisch endlich an den Schrank hingezerrt; Johannchen steigt flugs auf denselben und ist im Nu oben auf dem staubigen Schrank. Nicht allzu fest saßen die guten Engel; mit einigem Zerren und Rücken sind sie richtig mobil gemacht und bald glücklich am Boden.

„Pfui! wie sie schwarz und schmutzig sind!“ ruft Bin­chen enttäuscht; „meine Kinder werden erschrecken.“ Und in der That waren sie nicht bloß häßlich schwarz, sondern als beliebter Sommersitz der Pastoratsfliegen auch gründlich schmutzig.

„Wenn man sie abwaschen könnte!“ bemerkt der weise Bruder.

„Ja, das ist wahr! Ich weiß, wo Vaters Rasierseife ist; wir wollen die Seife und den Pinsel nehmen und einen großen, großen Schaum machen, … so groß! Dann werden sie gewiß ganz weiß.“ Damit war Binchen wie ein Vögelchen aus dem Zimmer geflogen und alsbald mit der genannten Seife zurück.

Jetzt begann die Wäsche mit allem Eifer. Sie ließen sich auch den Schaum und das Scheuern gefallen, die lieben Engel; aber Art läßt nicht von Art. Zur Not wurden Nase und Wangen, Ellbogen und Kniee etwas bläulich oder bräunlich, im übrigen blieben sie schwarz. Doch wurden sie endlich tauglich befunden und hingestellt. Sie standen nicht schlechter als so manche andere Paten in der Christenheit. [65] Die Taufe ging in gewohnter Würde, ganz im Ton des Herrn Präpositus vor sich. Binchen küßte ihre Kinder zärt­lich, freute sich, daß sie neue Namen hatten, und legte sie, wohl eingehüllt, sacht und mütterlich schlafen. Darauf ging es an den Taufschmaus, von dem auch die alte Wärterin und die beiden jüngsten Schwesterlein in dem Kinderzimmer etwas abbekamen, und der gleichfalls zu allgemeiner Zufrieden­heit ausfiel. Der Tag neigte sich zu Ende, und als die Sonne unterging, lagen Johannchen und Binchen nach vollbrachtem Tagewerk so süß und lieblich in ihren Bettchen, wie je zwei Kinder nach einem schönen Sonntag schlafen können.

Gegen Morgen war Binchen im süßesten Träumen; alle ihre Puppen waren Feenköniginnen oder Prinzessinnen und stolzierten mit den prächtigsten Kleidern und strahlenden Kronen umher; es war eine Wonne sie anzusehen, – da ruft plötzlich eine tiefe Baßstimme dazwischen: „Binchen!“ – War das Traum oder Wirklichkeit? – Noch einmal klingt’s im Traum: „Binchen! Binchen! wo hast du meine Seife gelassen?“ Die Kleine erwacht und sieht mit den noch halb schlaftrunkenen Augen des Vaters sonst so mildes, jetzt aber doch merklich ernsteres Gesicht über sich. Er hat seine Seife vermißt und von dem Kindermädchen die Aus­kunft erhalten, Binchen habe sie wohl gestern gehabt. Zuerst wußte natürlich die kleine Missethäterin nichts von Himmel und Erde und darum auch nichts von des Vaters Seife; aber endlich fing es in ihr an zu dämmern: „Ach ja, lieber Vater, wir haben gestern die Engel gewaschen; sie muß wohl im Eßzimmer sein.“ Ein paar freundschaft­liche, übrigens wohlverdiente Klapse wurden Binchen, als heilsame Warnung für die Zukunft, zu teil; dann ward die Seife glücklich gefunden. Die Mutter fügte noch von sich aus ein kleines Strafsitzen hinzu, mit „dreimal rund stricken, ohne Maschen fallen zu lassen,“ Johannchen aber [66] mußte das ganze a, b = ab bis na, ne, ni, u. s. w. wiederholen und eine halbe Stunde im Winkel stehen, die ihm wie eine schreckliche Ewigkeit vorkam. Die gemeinsam erduldeten Leiden knüpften die Bande geschwisterlicher Liebe, welche Johannchen und Binchen vereinten, nur noch fester.

Und noch einmal sollte dies geschehen, freilich durch ein Ereignis viel ernsterer Art.

Es waren ein paar Jahre verflossen, da gingen eines Tages die beiden Geschwister, – die unzertrennlichen hätte man sie nennen können, – in dem großen Pastoratsgarten spazieren; es war September und der große alte reich­beladene Birnbaum gerade in seiner schönsten Pracht.

„Sieh, Johannchen, die herrlichen Birnen dort ganz an der Spitze, so gelb!“ rief Binchen. „Wenn du die herunterholen könntest!“

„Wie nichts!“ antwortete der feurige Knabe. In dem­selben Augenblick macht er sich schon ans Klettern. Schnell genug war er oben; aber leider hatte es vor wenigen Stunden geregnet. Die Äste waren noch naß, und während er sich streckt, um die ersehnten Birnen zu brechen, gleitet sein Fuß von dem stützenden Ast. Er stürzt aus der nicht unbedeutenden Höhe herab und zwar so unglücklich, daß er nicht einmal im Fallen einen Ast ergreifen kann, sondern mit seiner ganzen Schwere zu Boden fällt. Er hat sich sehr weh gethan; kaum ist die erste Betäubung vorüber, so stellt sich heraus, daß der Arm gebrochen ist. Man denke sich Binchens Schreck und Herzeleid. Mit lautem Aufschrei läuft sie unter strömenden Thränen von dem am Boden liegenden Bruder nach den Eltern. Man kommt zu Hilfe, man bringt ihn ins Haus. Der Arzt wird geholt, ein Verband angelegt; aber lange, schmerzerfüllte Wochen folgen dem Unfall. Binchen weicht nicht von dem kranken Bruder; klingt es ihr doch in den Ohren: „Dir zu liebe [67] erstieg er den unheilvollen Baum! Um deinetwillen hat er diese Schmerzen auszustehen, wenn er nicht gar ein Krüppel wird für sein ganzes Leben.“ Mit welchen Gebeten, mit welchen Thränen schrie sie zu Gott, daß er ihrem armen Bruder helfe, daß er ihn gesund werden lasse! Was sie nur ersinnen konnte, das bot sie auf, um ihm die langsam hinschleichenden Tage und Stunden zu kürzen, und sein Herz zu erfreuen. Es war ihr, als hätte sie ihr Leben lang eine Schuld an ihn abzutragen.

Gott hatte ihr Gebet erhört; als die langen Warte­tage vorüber waren und der Verband abgenommen werden konnte, erwies sich der Arm als glücklich geheilt. Auch später bereitete er, abgesehen von einigen Schmerzen zur Zeit des Witterungswechsels, keine weitere Beschwer.

Die treue Geschwisterliebe aber, die in jenen Schmerzens­tagen neue und tiefere Wurzeln getrieben hatte, bewahrte ihre Innigkeit und Stärke ungeschwächt bis zu jenen fernen Tagen, wo der Tod Johannchens und Binchens müde Augen schloß.