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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

Gesinden nur noch Trümmer vorhanden seien. Nun stellt euch vor, meine Lieben, wie viel Wohlstand durch diese Seuche, die schrecklicher gewütet hatte, als der ärgste Krieg, vernichtet wurde, wie viel gänzlich verarmte Familien, wie viel unglückliche verwaiste Kinder es gab. Unser armes Volk konnte sich in Jahrzehnten nicht erholen. Was man in glücklicheren Zeiten schon erreicht hatte, das ging rück­wärts. Auch mit dem Unterricht des Volkes ging es so. Harte Lasten drückten die wenigen, die noch übrig geblieben waren, und an dem großen Elend wurden oft die treusten Bemühungen zu Schanden.

„Aber wo bleibt meine Wolfsgeschichte?“ unterbrach sich der Großvater nach einer kleinen Pause. „Glaubt ihr etwa, ich hätte mein klein Minnachen vergessen? Aber was macht sie?“

„Sie schläft!“ riefen mit Verachtung ein paar junge Stimmen.

„Süßes Kind!“ sagte lächelnd der Großvater, indem er nach ihr tastete und sie streichelte. „Aber ihre Wolfsgeschichte soll doch kommen und den Schluß machen. Ist sie doch auch eigentlich mehr für euch Jungen. Habt ihr einmal bemerkt, wie sich eine Welle an die andere reiht, wenn man einen Stein ins Wasser wirft? Immer schwächer und breiter werden die Kreise, bis sie endlich nur als leise Bewegung das Ufer erreichen. Aber ausgegangen sind sie doch von dem Stein, der ins Wasser fiel. So steht auch manches von dem, worunter wir jetzt noch leiden, oder bis vor kurzem zu leiden hatten, in Zusammenhang mit jener bösen Zeit. Während man in andern Ländern z. B. mit den schädlichen Raubtieren, den Wölfen, schon längst fertig war, nahmen sie bei uns noch recht überhand. Ganz natür­lich. Wenn so viel Jäger weniger waren, nachdem das Land durch die Pest verödet war, hatten diese Räuber desto

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/49&oldid=- (Version vom 11.9.2022)