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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

erstieg er den unheilvollen Baum! Um deinetwillen hat er diese Schmerzen auszustehen, wenn er nicht gar ein Krüppel wird für sein ganzes Leben.“ Mit welchen Gebeten, mit welchen Thränen schrie sie zu Gott, daß er ihrem armen Bruder helfe, daß er ihn gesund werden lasse! Was sie nur ersinnen konnte, das bot sie auf, um ihm die langsam hinschleichenden Tage und Stunden zu kürzen, und sein Herz zu erfreuen. Es war ihr, als hätte sie ihr Leben lang eine Schuld an ihn abzutragen.

Gott hatte ihr Gebet erhört; als die langen Warte­tage vorüber waren und der Verband abgenommen werden konnte, erwies sich der Arm als glücklich geheilt. Auch später bereitete er, abgesehen von einigen Schmerzen zur Zeit des Witterungswechsels, keine weitere Beschwer.

Die treue Geschwisterliebe aber, die in jenen Schmerzens­tagen neue und tiefere Wurzeln getrieben hatte, bewahrte ihre Innigkeit und Stärke ungeschwächt bis zu jenen fernen Tagen, wo der Tod Johannchens und Binchens müde Augen schloß.



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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/65&oldid=- (Version vom 12.9.2022)