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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

hölzerne Engel, die seit undenklichen Jahren als Zierat oben auf dem alten, großen Schrank im Eßzimmer thronten.

„Ach, wenn man die Engel herunterkriegen könnte! Die könnten schön Pate stehen!“ seufzt die Kleine und sieht dabei Johannchen so bittend an.

„Die hol ich herunter:“ erwidert er. Wo es zu klettern gab, war der kleine Bursch mit Freuden zur Hand. So wird denn nicht ohne Mühe und Qual von den beiden Gnomen ein Tisch endlich an den Schrank hingezerrt; Johannchen steigt flugs auf denselben und ist im Nu oben auf dem staubigen Schrank. Nicht allzu fest saßen die guten Engel; mit einigem Zerren und Rücken sind sie richtig mobil gemacht und bald glücklich am Boden.

„Pfui! wie sie schwarz und schmutzig sind!“ ruft Bin­chen enttäuscht; „meine Kinder werden erschrecken.“ Und in der That waren sie nicht bloß häßlich schwarz, sondern als beliebter Sommersitz der Pastoratsfliegen auch gründlich schmutzig.

„Wenn man sie abwaschen könnte!“ bemerkt der weise Bruder.

„Ja, das ist wahr! Ich weiß, wo Vaters Rasierseife ist; wir wollen die Seife und den Pinsel nehmen und einen großen, großen Schaum machen, … so groß! Dann werden sie gewiß ganz weiß.“ Damit war Binchen wie ein Vögelchen aus dem Zimmer geflogen und alsbald mit der genannten Seife zurück.

Jetzt begann die Wäsche mit allem Eifer. Sie ließen sich auch den Schaum und das Scheuern gefallen, die lieben Engel; aber Art läßt nicht von Art. Zur Not wurden Nase und Wangen, Ellbogen und Kniee etwas bläulich oder bräunlich, im übrigen blieben sie schwarz. Doch wurden sie endlich tauglich befunden und hingestellt. Sie standen nicht schlechter als so manche andere Paten in der Christenheit.

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/62&oldid=- (Version vom 12.9.2022)