Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland | |
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ließen, sondern im Gegenteil die Not und Verwirrung benutzten, um ihren bösesten Leidenschaften nachzuhängen. Namentlich erwachte die Geldgier. Mancher Raub, ja mancher Mord wurde mit dem Mantel der Pest bedeckt und kam gar nicht ans Tageslicht. Unter den oft nur vermeintlichen Schätzen der Verstorbenen, ja der einsamen Kranken mit räuberischer Hand zu wühlen, war gar zu versuchlich. Um solchem Geschicke, ja vielleicht der Ermordung bei eintretender Krankheit vorzubeugen, vergruben viele, namentlich unter den Bauern, ihr Geld. Grenzmale waren oft nicht vorhanden oder wurden willkürlich und straflos verrückt, wenn die Besitzer weggestorben waren. Karten fehlten meist, so daß man auch später die Sache nicht in Ordnung bringen konnte. So blieb mancher im Besitz des ungerechten Gutes, das er sich in dieser Zeit der Gesetzlosigkeit angeeignet hatte. – Ganze Höfe verödeten. Dem Besitzer des Gutes Schlek, Präsidenten Baron von Behr, starben viele Kinder, dem dortigen Pastor, wie berichtet wird, ,alle seine zwanzig Töchter.’ Eine Menge von Gesinden (Bauerhöfen) starben aus. Das Vieh lief mit strotzendem Euter umher, weil niemand da war, der’s gemelkt hätte. Die Feldfrüchte verfaulten auf dem Halm, weil keine Hände da waren, sie zu schneiden. So fehlte es anderseits auch an Arbeitskräften, um die Äcker zu besäen. In seiner Not suchte sich der genannte Gutsbesitzer zu helfen, indem er, wo er konnte, Leute, Letten sowohl wie Deutsche, auffing und, wie man erzählt, mit Gewalt zu Leibeigenen machte. An vielen Orten verfielen die meist hölzernen, jahrelang unbewohnten Gebäude gänzlich, namentlich die Bauerwohnungen. So heißt es auch in den Papieren über die Einführung meines Vorgängers an unsrer Kirche im Jahre 1723, daß ,durch die hinreißende Seuche’ die Widme dergestalt heruntergekommen sei, daß von einigen
Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/48&oldid=- (Version vom 11.9.2022)