Aus alten Zeiten/Was der Großvater von seinem Vater hörte

Wie der Großvater zum Fasten kam und die Großmutter schatzgraben ging Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
Johannchen und Binchen
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2. Was der Großvater von seinem Vater hörte.




Doch jetzt ist es Zeit, daß ich auch den Familien­erinnerungen von mütterlicher Seite her einen Platz gönne, und das um so mehr, als sie, wie schon die Über­schrift sagt, noch etwas weiter hinaufreichen, als die der Groß­eltern von väterlicher Seite. Somit lade ich die geehrten Leser ein, wieder in mein Vaterhaus zurückzukehren, wo sie letzthin die Bekanntschaft der etwas wunderlichen Mutter meines Vaters und ihrer Schatzgräberei gemacht haben.

Trübselig brannten die paar Talglichte auf dem langen Abendtisch des alten Pastorates. Es war eben Stille ein­getreten. Man hörte nur das Geräusch der Gabeln und Messer, ein unfehlbares Zeichen, daß das Gericht uns Kin­dern besonders mundgerecht war. Hätte doch sonst die zahl­reiche Schar der eignen Knaben und Mädchen wie der fremden Pensionäre schwerlich ihr halblautes Geschwätz auf­gegeben, das gewöhnlich neben der lauten Unterhaltung der Erwachsenen wie ein murmelnder Bach dahinlief. Mit wohlgefälligem Lächeln ruhte das Auge des Vaters auf den Burschen groß und klein und auf den Mägdlein mit ihren runden Bausbacken. Er hatte jedesmal seine Freude dran, wenn die Jungen einen tapfern Appetit an den Tag legten; war er doch der Meinung, daß sich dann auch desto frischerer Mut und entsprechende Kraft beim Lernen zeigen müsse, — man wenigstens ein tüchtiges Arbeiten fordern könne. [36] Nicht weniger freundlich sah die Mutter drein, wenn eins nach dem andern, zumal von den Kleinsten, herankam, um sich noch etwas zu holen. Auch die Großmutter, die sonst in ihrer Kritik nicht zurückhaltend war, und an den Buben und Mädchen bald dies bald jenes zu tadeln fand, war heute besonders wohlwollend gestimmt, weil die Mischung der verschiedenen Wollen, die sie am Nachmittag zu ihrem Gespinst vorbereitet hatte, in der „Couleur“ ganz besonders glücklich geraten war. Was aber die alte Großtante und die beiden Tanten am andern Ende des Tisches anlangt, so pflegten sie nie den Mittags- oder Abendtisch zum Schau­platz einer lautern Unterhaltung zu machen; dazu waren ihnen ihre Stüblein am Ende des Hauses viel zu traulich und zu lieb. Während man in dem großen Saal noch beim Essen war, ging der Großvater[1] in dem dunkeln Nebenzimmer auf und ab. Er pflegte nicht zu Abend zu speisen; dagegen war ihm Bewegung Bedürfnis, und weil er, durch seine Blindheit gehindert, sie im Winter sich nicht im Freien machen konnte, ging er seine bestimmte Zahl Schritte im Zimmer.

Und Winter war es; wenn man es an nichts anderem gemerkt hätte, — an den stockfinstern, mit dickem Eise befrornen Fenstern hätte man’s gesehen und an dem pfeifenden Winde es gehört, der sie unter seinen heftigen Stößen erklirren machte und die Zweige des alten Birnbaums un­heimlich gegen die Scheiben schlug.

Rrrrrr! rollt es plötzlich, von verdächtigem Quieken begleitet, die ganze Saaldecke entlang, während sich die gekalkte Leinwand, aus welcher sie bestand, in langen Wogen [37] über dem Abendtisch bewegte. Der Erbauer des alten Hauses hatte nämlich das unschöne Gebälk in dieser seltsamen Weise verdecken wollen, sei es, daß er der Kunst seiner ländlichen Arbeiter zur Anlage einer Gipsdecke nicht vertraute, sei es, daß es ihm selbst an dem geeigneten Material gebrach. Er hatte aber nicht daran gedacht, daß die Spannung der einst straff angezogenen Leinwand im Laufe der Zeit nachlassen würde, und noch weniger war es ihm eingefallen, daß das freche Geschlecht der Ratten sich diese Stätte zum Tummel­platz seiner unersättlichen Leidenschaften erwählen könnte. Leider war beides geschehen. Die bauchigen Säcke über dem langen Abendtisch bewegten sich gefährlich. Jeden Augen­blick schien es, als sollten die frechen Räuber, vom Braten­geruch gelockt, durchbrechen und auf die Schüsseln und Teller herabstürzen. Aber dieser Tumult war etwas so Alltäg­liches, daß niemand darüber erschrak, zumal die Leinwand noch hielt. Nur ein lautes Lachen der Kinder war die Antwort, welche der Wettlauf der Ratten fand. „Kommt! kommt!“ riefen einige dazwischen, „und holt euch etwas, wenn ihr Lust habt!“ — „Wir spießen euch gleich auf die Gabel,“ riefen andere und damit streckten sie das Werkzeug in die Höhe. Die Ratten aber überzeugten sich, daß das Unternehmen für heute aufgeschoben werden müsse; war doch der Menschheit zu viel, die an der Tafel saß. Bald auch war diese zu Ende. Das Gebet ward gesprochen, darauf ein nur allzu geräuschvolles Rücken der Stühle und vieler Knabenfüße und ein Auseinanderlaufen und Springen der kleinen Horde. Zwei oder drei aus derselben aber stürzten sich durch die offene Flügelthür in das anstoßende Zimmer zu dem Großvater.

„Aber heute wieder Geschichten erzählen,“ baten sie schmeichelnd. „Gern, liebe Kinder. Ich geh mein letztes Hundert, [38] und dann bin ich zu euern Diensten. Aber was soll’s denn heute für eine Geschichte sein?“

„Von Lips Tullian und von Cartouche,“ rief einer der Knaben. „Nein, der Schinderhannes, der war viel schöner,“ schrie ein andrer. „Nein, von Murr und Tetter; die waren doch von hier; die Geschichte war so schön, wie sie in Goldingen eingebrochen und die Ballen Seidenzeug gestohlen hatten, und hernach in Hasenpoth gehängt wurden, und wie der Tetter nicht einmal ein Paar ehrliche Hosen hatte, um mit Anstand zu baumeln. Großvater, ist es wirklich wahr, daß er nicht einmal ein Paar Hosen hatte?“ —

„Ja, mein Kind; es mußte sie ihm einer aus Mitleid leihen. Ungerecht Gut gedeiht nicht.“

„Ach, die Geschichten haben wir alle schon gehört. Was Neues, Großvaterchen!“

„Eine Wolfsgeschichte,“ schmeichelte die kleine Minna. „Ich lieb Wolfsgeschichten, und wenn ich nur zwischen Georg und Großvaterchen sitzen kann, so hab ich gar keine Angst.“

„Dummes Kind,“ erwiderte Georg, „wer hat sich denn hier zu fürchten! Ich hab selbst einen Wolf gesehen. Wir liefen ihm mit Stöcken nach; aber er war uns zu schnell. Auch haben wir im Walde die gefallene Kuh auf­gesucht, welche die Wölfe zerrissen und verschleppt hatten. Sie sah gräßlich aus. — Aber wenn Großvaterchen von der Pestzeit erzählen wollte, das wär’ schön! Und du hast es uns doch in der vorigen Woche versprochen.“

„Das ist was anderes. Was man versprochen hat, muß man halten. Also von der Pestzeit hab ich heute zu erzählen, und eine Wolfsgeschichte für klein Minnachen soll auch dabei sein.“

Damit lenkte der Großvater seine Schritte dem magern, dünnfüßigen Sofa zu, das am Ende des Saales stand, indem er den Kindern zurief: „jetzt aber setzt euch und seid [39] hübsch ruhig! — Und wenn die verehrten Damen,“ sagte er mit einer Verbeugung nach der Seite, wo sie gewöhn­lich saßen, „uns Gesellschaft leisten wollen, so werden wir uns sehr geschmeichelt fühlen.“ Mutter und Großtante und Tante Lotte nahmen denn auch Platz, jede mit einem Strickstrumpf in der Hand. Minna hatte sich natürlich rasch das sichere Plätzchen zwischen der Mutter einerseits und Großvaterchen von der andern Seite erkämpft und konnte jetzt die gräßlichste Geschichte anhören. Kein Wolf konnte zu ihr gelangen und kein Räuber, so gern er auch wollte.

„So, nun. wäret ihr alle also sicher. Du aber, lieber Georg, stell mir das Licht noch hier auf den Tisch, mir grad gegenüber; ich seh es ja freilich nicht; aber es giebt mir doch einen hellern Schimmer. Es erinnert mich an Morgengrauen, — und Gott wird’s ja auch wieder ein­mal für mich Morgen werden lassen nach meiner langen Nacht. Es kommt mir auch vor, wenn das Licht dasteht, und ich euch nah habe, als könnte ich eure lieben Gesichter sehen, — obgleich ich sie leider nicht sehe, — aber ich denke sie mir doch leichter, zumal wenn ich eure Stimmen höre.

„Du Georg fragtest mich einmal, wann und wie wir ins Land gekommen seien. Darüber will ich dir heute Be­scheid geben. Es ist da ein kleines preußisches Städtchen Mohrungen; wenn du von Königsberg etwa vierzehn Meilen nach Südwest fährst, kommst du dahin. Aus diesem Städt­chen machte sich vor vielen Jahren mein Großvater auf ­den Weg nach Norden.

Es war derselbe Weg, den ein Jahrhundert später ein viel größerer Sohn dieser Stadt, der berühmte Herder, einschlug. Dieser kam erst nach Riga und wurde schließlich Generalsuperintendent in Weimar. Dazu hat er, wie du weißt, nicht bloß den herrlichen Cid und viele andere schöne Sachen gedichtet, sondern auch viele gelehrte Werke geschrieben, und verdient vollauf den Ehren­platz, [40] den man ihm unter den großen Geistern unseres Jahrhunderts anweist. — Was meinen Großvater bewog, die Heimat zu verlassen, ob er als Hauslehrer, oder wie man in jener Zeit sagte, als „Informator“ oder „Hof­meister“ mit irgend einer adeligen Familie, wie damals so viele, ins Land kam, oder ob er schon Verwandte hier hatte, die ihn herüber riefen, darüber vermag ich euch, liebe Kinder, nichts zu sagen. Möglich daß das letztere der Fall war; denn ein Träger unseres Namens war Pastor in Sallgaln von 1622 — 65, ein andrer Pastor in Durben von 1648—1703, an demselben Ort, wo später auch mein Vater als Pastor und Propst lebte, und wo ich meine schön­sten Kindheitsjahre verbracht habe. Gleichviel, was es war, das meines Großvaters Schritte hieher lenkte, wo er aus des gnädigen Gottes Hand Brot und Dach und Herd em­pfangen sollte, — gar trostvoll sah es in der Heimat, die er verließ, nicht aus. Viel Kriege waren schon früher dort geführt worden, und der schreckliche dreißigjährige Krieg, der erst vor ein paar Jahrzehnten beendet war, hatte dort, wie überall im lieben deutschen Land, traurige Spuren der Verwüstung und Verarmung zurückgelassen. Aber auch hier, in unserm „Gottesländchen“ Kurland, war's damals wenig besser.

Das Volk war arm und unwissend, die Herren oft eigenmächtig und gewaltthätig und des Herzogs Macht gering. Doch wäre es Thorheit, das Elend des Lettenvolks nur den deutschen Herren zur Last zu legen. Es hat freilich unwissende Menschen gegeben, welche die Sache so angesehen, und die armen Letten wegen dieser Unterjochung durch die Deutschen bemitleidet haben.

Als ob sie’s besser gehabt hätten, ehe die Deutschen, vor jetzt 600 Jahren, ins Land kamen, als ob die Ehsten oder Littauer, wenn sie ins Land brachen, sie sanfter behandelt und ihnen Besseres gebracht hätten, wenn sie im Lande geblieben wären!

Waren doch [41] die Letten zwischen ihren Feinden nach Norden und Süden öfter in solcher Klemme, daß sie die Hilfe der Deutschen suchten und Bündnisse mit ihnen schlossen, um sich jener zu erwehren. So ging es denn, wie es jedem geht, der sich selbst nicht helfen kann. So lange die Welt steht, hat das klügere und stärkere Volk das schwächere unterworfen. Haben’s die Römer nicht mit den Galliern gethan und mit den Deutschen, soweit sie’s vermochten? Daß es dabei nicht gar sanft hergegangen sein mag, versteht sich von selbst. Wo war es denn anders? Du wirst es uns sagen, lieber Georg, wie das Volk hieß, mit welchem z. B. Karl der Große so harte und blutige Kriege führte, bis er es endlich niederwarf?“

„Die Sachsen.“

„Ganz richtig, mein Sohn. Und so mag’s hier auch hergegangen sein. Dazu kommt noch, daß die Schwert­brüder und die deutschen Ritter, die das Land eroberten, mit ihrer Sippe und ihrer Gefolgschaft es hier, wie in Preußen, besonders schwer hatten. Stand’ doch da Einer oft gegen Hunderte. Wie mancher brave Mann hat da in ungleichem Kampfe sein Leben lassen müssen. Es war auch bei vielen nicht Eroberungssucht, was sie hieher brachte, sondern der fromme Glaube, ein gutes Werk zu thun, wenn sie die blinden Heiden zur Lehre Christi bekehrten, selbst mit Zwang. Und gewiß war es ein Gewinn, ein großer Gewinn, wenn diese armen Wilden bessern Ackerbau, geordnete Arbeit, mildere Sitten und eine reinere Gotteserkennt­nis lernten. Jetzt hörten sie doch, soviel Irrtümer auch die Mönche selbst noch mitbrachten, von einem Vater im Himmel, während sie sich früher nur vor dem Donner ver­krochen und ihm ihre Opfer brachten; denn Perkun, so hieß ihr Gott, wie noch heute der Donner heißt.

„Aber wie viel Mühe mag es gekostet haben, bis man [42] die Wälder lichtete, Sümpfe entwässerte, zu ordentlichen Wegen, Häusern, zu Kirchen und Klöstern kam! Daß das ohne Zwang nicht ging, könnt ihr euch wohl denken. So wenig sich die Rothäute ohne Zwang zu ordentlicher Arbeit bequemen, oder so wenig ihr eure Grammatik oder auch nur das Lesen gelernt hättet, wenn man euch nicht dazu angehalten hätte, so wenig wären die armen Leutchen hier zu etwas Rechtem gekommen, wenn nicht die harten Deut­schen zu beiderseitigem Nutzen sie dazu gezwungen hätten. Da der Zwang nicht mehr nötig war, hat man ihn ja auch, wie ihr wißt, gemildert. Darum sollte man der Vorsehung danken, daß sie unsre Väter hieher geführt hat, und nicht, wie einige Narren thun, nur von der Härte und Unbill reden, die das gedrückte Volk erduldet haben soll.

„Das Beste aber, was unsere Väter diesem Volke brach­ten, war das Evangelium, nachdem einmal der brave Luther das Licht unter dem Scheffel hervorgezogen, den der Papst darüber gestülpt hatte. Freilich ging’s auch damit nur lang­sam. Wären nicht Männer dagewesen, wie der fromme Herzog Gotthard Kettler, der die erste Kirchenvisitation an­ordnete, und in seiner Kirchenordnung die Gründung von 57 Kirchen, Pastoraten und sogar Schulen befahl; hätten ihm nicht Männer, wie die Superintendenten Stephan Bülau, Alexander Einhorn und unser unvergeßlicher Salomo von Hennig, der Stifter auch unsres Gotteshauses, zur Seite gestanden, den ihr auf dem großen Bilde links in unsrer Kirche mit den Seinen unter dem Kreuze knieen seht, — so wäre man den Papst nur losgeworden, um das Volk über kurz oder lang in noch größere Unwissenheit zurücksinken zu sehen. So lange nämlich der Papst noch Macht hatte, wurden Ritter und Landsaßen gezwungen, manches für die Kirche zu thun. Jetzt, wo es mit ihm zu Ende war, wollten viele nichts mehr darbringen, ja sie [43] suchten sich sogar mit dem zu bereichern, was sie der Kirche geraubt hatten. Es muß arg gewesen sein, wenn solche Männer wie Bülau, nachdem sie sechs Jahre sich gemüht und oft vergeblich gemüht, nach Deutschland zurückkehrten; wenn selbst ein Mann von so viel Weisheit, Frömmigkeit und Kraft wie Salomo Hennig müde ward, den wider­willigen Junkern das der Kirche Gebührende abzuringen. Auch das Volk war so stumpf, so hartnäckig, so wenig geneigt, etwas zu lernen, oder die Kinder lernen zu lassen, daß die armen Prediger ihre bittre Not hatten und sie kaum von dem Rückfall in das bequemere katholische Zeremonienwerk oder selbst in ihr altes Heidentum bewahren konnten. Werdet ihr es glauben, liebe Kinder, daß noch im Jahre 1631 aus Rutzau, wo später auch mein Vater Pastor war, ganz nah an der preußischen Grenze, berichtet wird, daß die Bauern fast heidnisch leben, ihre Kinder in Littauen katholisch taufen lassen, daß zum Abendmahl fast keiner komme, daß man sogar öfter die Rute zu hilfe genommen, um sie zum Kirchenbesuch zu bringen. Mögen schöne Christen gewesen sein! Da wurde denn angeordnet, daß niemand getraut oder als Pate angenommen werden sollte, der nicht beten könne. Ihren alten Aberglauben trieben sie heimlich weiter; ihre Toten scharrten sie, wohl auch mit heidnischen Gebräuchen, in den Wäldern ein. Gegen diese „Buschbegräbnisse“ hatten die Prediger fort und fort zu eifern. In Heiligen-Aa, in derselben Rutzauschen Gegend, bitten die Deutschen den unglücklichen Pastor doch ja nichts von den Bauern an Kenntnissen zu verlangen. ,Sollten sie etwas lernen, so liefen sie fort,’ heißt es, ,und wir verlieren so unser Gesinde!’ An einem andern Ort wurden in der Kirche die Namen aller Bauerhöfe nach dem Gottes­dienst durch den Küster verlesen, um nachzusehen, ob wenigstens Zwei aus jedem Hof zur Kirche gekommen seien. Ja [44] wenn noch alle Fürsten des Sinnes gewesen wären, wie der Markgraf Albrecht der Ältere von Brandenburg, dem der Deutsche Orden die Vogtei Grobin für 50 000 Gulden verpfändet hatte, und der (12. Juli 1560) vorschreibt: ,er wolle als Fürst nicht den Namen haben, daß er die Wolle von den Schafen genösse und sie nicht dagegen die ge­bührende Weide haben sollten. Darum sollten die Schulen mit tüchtigen Personen besetzt werden. Imgleichen sollten die Pfarrherren die Teutschen und Curen mit Fleiß vermahnen, daß sie ihre Kinder fleißig zur Schule halten, da sie nicht allein lesen und schreiben lernen sollten, sondern auch die Curen Teutsch, und beyde, Curen und Teutsche, Lateinisch lernen, damit sie mit der Zeit Gott und Menschen auch nutz sein können. Und soll den Unteutschen sonderlich vermeldet werden, wenn sie ihre Kinder würden zur Schule halten, so wolle Ihro Fürstl. Durchlaucht selbe, so studieren und dabei verharren, aller Dienstbarkeit und Leibeigenschaft ledig lassen, ihnen auch mit gnädiger Vorsehung helfen, daß sie zum Studieren Lust haben und tüchtig seien, ihrem fürgenommenen Studio redlich nachzusitzen.’ Aber solcher Fürsten, die so dachten, gab’s wenige, und wenn sie auch das Gute gewollt hätten, so hatten sie zu wenig Macht, es durchzusetzen. Jeder war gern Herzog auf seinem eignen Hof, wie denn auch jener Jud, als er hörte, daß ein reicher Baron seinen Sohn die Rechte wollte studieren lassen, treffend genug bemerkte: ,Ei, was heißt Rechte? Wozu soll er doch studieren Rechte? Lassen Sie ihn doch lieber studieren G’walt!’ — Darum werdet ihr euch nicht wundern, daß euer Vorfahr in Durben gar trübselig zur Nachricht für seine Nachfolger berichtet: ,es seien im Pastorate kleine, wenige und doch nicht ganze Fenster gewesen, und die noch waren, über die Hälfte mit Ziegeln verschlagen. Er habe wenig Brot gehabt, weil er [45] von den Kirchspielsjunkern zwei Jahre lang das Seine nicht habe erhalten können. Er habe sich gar kümmerlich be­helfen müssen, daß wenn ihm der liebe Gott nicht ander­weit Mittel gegeben, er’s nicht hätte aushalten können. Die Pferde hätte er im Vorhause (Flur) halten müssen und den Viehstall ans Vorhaus anbauen; doch seien ihm vor Kälte etliche Stücke Vieh’s umgekommen.‘ — Und wie er, so hatten viele zu klagen. Dazu kamen die Kriegsleiden, wo hoch und gering beraubt und bedrückt wurden, wie z. B. der Pastor zu Schlock und mancher andere schreibt, daß ihm die Schweden alles Heu weggenommen hätten. Womit sollte da der arme Mann sein Vieh ernähren?

„Aber wo bleibt die Pest? fragt ihr mich, liebe Kin­der. Wartet nur; sie kommt, sie kommt nur zu schnell. Wo der Ackerbau noch so zurück war, wo der Bauer teils aus Dummheit oder Trägheit, teils aus Armut sein Feld nicht rechtzeitig bestellte, oder durch den Dienst bei seinem Herrn, die Frohne, an der eignen Arbeit gehindert ward, — wo endlich Krieg und Verwüstung alles vernichtete, — da, liebe Kinder, gab’s alle Augenblick eine Hungersnot, und mit der Not und mit dem Elend zogen die Seuchen, zog auch die Pest ins Haus. Was ich an Not in meinen Jugendjahren mit eignen Augen gesehen habe, das erfüllt noch jetzt mein Herz mit Traurigkeit. Freilich solche ent­setzliche Hungersnot, wie jene vom Jahre 1602, habe ich nicht erlebt. Da geschah es, daß Menschen heimlich um des Hungers willen geschlachtet und eingesalzen wurden, wie z. B. von jenem Krüger im Oberlande berichtet wird, der vier Menschen, darunter, wie sich die Chronik ausdrückt, „auch einen feinen teutschen Hofmeister“ geschlachtet und verzehrt habe. Die strengsten Strafen waren auf solche Missethat gesetzt; entdeckte man die Schuldigen, so wurden sie gerädert oder verbrannt, und doch fanden sich immer [46] aufs neue Menschen, die sich nicht abschrecken ließen, solche Verbrechen zu begehen! Ja, es wurden die Leichen aus den Gräbern hervorgezogen und verzehrt. Wenn nun auch solche schreckliche Zeiten nur selten vorgekommen sein wer­den, so gab’s doch Notjahre, wo ganze Landstriche ohne Brot waren. Da mußte des Gutsherrn Kornkammer herhalten­, um die armen Bauern nur vor dem Verhungern zu retten, vorausgesetzt, daß er selbst noch etwas hatte. Auch lesen wir in der That, daß mancher weise und barmherzige Haushalter in solcher Zeit nicht bloß seine eignen Bauern, sondern auch die ganze Umgegend ernährt und am Leben erhalten hat. Aber öfter war auch er von dem allgemeinen Mißgeschick betroffen oder durch Feuersbrunst, Plünderung oder unmenschliche Kontributionen um das Seine gekommen; dann war der Pest der Weg gebahnt. Kranke, vernachlässigte, verhungerte Soldaten, die auf dem Feldzuge zurückgelassen wurden, brachten die Ansteckung in die Häuser, und so ging die Seuche von Ort zu Ort.

„So war es nun auch in jenem unglücklichen Jahre 1710, wo eben der Krieg zwischen Schweden, Rußland und Polen wütete, in jener schrecklichen Zeit, die sich unter dem Namen der Pestzeit der Erinnerung unseres Volkes eingeprägt hat. Noch jetzt werdet ihr unter den alten Leuten welche finden, die euch von ihr nach den Erzählungen ihrer Großeltern zu berichten wissen. Auch mein Vater gehörte zu diesen, und was ich von ihm und andern gehört habe, davon will ich euch jetzt berichten.

„Erst aber seht euch das Bild hier über dem Sofa an, den Mann mit den feinen, milden Zügen, mit der schneeweißen Lockenperücke und mit dem weißen Bäffchen auf seinem Predigerrock, — es ist das Bild eures Ältervaters (Urgroßvaters). So sah er aus in späterer Zeit, da er Propst in Durben war, wo ich meine glücklichsten Kindheitsjahre [47] verbracht habe, und so steht er, obgleich ich ihn früh verlor, noch jetzt vor meiner Seele. Der Mann, der euch von dort so mild und würdig anblickt, war, als jene Heim­suchungszeit hereinbrach, ein armer, vaterloser Knabe von neun bis zehn Jahren. Ob der Vater auch an der Pest oder schon früher gestorben war, hat er mir nicht berichtet. Er entsann sich nur, daß die Mutter, da es keine Dienst­boten mehr gab, selbst in den Stall gegangen sei, um für das Pferd zu sorgen, daß endlich auch sein Hofmeister er­krankt, daß es schlimmer und schlimmer mit ihm geworden sei, und er sich auf den Heimgang gerüstet habe. Der Ster­bende habe gebetet und das heilige Abendmahl empfangen; dabei sei der Kelch von seinem Atem ganz schwarz geworden. Das war natürlich ein Irrtum, wie er bei einem in hohem Grade aufgeregten Knaben wohl vorkommen kann; denn das Silber des Kelchs konnte von dem Atem nicht schwarz werden; möglich aber, daß es von früher her durch Feuchtig­keit oder andere Einflüsse fleckig geworden war. – Der Hofmeister, erzählte er ferner, habe ihn ans Bett gerufen, ihm die biblische Geschichte und die lateinische Grammatik in die Hand gegeben und zu ihm gesagt: ,Halt sie hoch in Ehren und lern fleißig daraus; denn ich werde dich nicht mehr unterweisen. Wandle vor Gott und sei fromm, so wird es dir wohlgehen. Wenn ich gestorben bin, so geh zum alten Jakob dort in dem nächsten Gesinde (Bauerhof), und bitt ihn, daß er komme und mich begrabe; er wird es thun; er ist ein frommer, treuer und furchtloser Mann.’

„Und so sei es auch geschehen. Bald habe der Hof­meister seine Augen geschlossen; der alte Jakob sei auf des Knaben Meldung gekommen, habe einen Sarg mitgebracht; hernach habe er mit großer Mühe den Gestorbenen in den Sarg gelegt, den sie dann beide ganz allein auf den Gottes­acker begleitet hätten. Dort habe der alte Jakob den Sarg [48] in die Gruft versenkt. – Nicht jedem aber ward es so gut in jener Zeit. Viele starben, von den Ihrigen ver­lassen, einsam, ohne Handreichung, ohne Pflege, ohne Trost. An ärztliche Hilfe, wenn es solche überhaupt gab, war für Tausende nicht zu denken. Erschütternd sind die Schilderungen dieses einsamen Leidens und Sterbens, nachdem alle geflohen oder weggestorben waren. In unserm alten lettischen Ge­sangbuch findet ihr Lieder, die dies herzergreifend beschreiben. Aber mitten durch die Klage, mitten aus Angst und Not und Todeseinsamkeit bricht sich auch die Zuversicht des Glaubens Bahn: ,Doch du, Herr, bist bei mir; dein Stab und Stecken trösten mich!’ – Das ist ja auch der Segen solcher ernsten Heimsuchungszeit, daß die Menschen lernen in sich gehen und den Herrn, ihren Gott, suchen. – Ihr müßt nicht glauben, daß es nur einzelne Ortschaften waren, die von der Seuche getroffen wurden. In Grobin z. B., das Durben benachbart ist, war es ebenso. Dort war am 18. Juli 1710 der Pastor Kenckel an der Pest gestorben. Das Volk, unter dem schrecklichen Sterben in steter Angst und Traurig­keit, drängte sich darnach, Gottes Trost zu hören; doch fürchtete man die Ansteckung, die in der engen, überfüllten Kirche um so gefährlicher war. Es versammelte sich daher in dem Wäldchen am Pastorat. Da hatte der neue Pastor, Weinmann, ihnen zu predigen und das Abendmahl zu reichen, während bald einer zur Rechten, der andere zur Linken niederfiel. So hatte er zwischen Toten und Leben­digen seines Amtes zu warten. Weil alle Ordnung auf­gehört hatte, konnte er auch erst zwei Jahre später feier­lich in sein Amt eingeführt werden. – Im Anfange des Jahres 1710 kam die schreckliche Pest, die schon 1703 in Asien und in der Türkei ausgebrochen und durch Polen und Preußen gewandert war, auch nach Riga, welches gerade von den Russen belagert wurde. Sowohl innerhalb wie [49] außerhalb der Stadt war das Sterben furchtbar. Auch die abgelegensten Inseln in der Ostsee wurden von der Seuche heimgesucht. So hab ich mir von der Insel Ösel erzählen lassen, daß dort erst infolge eines überaus harten Winters die Saaten verdorben und eine Hungersnot aus­gebrochen sei. Die Leute strömten bettelnd in die Stadt und starben, wie man aus dem Kirchenbuch sieht, auch dort öfter an Hunger. Zu allem Unglück kamen da auch noch die Kosaken über den festgefrornen Sund, verbrannten die Stadt Arensburg und verwüsteten das Land, und nun kam die Pest. In der kleinen ehstnischen Gemeinde starben in vierzehn Tagen 175 Menschen. Von dem Rat der Stadt, der aus neun Gliedern bestand, war nach der Pest nur ein Mann am Leben. Die ganze deutsche Gemeinde war bis auf elf Bürger zusammengeschmolzen. Ganz Ösel war schließlich so von Einwohnern entblößt, daß die Leute, wo sie eine Spur eines menschlichen Fußes im Sande erblickten, dieselbe vor Freude geküßt haben sollen.

„Wie es mit der Ordnung im Lande aussah, wenn oft niemand da war, der darnach sehen konnte, oder Lust und Mut gehabt hätte, sich darum zu kümmern, könnt ihr euch vorstellen. Nicht einmal das ließ sich erreichen, daß die Toten ordentlich begraben wurden. Viele wurden nur kümmerlich eingescharrt; die streng verbotnen „Buschbegräb­nisse" kamen wieder auf und trugen viel zur Verbreitung der Krankheit bei. Oft waren die Leichen nur so ober­flächlich eingescharrt, daß sie von Hunden oder Wölfen wieder aus der Erde gezerrt wurden. Oft unterblieb das Begräbnis ganz, namentlich wenn der Tote der letzte im Hause war; dadurch wurde dasselbe erst recht zu einem Herde der Ansteckung.

„Was aber das Allerschmerzlichste in diesen schrecklichen Zeiten war, das ist, daß viele sich nicht zu Gott führen [50] ließen, sondern im Gegenteil die Not und Verwirrung benutzten, um ihren bösesten Leidenschaften nachzuhängen. Namentlich erwachte die Geldgier. Mancher Raub, ja mancher Mord wurde mit dem Mantel der Pest bedeckt und kam gar nicht ans Tageslicht. Unter den oft nur vermeintlichen Schätzen der Verstorbenen, ja der einsamen Kranken mit räuberischer Hand zu wühlen, war gar zu versuchlich. Um solchem Geschicke, ja vielleicht der Ermor­dung bei eintretender Krankheit vorzubeugen, vergruben viele, namentlich unter den Bauern, ihr Geld. Grenzmale waren oft nicht vorhanden oder wurden willkürlich und straflos verrückt, wenn die Besitzer weggestorben waren. Karten fehlten meist, so daß man auch später die Sache nicht in Ordnung bringen konnte. So blieb mancher im Besitz des ungerechten Gutes, das er sich in dieser Zeit der Gesetzlosigkeit angeeignet hatte. – Ganze Höfe verödeten. Dem Besitzer des Gutes Schlek, Präsidenten Baron von Behr, starben viele Kinder, dem dortigen Pastor, wie be­richtet wird, ,alle seine zwanzig Töchter.’ Eine Menge von Gesinden (Bauerhöfen) starben aus. Das Vieh lief mit strotzendem Euter umher, weil niemand da war, der’s ge­melkt hätte. Die Feldfrüchte verfaulten auf dem Halm, weil keine Hände da waren, sie zu schneiden. So fehlte es anderseits auch an Arbeitskräften, um die Äcker zu be­säen. In seiner Not suchte sich der genannte Gutsbesitzer zu helfen, indem er, wo er konnte, Leute, Letten sowohl wie Deutsche, auffing und, wie man erzählt, mit Gewalt zu Leibeigenen machte. An vielen Orten verfielen die meist hölzernen, jahrelang unbewohnten Gebäude gänzlich, nament­lich die Bauerwohnungen. So heißt es auch in den Pa­pieren über die Einführung meines Vorgängers an unsrer Kirche im Jahre 1723, daß ,durch die hinreißende Seuche’ die Widme dergestalt heruntergekommen sei, daß von einigen [51] Gesinden nur noch Trümmer vorhanden seien. Nun stellt euch vor, meine Lieben, wie viel Wohlstand durch diese Seuche, die schrecklicher gewütet hatte, als der ärgste Krieg, vernichtet wurde, wie viel gänzlich verarmte Familien, wie viel unglückliche verwaiste Kinder es gab. Unser armes Volk konnte sich in Jahrzehnten nicht erholen. Was man in glücklicheren Zeiten schon erreicht hatte, das ging rück­wärts. Auch mit dem Unterricht des Volkes ging es so. Harte Lasten drückten die wenigen, die noch übrig geblieben waren, und an dem großen Elend wurden oft die treusten Bemühungen zu Schanden.

„Aber wo bleibt meine Wolfsgeschichte?“ unterbrach sich der Großvater nach einer kleinen Pause. „Glaubt ihr etwa, ich hätte mein klein Minnachen vergessen? Aber was macht sie?“

„Sie schläft!“ riefen mit Verachtung ein paar junge Stimmen.

„Süßes Kind!“ sagte lächelnd der Großvater, indem er nach ihr tastete und sie streichelte. „Aber ihre Wolfsgeschichte soll doch kommen und den Schluß machen. Ist sie doch auch eigentlich mehr für euch Jungen. Habt ihr einmal bemerkt, wie sich eine Welle an die andere reiht, wenn man einen Stein ins Wasser wirft? Immer schwächer und breiter werden die Kreise, bis sie endlich nur als leise Bewegung das Ufer erreichen. Aber ausgegangen sind sie doch von dem Stein, der ins Wasser fiel. So steht auch manches von dem, worunter wir jetzt noch leiden, oder bis vor kurzem zu leiden hatten, in Zusammenhang mit jener bösen Zeit. Während man in andern Ländern z. B. mit den schädlichen Raubtieren, den Wölfen, schon längst fertig war, nahmen sie bei uns noch recht überhand. Ganz natür­lich. Wenn so viel Jäger weniger waren, nachdem das Land durch die Pest verödet war, hatten diese Räuber desto [52] mehr Freiheit, sich zu vermehren. So hörte man denn in meiner Jugend in jedem Jahre von dem Schaden, den sie angerichtet hatten. Trotz häufiger Jagden fanden sie sich doch immer von neuem ein. Man hielt Treibjagden, man stellte Fleisch aus und stand auf der Lauer, ja man hielt auch eine andere Art von Jagd, bei der ihr großen Jungen gewiß gern dabei gewesen wäret. Im Winter nämlich, wenn schönes stilles Wetter und gute Bahn war, setzten sich ein paar tüchtige Jäger auf einen Schlitten, ihre Gewehre und Gesichter nach hinten gerichtet. Ein Ferkel, das man für diesen Zweck opferte, wurde in einen Sack gesteckt, oder nur gebunden, und schleifte an einem langen Strick nach. Natür­lich quiekte das arme Tierchen dabei nach Möglichkeit. Das sollte es aber auch; denn dadurch sollten die Wölfe herbei­gelockt werden. Fuhr man so eine Weile durch den Wald, in welchem die Wölfe hausten, so dauerte es gewöhnlich nicht allzu lange, bis einer oder der andere herankam. Sofort stürzte er sich auf das Ferkel; den Augenblick nahmen die Jäger wahr und feuerten in ziemlicher Nähe auf ihn. Wenn der Weg eben war, die Jäger geübt und man nicht allzu schnell fuhr, so fand der Wolf meist seinen Tod. – Aber noch viel später haben uns die Wölfe zu schaffen gemacht. Ihr kennt ja dort am Rande des Wäld­chens die Pferdekoppel, welche ihr auch hier aus dem Fenster sehen könnt. Dort weidete meine schöne Stute mit ihrem prächtigen kleinen Füllen. Es war mitten im Sommer und am hellen lichten Tage. Da kommt solch ein blutdürstiger Räuber und holt das Füllen weg. Wohl hatte die Stute sich zur Wehre gesetzt, wie man wenigstens daraus ver­muten kann, daß sie selbst am Schenkel verwundet war; und wenn sie auch an den Hinterfüßen beschlagen gewesen wäre, hätte sie vielleicht dem Wolf den Schädel zerschmettert, so aber hatte sie leider ihr armes Kind nicht retten können. [53] Ja bis in unser Gehöft kamen diese frechen Tiere. Ich hatte einen schönen, treuen Hund, Fripon. Der bellte auf der Hintertreppe eines Abends im Winter unaufhörlich, so daß es den Leuten auffiel. Aber noch mehr wurde man darauf aufmerksam, als plötzlich sein Bellen aus dem alten, hölzernen Kuhstall her zu unsern Ohren drang. Die Leute eilten, mit Knütteln bewaffnet, hinzu, sahen bei dem kümmer­lichen Licht einer Laterne alsbald den Wolf, der sich unter dem gebrechlichen Fundament einen Weg in den Stall ge­scharrt hatte. Unser Fripon hatte ihn gepackt und biß sich tapfer mit ihm herum. Die Leute stürzten hinzu und schlu­gen wütend mit ihren Knütteln auf den Wolf. Es gelang ihnen auch, denselben zu töten; aber in ihrer blinden Wut hatten sie leider auch den braven Hund mit getroffen und so arg, daß er nach einigen Tagen starb. So verlor ich meinen Fripon.“

„So seht ihr nun, liebe Kinder, wie auch diese Wolfs­plage in gewissem Sinne noch eine Nachwirkung der Pest­zeit war. Es sind aber das nicht die einzigen Wölfe, die in die Kuhställe brechen.“

Damit schloß der gute alte Mann. Die nächsten Ka­pitel werden uns von seiner eignen Jugendgeschichte u. s. w. erzählen.



  1. Joh. Wilh. Reimer, zur Zeit (1831) Pastor emeritus zu Wahnen, schon seit vielen Jahren verwitwet, weshalb wir Kinder unsere Großmutter mütterlicherseits nie gekannt haben, und wenn von Großmutter die Rede war, immer des Vaters Mutter gemeint war.