Aus Belgiens Jubeltagen
Jüngst kam ich an von Flandern und Brabant.
So viele reiche, blühende Provinzen!
Ein kräftiges, ein großes Volk – und auch
Ein gutes Volk – und Vater dieses Volkes,
Das, dacht’ ich, das muß göttlich sein!
Diese Worte Schiller’s kamen mir in den Sinn, sowie ich die belgische Grenze überschritten, und oft mußte ich ihrer in den Tagen gedenken, da ich in Belgien geweilt. Es ist wunderbar, mit wie wenig Worten unser großer Dichter das Land und das Volk zu kennzeichnen verstanden, und wie vollkommen richtig zugleich. Wie er im Tell die Natur der Schweiz gemalt, als ob er lange in derselben gelebt, wie er im Wallenstein mit poetischer Anschauung das Richtige geahnt, noch ehe die nachfolgenden Untersuchungen ihm Recht gegeben, so hat er auch in Bezug auf die Niederlande ein historisches Denkmal von größter Wahrheit geschaffen. Mir sagte ein alter General, der sich jetzt in einem Städtchen nahe bei Brüssel niedergelassen hat und dort das Bürgermeisteramt verwaltet: „Ich lese Ihren Schiller fortwährend, und seinen ‚Abfall der Niederlande‘ kenne ich auswendig; es ist wunderbar, mit welcher Treue und wie wahr Alles geschildert und erzählt ist, und ich, als alter Militär, bewundere noch besonders die absolute Richtigkeit aller seiner taktischen Angaben.“
Und dieses schöne Land, dieses edle Volk feierte jetzt seine fünfzigjährige Befreiung von einer vielfach wechselnden Fremdherrschaft, unter der es Jahrhunderte lang geschmachtet, bis das Jahr 1830 ihm durch Lossagung von Holland die lang ersehnte Freiheit gab.
Es war dies die Zeit, wo einmal wieder die Göttin der Freiheit ihren Triumphzug durch Europa hielt, wo der Thron der Bourbons in Frankreich gestürzt, wo Griechenlands Unabhängigkeit anerkannt wurde und wo das unglückliche Polen eine neue, schnell in Blut ertränkte Hoffnung schöpfte. Damals erlebte die Welt auch das wunderbare Schauspiel, daß selbst die katholische Geistlichkeit sich dem Liberalismus anschloß und daß französische wie belgische Kleriker erklärten, an das Gesetz der Vernunft und des Fortschritts zu glauben. Alle stimmten den fundamentalen Forderungen dieser Zeit bei: Freiheit des Glaubens, des Unterrichts, der Association und der Presse.
In Brüssel versammelte sich der Nationale Congreß und entwarf die Verfassung, ein ebenso kühnes, wie erhabenes Werk, auf das Belgien stolz ist. „Der König regiert, aber er herrscht nicht.“ Dieses Wort ist hier zur Wahrheit geworden. Und König Leopold der Erste hatte den Muth und das Vertrauen, die Krone dieses Landes anzunehmen, sowie die Weisheit, sich getreu an die Bestimmungen der Constitution zu halten. Das Volk aber ehrte und liebte ihn darum von ganzem Herzen, und sein Sohn, der jetzige König, ist der Erbe dieser edlen Gesinnungen seines Vaters, sowie der schwärmerischen Liebe des Volkes geworden. Letztere sprach aus allen kleinen Zügen wie aus allen großen Festen, die ich dort gesehen, ebenso wie die dankbare Erinnerung an den Verstorbenen, den Gründer dieser Dynastie.
Viele kleine Züge coursiren als Zeugnisse, wie Leopold der Zweite, der stets populär, nie vulgär zu werden und sich in heiterer, ungezwungener und doch stets königlicher Weise unter seinem Volk zu bewegen versteht, die Bestimmungen der Verfassung zu wahren gesonnen ist. Als z. B. bei dem „patriotischen Fest“ die Sonne arg brannte, erlaubte er den Ministern, wie seiner ganzen Umgebung, sich zu bedecken. Der Ministerpräsident Frère-Orban trat zu einer Meldung, den Hut auf dem Kopfe, an den König heran, sich mit den Worten entschuldigend: „Auf Ihren Befehl, Sire!“ – „Halt,“ unterbrach ihn der König, „das Wort kann ich nicht annehmen; es paßt nicht in unsere Institutionen!“ Denn der König von Belgien befiehlt eben nicht – er führt nur aus. Es ist dies aber ein goldenes Wort, das wohl der Aufbewahrung werth ist.
So führt Belgien seit fünfzig Jahren ein glückliches Leben, keine besonderen Unruhen, selbst im Jahre 1848 nicht, haben seinen Frieden gestört – nur der Culturkampf ist auch dort mit großer Härte aufgetreten. Aber die Freiheit daselbst hat gesiegt, das geistige Leben Belgiens ist nur desto mehr angeregt worden, was der Umstand beweist, daß bei manchen Wahlen neunzig Procent der eingeschriebenen Wähler erschienen – ungebeugt steht der Staat der Kirche gegenüber und vertheidigt siegreich sein Recht gegen dieselbe.
Und auch von socialistischer Seite hat Belgien nichts zu fürchten, obgleich es vorzugsweise ein Land der Industrie, der großen Fabriken, der Arbeiterbevölkerung ist. Mitten in den Festtagen wurde in Brüssel ein socialistisches Meeting abgehalten – 4000 bis 5000 Teilnehmer hatten sich versammelt – aber das Ganze verlief ruhig und ohne daß, außer den Betheiligten, eine Seele es für der Mühe werth hielt, sich darum zu kümmern.
Die Jubelfeier Belgiens dauerte vom Juni bis zum September – eine so weit gegriffene Spanne Zeit, daß wohl Keiner, wenigstens kein Fremder, sich dürfte rühmen können, den sich drängenden Festlichkeiten vom Anfange bis zum Ende des Programms beigewohnt zu haben. Ich selbst traf in Brüssel ein, nachdem der erste internationale literarische Congreß sowie die Eröffnung der verschiedenen Ausstellungen vorüber waren, also im Anfange des Augusts, und zwar zu den Sitzungen des „Congrès littéraire belge“, welche am 12. jenes Monats eröffnet wurden.
Schon beim Eintritt in das Land, gleich von Verviers an, entzückte mich der Anblick dieser dichten und doch so wohlhabenden Bevölkerung und der herrlichen Landschaft; in malerischer Lage, im üppigen Grün und von herrlichen Bäumen umgeben, Flecken und Dörfer; überall freundliche, saubere Häuser, alle massiv gebaut, alle mit Ziegeln gedeckt; wenig Landwirthschaft, viel Gartenbau und am meisten Fabriken – das ist der Charakter dieses Landstrichs. Beim Anblick desselben aber begreift man auch leicht, daß die Volksdichtigkeit hier eine sehr große sein muß, und in der That kommen auf die Quadratmeile in Belgien 9511 Menschen, in Deutschland dagegen 3906, und nur der Regierungsbezirk Düsseldorf, das am meisten bevölkerte Stück des deutschen Reichs, nähert sich mit 9000 Seelen pro Quadratmeile etwa der belgischen Durchschnittszahl. Trotzdem ist die Zahl der jährlich Auswandernden eine verhältnißmäßig geringe.
Es ist hier nicht der Ort, eine Beschreibung von Brüssel zu geben; nur das Eine will ich sagen, daß mich diese Stadt mit ihren schönen breiten Straßen, ihren Boulevards, Parks, und Palästen, ihren hochinteressanten alten Baulichkeiten wie ihren neuen architektonischen Meisterwerken, diese Stadt voll bewegten Lebens [662] wahrhaft entzückt hat. Der Belgier ist übrigens mäßig im Genuß von Spirituosen – trotz der großen Zahl von Restaurants und Cafés und des bunten Treibens, das sich vor letzteren auf Stühlen und Bänken bis mitten auf die Straße hinaus geltend zu machen pflegt und spät in die Nacht hinein dauert. Nur Bier wird in Brüssel mehr consumirt, als selbst in München oder irgend einer deutschen Stadt, und das will gewiß viel sagen.
Was dem Aufenthalt in Belgien einen besonderen Reiz verleiht, das sind neben den in Kirchen und Museen gehäuften Kunstschätzen die sich fortwährend aufdrängenden Erinnerungen an die große Vergangenheit des Landes, die sich allerdings zumeist auf die spanische und habsburgische Zeit beziehen.
Den ersten Nachmittag und Abend nach meiner Ankunft in Brüssel verwandte ich dazu, mir einen Ueberblick über die Stadt zu verschaffen und das herrliche, nahe gelegene „Bois“ zu besuchen, das die Brüsseler gern ihr Bois de Boulogne nennen, einen Park mit mächtigen Bäumen und breiten Wegen. Am folgenden Tage wohnte ich der Eröffnung des literarischen Congresses bei, zu welchem ich eine Einladung erhalten hatte. Hierbei, wie während meines ganzen Aufenthaltes in Belgien, hatte ich Gelegenheit, zu beobachten, in welch hoher Achtung daselbst die Presse steht. Die Städte wetteiferten, einmal die Vertreter der europäischen Tagesliteratur als Gäste bei sich zu sehen. Zu allen Festen wurden wir geladen; zu allen Schaustellungen erhielten wir die besten Plätze, und die gesammte Bevölkerung, vom König herab bis zum letzten Schaffner der Eisenbahn, bezeigte uns Wohlwollen und Achtung. Manch stiller Seufzer des Neides wurde da gehört – Belgien ist eben ein freies Land, und nur ein solches vermag den Werth der Presse zu schätzen.
Der Congreß versammelte sich in dem prächtigen, am Parke gelegenen Palast der „Künste und Wissenschaften“; eine mit Statuen und Blumen geschmückte Marmortreppe führte hinauf zu den Sälen, deren schönster, mit Marmorsäulen und zwölf großen allegorischen Gemälden von Slingeneijer geschmückt, heute die Versammlung aufnahm. Im Zuhörerraum befand sich eine stattliche Gesellschaft von Damen und Herren; am Präsidialtische saßen unter Anderen Mr. Graux, der Finanzminister, und Dr. Rolin-Jacquemyns, der Minister des Inneren; unter den Mitgliedern des Congresses fanden wir die berühmtesten Namen: die Herren Henri Conscience, den Nationalökonomen Demeures, den Generalprocurator des Cassationshofes Faider, den Feuilletonisten Frédérix, den Volksschriftsteller Gilon, den Romanschriftsteller Greyson, den Journalisten Hymans, den Kunstkritiker Lemonnier, den Führer der Freidenker Belgiens Potvin, den Repräsentanten der vlämischen Literatur Sleeckx, den Maler Wanters und viele Damen, so die junge, begabte Schriftstellerin Fräulein Van de Wiele, die Malerin Madame Potvin, Madame Popp, die Redactrice des politischen Theils des „Journal de Bruges“, und Andere.
Zur bestimmten Zeit erschien auch der König, und der begeisterte, jubelnde und zugleich herzliche Empfang, der ihm zu Theil wurde, gab mir einen ersten Beweis der großen Liebe, welche derselbe bei seinem Volke genießt; sein freundliches, frohes Grüßen zeigte andererseits, wie wohl er sich unter seinem Volke fühlt und wie gern er mit demselben verkehrt. Er blieb auch bis zum Schlusse der Feier.
Zuerst hielt der Präsident des Congresses eine Rede, dann der Finanzminister, welcher die Bedeutung der Presse für Belgien, ihre Theilnahme an dem politischen und besonders dem geistigen Befreiungswerke hervorhob, von ihrer jetzigen Aufgabe sprach und mit einem begeistert aufgenommenen Hoch! auf den König schloß. Dann verlas der Secretär des Congresses, B. Greyson, seinen Bericht, nannte die eingeladenen Fremden und trug darauf an, diejenigen darunter, welche sich zur Theilnahme an den Arbeiten des Congresses bereit erklärt hatten, zu Vicepräsidenten zu ernennen, ein Antrag, der mit Acclamation aufgenommen wurde. Mit erneutem Hoch! auf den König schloß die Eröffnungsfeier.
Zum Abend waren wir Alle zu einem Essen in den Räumen des ebenfalls dem Künstler- und Literatenverein gehörigen „Vauxhall“ geladen. Die Zwischenzeit benutzte ich, um zuerst die Ausstellung von Werken des Malers Wanters in dessen Hause zu besuchen; der Zutritt zu dieser wie zu der großen Industrie-Ausstellung, zu den Museen wie zu den besten Theatern stand uns Allen auf unsere Einladungskarte frei; ebenso war uns auf allen belgischen Bahnen jeder Zeit freie Fahrt gewährt. Die Theater hatten übrigens alle für diese Zeit eine Reihe von Festvorstellungen arrangirt, denen nach Belieben beizuwohnen Jedermann gestattet war.
Was die Ausstellung Wanters’scher Bilder betrifft, so gewährte ihre Besichtigung hohen Genuß. Schon die Treppen, die Flure und das Entrée des Gebäudes, in dem sie placirt waren, machte einen würdigen Eindruck; überall Waffen, Teppiche, Decken, Schränke und Geräthe aus alter Zeit, schön geordnet und effectvoll aufgestellt. Und nun die Sammlung selbst, sechsundvierzig Nummern umfassend, die von ihren jetzigen Besitzern zu diesem Zwecke hergeliehen waren und die einen Ueberblick über die vielseitige Kunst des Meisters gestatteten: treffliche historische Gemälde, die werth befunden worden, die belgischen Museen zu zieren, Portraits, welche an Feinheit der Auffassung, an Zartheit und zugleich an Lebendigkeit der Ausführung zu den besten der Neuzeit gerechnet werden können, architektonische und landschaftliche Werke von charakteristischer Wahrheit und Aquarellen, duftig und elegant, bildeten diese interessante Sammlung, interessant auch deshalb, weil sie noch der alten Schule angehören. Auch in der neueren belgischen Kunst haben die Entwickelungsphasen rasch gewechselt. In dem neu eröffneten großartigen Museum moderner Künstler finden wir alle belgischen Schulen der letzten fünfzig Jahre vertreten, die romantische, die antikisirende, die das Mittelalter so genau nachahmende, daß man die Köpfe und Figuren den Illustrationen alter Manuskripte entnommen glaubt, und nun wieder die naturalistische, die aber sich zum Glück noch fern hält von dem jetzt so vielfach eingerissenen Unwesen des geistlosen Abschreibens der Natur. Wanters gehört dieser Richtung nicht an; er ist ein Vertreter der idealen Kunstschule.
Nach diesem Kunstgenuß besuchte ich die nahegelegene Industrie-Ausstellung, die ebenfalls dem Jubiläum zu Ehren in’s Leben gerufen worden. Der ganze Weg dorthin war besetzt mit Panoramen, Schießständen, Cafés, Estaminets etc.; die Gebäude der Ausstellung selbst, wie der dazu gehörige Park zeigten die üblichen Formen; im Garten schnurrte die elektrische Eisenbahn, auch ein Ballon captif und eine Sammlung von Turnapparaten waren vorhanden. Was aber der Ausstellung ein besonderes Interesse verlieh, das war der in den beiden Flügeln des Gebäudes veranschaulichte Gegensatz der alten und der neuen belgischen Industrie; auf der einen Seite boten sich dem Auge Gobelins, Spitzen, kostbare Holz- und Elfenbeinschnitzereien, wahre Meisterwerke der Sculptur; auf der anderen erblickte man alles Dies und natürlich noch unendlich viel Anderes in modernem Stil und in moderner Arbeit, und ich gestehe gern, daß, so sehr ich die letzteren Gegenstände bewunderte, mir doch in vieler Beziehung jene den Vorrang zu verdienen schienen. Auch der Maschinenraum imponirte, und die berühmte Brüsseler Wagenbaukunst feierte glänzende Triumphe. Ein reich ausgestattetes Lesezimmer mit einer großen Bibliothek und den Journalen aller Völker, natürlich zur freien Benutzung Aller geöffnet, sowie ein Correspondenzzimmer für die Presse waren dankenswerthe Zuthaten.
Der Abend, wie schon erwähnt, versammelte nun die Congreßmitglieder mit ihren Damen in den Sälen und den strahlend erleuchteten Gärten des Vauxhall zu heiterem, ungezwungenem Zusammensein bei stattlich ausgerüstetem Büffet. Auch hier erschien gegen zehn Uhr der König, sich leutselig unter der Menge bewegend und mit Vielen plaudernd; er verweilte bis gegen Mitternacht. Leider vertrieb ein starker Regen die im Garten Sitzenden, und so verließ auch ich das Vauxhall früher, als ich beabsichtigt.
Am folgenden Tage wohnte ich den Sitzungen des literarischen Congresses bei; derselbe hatte sich in vier Sectionen getheilt. Die erste Section verhandelte die Rechte der Schriftsteller; die zweite die äußeren Verhältnisse derselben (literarische Associationen, Staatshülfe, Aufgaben des Buchhandels, Unterstützungs- und Wittwencassen), die dritte, der ich mich hatte zuschreiben lassen, die Aufgabe der Literatur im Volks- und höheren Unterricht, und die vierte die Literatur als Kunst, wobei namentlich über Realismus und Naturalismus verhandelt wurde.
Eine höchst interessante Episode aus den Verhandlungen der letzten Section bot eine donnernde Philippika, welche ein Redner gegen Zola hielt, und die geistvolle, überwältigende Vertheidigung des Letzteren durch den Präsidenten dieser Abtheilung, den bekannten Potvin, der mit Begeisterung von diesem Schriftsteller sprach, dessen „Assommoir“ und „Nana“ Bücher von höchstem moralischem Verdienste nannte, die zwar die Nachtseiten [663] des Lebens zeigten, aber um sie zu bessern, um den Staat und der Gesellschaft ihre Pflicht für den Einzelnen, den Armen, den Unglücklichen, ja auch den Lasterhaften zu zeigen, und der zuletzt erzählte, wie er einen wüsten Trunkenbold, der Frau und Kind mißhandelte, durch Lesung gerade des „Assommoir“ gerettet! Großer Beifall zeigte, wie sehr seine Rede gezündet. (Wir unsererseits müssen die Romane Zola’s auch fernerhin für eine wüste Lectüre halten. D. Red.)
Zwischen den einzelnen Debatten hatte ich das oben erwähnte Museum neuerer Meister – ein würdiger, schöner Bau, durchweg mit Oberlicht – besucht, und Abends ging ich in das Alhambra-Theater, wo als eine der acht Gratisvorstellungen ein fünfactiges Drama Potvin’s (des Redners aus dem Congresse) gegeben wurde: „La mère de Rubens“. Es behandelt die Geschichte der Eltern des Rubens, das Verhältniß des Vaters mit Anna von Sachsen, die edle Opferwilligkeit der Mutter und endlich den Sieg ihrer Liebe und Treue über die Machinationen der Nebenbuhlerin. Das Ganze, in Versen geschrieben, spannend, voll edler Gedanken fand großen Beifall, und der Verfasser wurde dreimal gerufen, obwohl ich mich mit der Darstellung und dem hohlen declamirenden Pathos der französischen Schauspieler nicht befreunden konnte, sie sogar herzlich schlecht fand; nur die Darstellerin der Titelrolle, eine Madame Caty-Dorback, bildete eine rühmliche Ausnahme.
Am folgenden Tage – verzeihen Sie, es gab so viel Schönes, daß ich es tagebuchartig und der Reihe nach erwähnen muß – waren wir fremden Journalisten zur Ausstellung geladen, wo uns Commissäre herumführten und dann der Vorsteher des Concils uns zu einem solennen Lunch im Restaurant der Ausstellung geleitete. Es wurde viel und gut gegessen und getrunken, viel getoastet, und als Einer der Herren die „freie“ Presse gefeiert und Einer der Gäste, ein Deutscher, ihm erwiderte, daß leider die Presse noch nicht überall frei sei, daß er aber die Herren bitte, mit ihm dahin zu wirken und jetzt darauf zu trinken, daß die freie Presse bald ein Eigenthum aller Völker sein möge, da zeigte der jubelnde Zuruf, wie sehr dieses Wort gezündet. Berlin, Leipzig, Paris, Amsterdam, Madrid, Frankfurt am Main, Barcelona, Wien, London, Moskau, Haarlem, Genf, Lausanne, Utrecht, Pest und Mailand waren die Städte, welche Vertreter für einheimische Journale gesandt hatten.
Den Nachmittag (nach unserer Zeiteintheilung; dort aber dinirt man von fünf bis sieben Uhr) besuchte ich das Rathhaus, das schönste des ganzen Landes, das schon in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts vollendet worden. Rings umgeben von den alten Gildehäusern, welche in ihrer Eigenart erhalten sind und den Platz vor dem Rathhaus originell umfassen, ragt es weit über alle hinaus, mit seinem hundertvierzehn Meter hohen prachtvollen Thurme und den weit über hundert Statuen, welche die Vorderseite schmücken; im Innern sind die Corridore und Säle geziert mit historischen Gemälden aus der belgischen Geschichte und mit Gobelins, welche ebenfalls solche Vorwürfe behandeln. In dem Saale der bürgerlichen Trauungen dürfte es manchem jungen Paare einen eigenthümlichen Eindruck machen, wenn sie denken, daß an derselben Stelle, wo sie jetzt für’s Leben verbunden werden – einst die Grafen Egmont und Hoorn zum Tode verurtheilt wurden!
Nahe dabei sah ich auch „Le plus ancien bourgeois de Bruxelles“, wie ihn seine Landsleute nennen, den kleinen Manneken-Piß, den naivsten aller Springbrunnen, einen kleinen, auf einem Brunnen stehenden ehernen Cupido. Heute hatte der kleine Herr, des Festes wegen, seinen Gala-Anzug angelegt; er besitzt nämlich acht Anzüge, mit denen er an Festtagen bekleidet wird; jetzt war es die stattliche Uniform der Bürgergarde. Auch eigenes Vermögen besitzt er, aus Schenkungen herrührend; er hält sich einen eigenen Kammerdiener, der für seine Anzüge zu sorgen hat und, von der Stadt ernannt, zweihundert Franken Gehalt bezieht.
Am folgenden Tage – um in der Tagebuchform fortzufahren – folgten wir einer Einladung des „Cercle Artistique“ von Antwerpen, und wir hatten es nicht zu bereuen, diese alte Scheldestadt mit ihren mächtigen Bassins, ihrem Hafen, ihren vielen, zum Theil sehr großen Seeschiffen, die bis in die Stadt hineinfahren können, da Ebbe und Fluth bis hierher reichen, besucht zu haben. Um elf Uhr fuhren wir mit einem Zuge der Nordbahn ab, und wieder sah ich voll Verwunderung die große Fruchtbarkeit der Gegend, namentlich von Mecheln ab, wo nicht zwei Minuten vergingen, ohne daß wir zu unserer Seite eine Anzahl freundlicher und wohlhabend aussehender Häuser, theils vereinzelt, theils in ganzen Dörfern erblickten. Es war gegen zwölf Uhr, als wir in das berühmte, mit großen Bronzestatuen gezierte Festungsthor einfuhren. Im Cercle Artistique empfing uns der Präsident mit herzlicher Begrüßungsrede und dem Ehrentrunke nach guter alter Sitte; ein Frühstück wartete unser im Nebensaale. Dann vereinzelte sich die Gesellschaft; Viele blieben im Garten, wo ein Concert die Elite der Stadt versammelt hatte; ich suchte die wundervolle Kathedrale mit ihrem hundertdreiundzwanzig Meter hohen, wie in feinster Filigranarbeit ausgeführten Thurm auf.
Antwerpen ist so recht die Pflanzstätte der niederländischen Kunst; hier besteht noch eine Akademie, die aus der alten St. Lucas-Gilde entstanden ist; hier stehen die Standbilder der Rubens, Teniers, van Dyck und Anderer; hier ist die Hauptsammelstätte ihrer Werke; sie und andere Meister, wie Massys, Jordaens, de Crayer, Zeghers, Neefs etc., lebten und wirkten hier und hinterließen ihre Traditionen den Nachstrebenden, unter denen van Brée, Braekelaer, Wappers, de Keyser und namentlich Leys (der auch ein Denkmal erhalten) die bedeutendsten aus unserer Zeit sind. Jedes Mitglied der Lucas-Gilde ist verpflichtet, dem Museum ein Werk zu liefern.
In der Kathedrale bewunderte ich zuerst Rubens’ weltberühmtes Meisterwerk: „Die Kreuzesabnahme“; daneben Murillo’s „Sanct Franciscus“; am Hochaltar Rubens’ „Mariä Himmelfahrt“ – kurz diese Kirche ist gefüllt mit den herrlichsten Werken der Malerei und der Bildhauerkunst. Da übrigens gerade das Fest der Himmelfahrt Mariä begangen wurde, war das Standbild der Jungfrau besonders ausgestellt und geschmückt mit silberbrokatenem Mantel und goldener Krone, und die Kirche war so gefüllt von mächtigen Blumensträußen, welche Andächtige gebracht, daß selbst der Weihrauchgeruch vom Blumenduft überwunden wurde.
Antwerpen selbst ist streng katholisch, wie schon die vielen, an den Häusern angebrachten Marien- und Heiligenbilder zeigen, und dabei vorwiegend vlämisch, so sehr, daß nicht einmal die Droschkenkutscher französisch verstanden.
Als ich zum Cerele zurückgekehrt, statteten wir Alle gemeinsam dem Rathhaus einen Besuch ab, wo uns die städtischen Behörden empfangen und durch Beamte in den interessanten alten Zimmern und Sälen mit ihren vielen historischen Gemälden umherführen ließen; auch den weltberühmten Kamin im Bürgermeisterzimmer bewunderten wir; derselbe, aus Marmor, im Renaissancestil, zeigt in reicher Bildhauerarbeit „die Hochzeit zu Cana“, „die Aufrichtung der Schlange“, „die Kreuzigung“ und „das Opfer Abraham’s“.
Von hier aus besuchten wir eine andere Merkwürdigkeit Antwerpens, das „Musée Plantin“. Es ist dies ein ganz altes, in seinem Bau, seiner inneren Einrichtung getreu erhaltenes, sehr umfangreiches – Buchdruckerhaus. Die Firma wurde gleich nach Erfindung der Buchdruckerkunst von Plantin gegründet, dann von seinem Schwiegersohn Moretus fortgeführt, in dessen Familie das Haus bis vor Kurzem geblieben; der letzte Sproß hat es der Stadt billig verkauft, damit es als Ganzes erhalten bleibe. Hier sahen wir all die großen Säle, Gänge, Zimmerchen und Ecken, welche ein altes Bürgerhaus so wohnlich machten, noch in ihrer vollen, gediegenen Einrichtung, mit Gobelins- oder gepreßten Ledertapeten; in den Sälen reiche Sammlungen der herrlichsten alten Mönchsschriften mit ihren kunstvollen Initialen, Bilder, Münzen, die ältesten Druckwerke, auch die alten Typen, Pressen und Schriftgießereien, sowie Holzschnitte und Kupferstiche, theils auf den Platten, theils im Druck, eine riesige Bibliothek in altehrwürdigem, schweinsledernem Aussehen und auch Zimmer für die Correctoren, so bequem und praktisch eingerichtet, daß sich manche moderne Druckerei ein Muster daran nehmen könnte.
Dann ging ich zum Museum und staunte die Menge der auf brabantischem Boden entsprossenen Meisterwerke an; es ist nicht möglich, sie hier alle auch nur zu nennen; das Museum ist ja in der Kunstwelt bekannt genug; ich darf nur anführen, daß jeder der Heroen der Malerei und jeder namhafte Künstler des Landes hier in seinen besten Werken vertreten ist.
Endlich widmete ich dem Hafen einen Besuch, besichtigte die neuen im Bau begriffenen großen Docks, welche die Kleinigkeit [664] von 80 Millionen kosten sollen, die alten Bassins, die Quais mit ihren Lagerhäusern, die aus der Blüthezeit der Hansa stammen, und kehrte gegen sechs Uhr zum Cercle zurück, in dessen schönem Festsaal uns bis gegen neun Uhr ein solennes Diner versammelt hielt, das wieder durch vielfache Toaste und Tischreden gewürzt war.
Nachdem wir noch zur Abkühlung den schönen, festlich illuminirten Garten der „Harmonie“ (wiederum mit Empfang, Ansprache und Ehrentrunk!) besucht, kehrten wir um zehn Uhr nach Brüssel zurück.
[674] In Brüssel spielte sich am folgenden Tage die Hauptfeier der ganzen Jubiläumstage ab: das patriotische Fest, das Fest des Vaterlandes! Verzeihen Sie, wenn ich bei der Erinnerung etwas dithyrambisch werden sollte, es war zu unvergeßlich schön.
Das Fest fand im Garten der Ausstellung statt; auf allen Wegen strömte eine zahllose Menge festlich gekleideter Menschen, mit Cocarden und Schleifen geschmückt, dorthin. Die Straßen waren mit Fahnen decorirt. Hier der Friedensengel! Die Fahnen aller Nationen der Welt umgeben wie eine Strahlenkrone das Bild der Göttin; rechts und links die vergoldeten Medaillons Leopold's des Ersten und seines würdigen Sohnes und Nachfolgers. Weiterhin der zum Andenken an die großen Männer von 1830 errichtete Triumphbogen, sowie ein andrer, welcher der Verherrlichung der Künste, der Wissenschaft, der Industrie und des Ackerbaues gewidmet ist. Und immer weiter dringen wir vor inmitten dieser unendlichen Volksmenge, die das „Heute“ ganz vergessen zu haben und nur der Erinnerung an 1830 zu leben scheint. So finden wir der Reihe nach das Gedächtniß an die provisorische Regierung, an den Nationalcongreß, an Leopold den Ersten und an die Kämpfer des großen Jahres gefeiert.
Nunmehr gelangen wir, begleitet von Kanonensalven, die vom frühen Morgen an den hohen Tag begrüßt, zum Festplatz, den auf der einen Seite wohl an hunderttausend Zuschauer besetzt halten, während auf der anderen die reich drapirte königliche Tribüne strahlt; zwanzig andere Tribünen, rechts und links davon, sind für die geladenen Gäste bestimmt, und eine der besten gehört der Presse.
Nachdem der gewaltige Festzug sich geordnet und seine Plätze eingenommen, verkündete ein Kanonenschuß die Ankunft der königlichen Familie; die Musikcorps stimmen die Nationalhymne an, Alles erhebt sich – und plötzlich durchbraust der Ruf aus hunderttausend Kehlen die Luft: „Es lebe der König! Es lebe die Königin!“
Es war ein überwältigender Augenblick!
Sichtlich ergriffen nahm der König seinen Platz ein; um ihn reihten sich die Fahnen und Banner. Darauf trat der Senatspräsident heran, hielt eine Anrede und überreichte eine Adresse; ihm folgten der Präsident des Hauses der Abgeordneten und der Minister des Innern, der einen kurzen geschichtlichen Ueberblick der frühern Zeiten Belgiens, seiner Kämpfe gegen die Fremden, seiner Leiden gab und damit in begeisterten Worten die letzten fünfzig Jahre verglich, den Congreß und die provisorische Regierung um ihre Weisheit und Mäßigung preisend. Nach ihm sprach der Präsident des Cassationshofes, sowie der des Provinzialrathes, und zuletzt der Bürgermeister von Brüssel. Und dann antwortete der König in begeistert aufgenommener Rede, welche mit den Worten schloß: „Mein einziger Ehrgeiz ist, meinem Vaterlande zu dienen, wie ich es von ganzem Herzen und ganzer Seele liebe.“
Nun begannen die vorher erwähnten Körperschaften vorüberzuziehen an der königlichen Estrade, ein Zug, wie er wohl niemals vor den Augen eines Fürsten sich entfaltet hat: Zuerst fünf- bis sechstausend Vertreter aller Gemeinden Belgiens, dann die Freiheitskämpfer von 1830, vor denen alle Häupter sich entblößten und alle Hände Beifall klatschten; es folgten Hunderte von Gilden, Turn- und Sangesgenossenschaften und alle Deputationen der Bürgergarden und des Heeres.
Aber mitten in dieser Pracht, dieser Begeisterung dürfen wir zweier interessanter Momente nicht vergessen, die noch vor der Ankunft des Königs sich ereigneten. Seines hohen Alters wegen konnte Mr. Rogier nicht am Aufzuge theilnehmen; er kam allein an, auf den Arm eines Freundes gestützt – da drängte sich die ganze Masse der Umstehenden, Officiere, Würdenträger des Hofes, um ihn, die den König erwartete; man führte ihn zu seinem Ehrenplatze, und hier mußte sich dieser berühmte Staatsmann und Patriot sagen: das Volk ist doch dankbar und treu in seiner Liebe.
Und mit gleichem Jubel wurde der greise Abbé de Haerne empfangen (übrigens der einzige Geistliche, der am Feste Theil nahm!); sein edles Gesicht strahlte das Glück wieder, das er empfand, diesen Tag erlebt zu haben, nachdem er wie Rogier 1830 dieses Belgien gründen geholfen. Und als er neben Rogier seinen Ehrenplatz einnahm, weihte das Volk den beiden geliebten Veteranen neue, brausende Huldigungen.
Nach dem Vorbeizug ertönte, von großem Chor ausgeführt, die Festcantate, gedichtet von Hymans, componirt von Lassen, deren einzelne Verse und namentlich der Schluß:
Es stirbt kein Volk von freiem Sinn.
O Freiheit, unsre Führerin,
O Königthum, du Schirm und Wehr –
Ihr macht uns stark, nichts Andres mehr.
Frei Belgien, du sollst leben!
einen unendlichen Jubel und einen Beifallssturm hervorriefen, der endlich in der unwillkürlich aus den vielen Tausenden herausbrechenden Nationalhymne, der Brabançonne, gipfelte.
Und dann verließ die königliche Familie, nämlich der König, die Königin, die anmuthige Prinzessin Stephanie, der Graf von Flandern (der künftige Thronfolger) und dessen Kinder, den Festplatz, wieder geleitet von den Zurufen des Volkes, worauf die Massen sich verliefen – so schloß das patriotische Fest, das Fest des Vaterlandes, das Fest der fünfzigjährigen Freiheit.
Am folgenden Tage besuchte ich die internationale Ausstellung, die nichts eben besonders Hervorragendes enthielt, dann aber das Parlamentsgebäude, in dem namentlich der Senatssaal durch die von Gallait und den Bièfve gemalten lebensgroßen Bilder der belgischen Regenten sich auszeichnet, sowie die herrliche Kathedrale St. Gudula, die ihres edlen Baues, ihres in Holz geschnitzten Altars und ihrer kostbaren Glasmalereien wegen berühmt ist, auch den Justizpalast nahm ich in Augenschein, und endlich das Museum Wiertz. Ein wunderbares Museum, ganz den Werken eines einzigen, vor wenigen Jahren gestorbenen Künstlers gewidmet! Und diese Werke selbst! Bilder voll Kühnheit des Entwurfes, an Michel Angelo erinnernd, gewaltig gemalt, aber vielfach in erschreckend kolossalen Dimensionen – so ein Sturz der Dämonen, prachtvoll, aber einige sechszig Fuß hoch! – und dabei zum Theil grausig, abstoßend, in Entsetzen schwelgend und philosophisch gedacht, sodaß man oft sagen muß: welche Verirrung eines kühnen Geistes und eines großen Künstlers!
Abends war die ganze Stadt strahlend und großartig illuminirt, wenig mit den kalten Gasflammen, desto mehr mit bunten Lampions, farbigen Lämpchen, chinesischen Ballons etc., aber wunderbarer Weise sah man nirgends Transparente, Bilder, Sprüche. Besonders schön war der Park, dem Palaste des Königs gegenüber, mit seinen Ehrenpforten für Leopold den Ersten und Zweiten, für den Congreß etc., erleuchtet. Man sah nirgends Polizei, und doch herrschte überall die größte Ruhe und Ordnung. In mancher deutschen Stadt wäre das undenkbar.
Die vergangenen Zeiten tauchten feenhaft vor unseren Augen auf, als am nächsten Festtage die historische Cavalcade sich vor unsern Augen entfaltete, getreu und zugleich künstlerisch schön, ein lebendes Bild nach dem andern bietend.
Zuerst die alte vlamländische Standarte; dann zehn berittene Trompeter mit reichen Wappenschildern, kriegerische Fanfaren blasend; sie trugen das Costüm des dreizehnten Jahrhunderts. Das vierzehnte Jahrhundert schließt sich an: Ritter und Pferd in glänzendem Waffenschmuck; die Wappen ihrer Gemeinden sind nicht auf ihre Schultern gestickt, aber in ihrer Fahne glänzen sie. Die Leiber stecken in reichen Tuchtuniken, mit dem Stahlhelm auf dem Haupte, zur Seite das mächtige Schlachtschwert.
Es folgen vierzig Reiter, die alten belgischen Gemeinden darstellend, das Banner mit dem Wappen jeder Stadt in der Hand; ihre vier Gruppen stellen das dreizehnte, vierzehnte, fünfzehnte und sechszehnte Jahrhundert dar. Bei den Rittern des fünfzehnten Säculums ändert sich die Tracht; sie wird fast ganz eisern; nur unter ihrem Harnisch tragen die Mannen ein Gewand von Tuch, und auf der Brust das Wappen ihrer Gemeinde, deren Farben auch die Schabracken ihrer geharnischten Pferde zeigen. Reicher gekleidet, mit sammetnen, goldgestickten Gewändern und wallenden Federbüschen erscheinen die Vertreter des sechszehnten Jahrhunderts. Nun ein Herold, zwölf Trompeter in weißen, rothen, violetten Gewändern, mit Schnabelschuhen; eine zahlreiche Truppe Bewaffneter; ein Sängerchor in weißer Tunika mit Löwenköpfen [675] geziert, an ledernem Gürtel einen stählernen Dolch tragend – die historischen „Klauwärts“. Hierauf die Fahnenträger der beiden berühmten Genossenschaften der communalen Kämpfe, der von St. Georg und der von St. Sebastian, Jener im Scharlachgewand mit goldenem Kreuz auf der Brust, der Zweite blau mit rothem Kreuz. Dann ihre Trompeter mit dem großen Capuchonmantel, und hiernach die tapferen Bürger in weißen, blau gestreiften Gewändern, die Helme mit der Nackenberge auf dem Haupt und in den Händen den schrecklichen „Goedendag“, ihr Schwert. Nun folgen, in der Tracht der Gewerke der Zeit, die Bannerträger der vereinigten Gilden von Gent, Brügge und Lüttich, auf diese die Banner der Corporationen und hierauf fünf stattliche Ritter, deren Standarten die Bilder der fünf tapferen Bürger zeigen, welche die Macht der fremden Fürsten gebrochen: Jacob und Philipp von Artevelde, de T’Jerclaes, de Breydel und de Coninck. Ihnen folgt der „Wagen der Gemeinden“, majestätisch gezogen von zehn kräftigen Pferden, die von geharnischten Kriegern geführt werden; der Wagen trägt einen der alten Wachtthürme der Zeit mit seinen Schießscharten und seinen Thürmchen; zu seinen Füßen lagern Löwen, von seinen Zinnen wehen die Standarten.
Jetzt naht sich die Epoche der Provinzen. Zinkenbläser ziehen voran, hinter ihnen siebenzehn Amazonen, die siebenzehn unter dem Hause Burgund vereinigten Provinzen darstellend, beritten, in Gewänder von Sammet, Goldstoff, Seide und Hermelin gekleidet, goldene Kränze auf dem Haupte, die Wappen ihrer respectiven Provinzen auf der Brust. Dann zahlreiche Schaaren von Trompetern, Paukenschlägern, Sängern in der Tracht des fünfzehnten Jahrhunderts; Armbrustschützen; Ritter, auf den Fahnen die Portraits berühmter Belgier. Endlich Philipp der Gute mit seinem Hofe und den Rittern des von ihm gestifteten Ordens des goldenen Vließes.
Wir treten in das Zeitalter der Maria Theresia ein, deren Andenken noch jetzt in Belgien geehrt wird; Pfeifer, Trommler erscheinen, in weißen Uniformen mit der Zopfperrücke und dem goldbordirten Dreimaster, nach ihnen die Geistlichkeit im priesterlichen Gewande, der Adel im goldgestickten Kleide, der dritte Stand in bürgerlicher Tracht, dann zu Pferde der Träger der österreichischen Fahne im blauen, silbergestickten Gewande, in rothseidenen Strümpfen und Schuhen mit goldenen Schnallen. Reichgekleidete Pagen gehen der Kaiserin voran, die in goldbrokatenem Kleide, den Kaisermantel um die Schultern, das kaiserliche Diadem auf dem Haupte, den Scepter in der Hand, hoch zu Roß unter einem Baldachin einherreitet, hinter sich kaiserliche Dragoner in weißer Uniform.
Nun kommen wir zur neueren Zeit, zu Leopold dem Ersten und dem Ruhm und dem Glück Belgiens. Ein Waffenherold eröffnet den Zug; mit ihm ein Musikcorps in der Tracht der berühmten Kosaken der Maas; eine Schaar Patrioten kommt zu Fuße im Costüm von 1830, und dann auf einem großen Wagen das kolossale vergoldete Standbild Leopold’s des Ersten, dem ein Genius einen Kranz auf das Haupt setzt.
Die Chasseurs von Chasteleer, die unsterbliche Phalanx von 1830, folgen in ihren historischen blauen Blousen mit der dreifarbigen Schärpe, am Hute grüne Federn.
Dann naht der Ackerbau, vor sich ein berittenes bäuerliches Musikcorps. Reiter in grüner Seide mit Silberstickerei, einen Lorbeerkranz um den grünen Filzhut, stellen die Acker- und Gartenbauschulen des Staates vor; die Repräsentanten der Botanik und der Forstwissenschaft, des Gemüsebaues, der Viehzucht erscheinen in passenden Anzügen; von kräftigen, derben vlämischen Bauern und Bäuerinnen im Nationalcostüm umgeben, von vierundzwanzig Rindern gezogen, von Hirten in Schaffellen geleitet, folgt der Wagen des Ackerbaues, die Statue der Ceres tragend.
Acht Pferde ziehen den Wagen der Brauerei; auf einem mächtigen Fasse thront König Gambrinus, einen gewaltigen schäumenden Krug in der Hand. Das darauf folgende Musikcorps spielt natürlich das belgische – Bierlied.
Bergknappen, musicirend, gehen dem Wagen der Industrie voran; ihre Fahne trägt ein überaus reich gekleideter Ritter, im Gewande von goldgesticktem und mit Spitzen besetztem Sammet, Helm und Panzer von Silber und mit Edelsteinen besetzt. Sechs allegorische Reiter verkörpern die Zink-, Schmiede-, Glas-, Steinbruch- und Minen-Industrie. Der Wagen selbst, auf dem, hochoben auf dem Amboß, die Göttin des Fleißes thront, ist mit allen Insignien der Gewerbthätigkeit geschmückt und von Bannerträgern umgeben.
Reich costümirte Truppen folgen diesem bis zu dem weithin strahlenden Wagen der Waffenschmiede von Lüttich; derselbe zeigt vorn eine Statue, welche diese Stadt vorstellt, an den vier Ecken Kanonen; der Aufbau selbst ist eine zu schönen Trophäen zusammengestellte Sammlung von blitzenden Waffen und ganzen Rüstungen.
Wagen auf Wagen folgt. Zunächst derjenige der Glasfabrikation; dann, nach Reitern, welche die Seemannsschulen von Antwerpen und Ostende vertreten, der Wagen des Handels und der Schifffahrt, ein mächtiges Schiff darstellend mit vollen Segeln und aller Takelage, mit Matrosen und Mannschaft. Gleich dahinter, wieder unter passender Begleitung von bezüglichen Arbeitern, der Wagen der Eisenbahnen, mit vier dampfenden Locomotiven nach allen Himmelsgegenden, in seinem Gefolge die Schaaren, welche die Post und die Telegraphie darstellen.
Ein herrlicher Wagen, ein wahrer Triumphwagen, folgt: der der Künste und Wissenschaften; obenauf das ganz vergoldete Standbild Rubens’, rings allerlei Embleme; hinten ein Triton mit seiner Muschel und Verkörperungen der Conservatorien und Akademien, welche auf Goldgrund die Bilder der bedeutendsten belgischen Künstler und Schriftsteller zeigen.
Dem Wagen der Presse gehen Bannerträger mit den Portraits von Thierry, Maertens und Plantin, den alten berühmten Druckern, voran; eine brennende Fackel ist an der Vorderseite des Wagens angebracht; die Rückseite ziert ein fackelschwingender Engel, obenauf steht eine wirkliche Handpresse, die während der Fahrt arbeitet und von der aus fortwährend kleine Gedichte, frisch gedruckt, in’s Publicum geworfen werden. Und ganz oben über dem Geräth, auf einem Globus, der Genius der Presse.
Nun endlich der letzte Wagen, derjenige der belgischen Freiheit selbst. Neun Gruppen, die einzelnen Provinzen bedeutend, voran; dann der gewaltige Aufbau. Vorn ein Genius, der mit ausgebreiteten Flügeln eine Krone über die Medaillons Leopold’s des Ersten und Zweiten hält; in der Mitte das Vaterland, Kränze vertheilend und die gebändigten Löwen zu den Füßen, und hochoben eine herrliche, reichgekleidete Frau, Belgien selbst, welche die Zügel in der Hand hält.
Das ist die leider unvollständige Beschreibung des Festzuges, zu dem 2500 Menschen und 1500 Pferde gebraucht wurden, und der in seiner Präcision und vor Allem in seiner wahrhaft künstlerischen Gestaltung von unvergleichlicher Wirkung war. –
Am folgenden Nachmittag fand im Rathhause das Fest der Municipalitäten statt, das heißt das Banket, welches die Stadt den fremden Magistraten gab, und hieran schloß sich ein Concert auf dem Platze vor diesem Hause. Derselbe war wieder strahlend hell illuminirt, diesmal mit lauter Gasflämmchen, welche die barocken Formen der umstehenden Gildhäuser prächtig hervortreten ließen, während elektrische und bengalische Flammen den Thurm des Rathhauses mit seinen Flaggen phantastisch beleuchteten. Einen eigenen Eindruck machte es, als uns gegenüber plötzlich aus einem Fenster ein mächtiger Lichtstrahl hervordrang, und zwar aus demselben Fenster, durch welches die Grafen Egmont und Hoorn zum Schaffot hinausgestiegen waren. Das Concert bestand übrigens aus Vocal- und Instrumental-Musik, der die Tausende, welche auf dem Platze sich zusammengedrängt, in athemloser Ruhe lauschten. Unterbrochen wurde dieselbe nur durch begeisterte Zurufe, als Mr. Rogier das Haus verließ; die Damen reichten ihm Bouquets und die Masse drängte sich so um ihn, daß dem alten Herrn ein Geleit gegeben werden mußte.
Der folgende Tag brachte uns zwei Einladungen; zuerst nach Séraing zur Besichtigung der gewaltigen Cockerill’schen Maschinenbau-Anstalt. Wir fuhren mit der Bahn bis zur betreffenden Station, wo uns die Privatsalonwagen des Etablissements aufnahmen und auf interessantem Wege an vielen Werkstätten vorbei zum Schlosse führten.
Hier empfing uns der Generaldirector, Mr. Samoine, und nach einem reich ausgestatteten Gabelfrühstück führte uns derselbe durch die Fabrikanlagen. Die sind nun allerdings die größten des Festlandes, 9000 Arbeiter sind hier beschäftigt. Als Herr Cockerill im Jahre 1817 die Fabrik gründete, lebten hier etwa 1900 Seelen kümmerlich, jetzt leben ihrer 50,000, und zwar gut! Das riesige Etablissement wäre wohl einer eigenen, eingehenden Besprechung werth; hier gebricht mir zu Mehrerem der Raum.
[676] Nach der Rückkehr zum Schloß bestiegen wir einen bereit liegenden Dampfer, um der zweiten Einladung, derjenigen der Stadt Lüttich, zu folgen. Die reizenden, malerischen Ufer der Maas fuhren wir entlang und legten dann an der Lütticher Landungsbrücke an, wo uns der Bürgermeister mit einer Anrede empfing, in der er unter Anderem sagte: „Drei Dinge sind es, welche das fröhliche Volk von Lüttich liebt, die Arbeit, den Gesang und das Lesen. Letzteren Genuß bereite ihm die Presse, und darum heiße er uns gern im Namen der dankbaren Einwohner willkommen.“ In bereit gehaltenen Equipagen fahren wir dann, unter Leitung des Bürgermeisters, durch diese alte, jetzt zum großen Theil im Neubau begriffene Stadt, sahen vor dem Theater das Standbild Grétry’s, des berühmten Componisten, der hier geboren, und begaben uns dann zum Rathhaus, das zu unserem Empfange festlich geschmückt war und wo ein opulentes Diner unser wartete. Ein im Nebenzimmer abgestelltes Musikcorps spielte indeß die Nationalhymnen aller hier vertretenen Nationen, und es machte einen feierlichen Eindruck, wenn stets die Angehörigen des betreffenden Landes sich erhoben und stehend ihre Heimathshymne anhörten, worauf Alle lebhaft applaudirten.
Als das Diner beendet (gegen neun Uhr), führten die Equipagen uns zum Bahnhof, und wir schieden.
Ich aber nahm zugleich Abschied von den Jubiläumsfestlichkeiten, die im Ganzen auch nun beendet waren. Zwar hatten uns die Städte Dinant und Namur noch eingeladen, und Antwerpen veranstaltete noch ein venetianisches Nachtfest, das, wie Theilnehmer berichten, ganz wunderbar gewesen sein soll; ich aber hatte genug gesehen und genossen; ich wollte mir den Eindruck frisch bewahren. Und so sagte ich denn meinen mir lieb gewordenen Collegen aus allen Himmelsgegenden Lebewohl und fuhr heim, mit mir nehmend die Erinnerung an eine große, herrliche Zeit, die ich verlebt, an ein freies, glückliches Volk, das ich gesehen, an viele prächtige Menschen, die ich kennen gelernt, das Gefühl des Dankes gegen Diejenigen, die uns so viel Schönes und Liebes geboten.
Gott segne Belgien und erhalte ihm sein Glück, seine Freiheit!