Auch ein Oberpräsident
Wer vor etwa 30 bis 40 Jahren durch die Berge, Thäler und Ebenen Westphalens reiste, erinnert sich wohl, einer merkwürdigen Persönlichkeit begegnet zu sein. Es war ein alter, kleiner Mann im blauen Leinwandkittel, wie ihn der gewöhnliche Westphale trägt, eine blaue preußische Dienstmütze, mit rotem Streif und schwarz-weißer Cokarde, bedeckte das graue, dichthaarige Haupt. Bekleidet war er gewöhnlich mit hellen Beinkleidern oder landesüblichen Gamaschen; den Stock in der Hand, die qualmende kurze
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Pfeife mit silberbeschlagenem Masernkopf im Munde, so schritt er
rasch daher. Ein rundliches Gesicht, mit etwas kurzer, aufgestülpter
Nase zeigte auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, doch blickten
bei längerm Ansehen die Augen lebendig, scharf und gescheidt genug
umher. Der geschlossene Mund mit etwas aufgeworfener Unterlippe
verrieth Wohlwollen, aber auch entschiedene Energie und
kluges Selbstbewußtsein; die ganze Figur, Gang und Bewegung
machte den Eindruck des Leichtbeweglichen, der raschen Entschiedenheit,
der lebendigen Theilnahme an Allem, was um ihn her lebte,
webte und vorging. Wem dieser Mann im blauen Kittel auf
Chausseen, Feld- und Waldpfaden begegnete, konnte den Unbekannten
leicht für einen westphälischen Bauer, für einen ländlichen Beamten
[230] oder so etwas halten, denn er trug nicht selten die Embleme des
Dienstes, ein Actenstück oder eine Ledermappe mit Skripturen in der
Tasche oder unter dem Arme mit sich herum, ohne daß man wundersviel
dahinter suchen mochte.
Aber den nämlichen Mann mit Dienstmütze und blauem Kittel sah man, wie er raschen Schrittes über die Straße der Stadt eilte, gefolgt von allerhand dienstbeflissenen, schwarzbefrackten Herren in Hüten, denen man es ansah, daß ihnen der kleine blaue Domino keineswegs gleichgültig war.
Noch mehr. Wenn Wege und Straßen im Festschmucke prangten, wenn die bewimpelten Häuser und die Glocken der Thürme der wogenden Volksmasse den Einzug des Thronfolgers oder Königs verkündeten, wenn der Sechsspänner heranstürmte und der Monarch im grauen Soldatenmantel freundlich grüßte: dann saß gar oft neben ihm der Mann mit dem klugen Gesicht und dem nämlichen blauen Kittel, in welchem man ihm draußen in Flur und Wald begegnete. Auch die Pfeife war selbst neben dem Landesfürsten nicht vergessen.
Dieser Mann war kein Anderer, als Freiherr Ludwig von Vincke, der Oberpräsident von Westphalen.
Werfen wir, ehe wir zur Schilderung des Mannes übergehen, einen Blick auf dieses Westphalen und seine Bewohner.
Bekanntlich scheidet sich Westphalen in zwei sehr verschiedene Landschafts- und Bevölkerungsmassen: in das Flachland, welches sich von der Egge und dem Haarstrang, im Nordosten vom Teutoburger Waldgebirge begrenzt, gegen Westen nach Holland, Hannover und Oldenburg zu jenen unabsehbaren Haideflächen und Torfmooren ausbreitet, und in die gebirgigen Landestheile, südlich vom Haarstrang und der Egge, das Paderbornerland, Sauer- und Siegerland, die Grafschaften Ravensberg und Mark.
In dem einsamen Sand-, Moor- und Haidelande nun, in jenem Baum- und Buschgrün, jenem tiefen Frieden, wo jedes Bauernhaus wie im Haine vergraben liegt, wohnt ein sehr merkwürdiger Menschenschlag. Er ist je nach den verschiedenen Landstrichen verschieden, ohne seine specifisch zusammengehörigen Seiten zu verleugnen. Der Westphale zeigt im Ganzen einen starken, kräftigen Wuchs, er liefert ausgezeichnete Beiträge zum Gardecorps nach Berlin, ist breitschultrig und hübsch gewachsen, sein Naturell seinem Boden angemessen. Hager und sehnig mit scharfen, schlauen, tiefgebräunten, vor der Zeit von Mühsal und Leidenschaft durchfurchten Zügen, die Frauen voll früher, üppiger Blüthe, aber mit eben so frühem, zigeunerhaftem Alter, so begegnet Dir das Paderborner Volk. Hier findest Du die rauchigsten und dachlückigsten Hütten, die ärmlichsten Heerdstellen, die ärgste Noth neben dem frömmsten Aberglauben, der tollsten Gespensterfurcht, neben Hexenglauben und sympathetischen Curen. Der Name „grober Paderborner“ begegnet Dir durch ganz Westphalen. Die Einwohnerschaft des Hochlands, der lieblichen, gewerblichen Flußthäler, praktische Köpfe, ein gemachtes schlaues Handelsvolk zeigt gefälligere Formen, aber Allen wohnt eine gewisse Zurückhaltung gegen fremde Lebensformen, ein ernstes, gegen freundliche Ironie stutziges Wesen bei, das überhaupt den Westphalen andern Deutschen gegenüber charakterisirt. Er stemmt sich gern mit der ganzen Zähigkeit seiner Volksnatur gegen das Neue, besonders wenn es ihm durch irgend eine Gewalt aufgedrungen wird. Dieser Sinn ist so alt wie die westphälischen Eichen. Karl der Große brauchte dreißig Jahre unaufhörlichen Kampfes, um die Freiheit in Westphalen zu brechen, und erhoben sich nicht früher noch auf westphälischem Boden die Schaaren, welche die Römerherrschaft abschüttelten? Westphalen war es, wo die communistische radikalste Reaction gegen den Bestand kirchlicher, staatlicher und socialer Zustände empor wuchs, die wir die Unruhen der Wiedertäufer nennen.
Vor allen Westphalen ist der Bewohner des Münsterlandes eine interessante Erscheinung, ein Rest eines absonderlichen Wesens, welches in unsern Tagen, in welchen sich alles Menschliche abschleift und nivellirt, einen höchst pikanten Originalitätsreiz gewährt. Nach uralter Sage gelangten einmal der Herr und sein Jünger St. Peter nach Westphalen, das sie mit Eichenwäldern bedeckt und nur von Schweinen bewohnt fanden. Petrus drang in den Herrn, diese Einsamkeit auch mit Menschen zu bevölkern; Christus schüttelte das Haupt, als aber der Jünger nicht abließ, versetzte er: „Nun, ich will Deinen Wunsch gewähren, aber Du wirst sehen, was daraus entsteht!“ Darauf stößt der Herr einen von den Schweinen zurückgelassenen unästhetischen Gegenstand, der vor ihm lag, mit dem Fuße an und sprach: „Werde ein Mensch.“ Alsobald erhebt sich ein trotziger, starker Kerl von der Erde und fährt den Herrn mit den Worten an: „Wat stött he mie?“ (Was stößt er mich?) Das war der erste Westphale, dessen Nachkommen dann der Sympathie für Schweinefleisch so treu blieben, daß der Maler auf dem Fenstergemälde in der Wiesenkirche zu Soest das Osterlamm beim Abendmahl in einen Schinken verwandelt hat. Sollen wir uns hiernach wundern, daß der berühmte Gelehrte Justus Lipsius seine in Westphalen geschriebenen Briefe „aus der Barbarei bei den Breifressern“ datirte, daß Voltaire’s „Candide“ so manchen Unglimpf über das Land schleuderte? Jedenfalls hat der Racencharakter hier seinen Typus bewahrt. Es ist dies vorzugsweise die feste, knorrige Eichenholznatur, die ererbte Sitten und Anschauungen festhält, einen religiösen Sinn nährt, gute Hauswirthe und tüchtige Soldaten giebt, daneben aber nicht ohne Fanatismus, Härte, Eigensinn ist. Dieser Starrsinn hat bei dem Bauer die gute Folge, daß er seinen Besitz erhält. Vergeblich würde man einem rechten westphälischen Hofbesitzer für ein zum Bestande seines Colonats gehöriges Grundstück das Zwanzigfache des Werths bieten: „davon bruk wie nich to küren!“ wäre die Antwort. Man ist schwer von Begriff, ohne eigentliches Wohlwollen, mißtrauisch, unzugänglich für die Macht der Form, ohne Schwung und Enthusiasmus, der „sich gern in’s Allgemeine taucht, gern mit dem vollen Strom des Lebens geht.“ Irgendwelches Organ von Idealismus besitzt der Münsterländer nicht. Villen, schöne Gartenanlagen und Parks finden wir auch neben den Schlössern des Adels nicht, diese zeigen eine eben so eigenthümliche Schmucklosigkeit, wie die ländlichen Friedhöfe.
Der am prägnantesten ausgebildete Theil westphälischen Stammes ist aber seine aristokratische Genossenschaft. Der Adel Westphalens hat auf die Geschichte des Landes einen imposanten Einfluß geübt, seine Vergangenheit zeigt eine Reihe von eigenthümlichen Kernnaturen von viel absonderlichen, viel abstoßenden Eigenschaften, aber in Allen ist tüchtige zähe Kraft; es sind praktische realistische Menschen, hart, unbeugsam, in alter Zeit vornehmlich, zu Zorn und Gewaltthat geneigt, sie haben einen starken Unabhängigkeitssinn. Wer Originale des frühern westphälischen Adels kennen lernen will, der lese die sorgfältig und geistvoll von Levin Schücking gezeichneten „Westphälischen Charaktere“. Gestalten, wie Rudolph v. Langen, Hermann v. Busch, Ferdinand v. Fürstenberg, drei historisch bedeutende Charaktere auf dem Gebiete der Wissenschaft, wandeln an ihm vorüber. Kriegshelden, wie Bernhard v. Horstmar im 13. und vor allen Walter v. Plettenberg, der „Bombenfürst“ genannt, Heermeister des deutschen Ordens, am Ende des 15. Jahrhunderts, einer der Helden, welche im deutschen Pantheon, der Walhalla, einen ehrenvollen Platz gefunden haben; ferner die derbste und schroffste Adelsnatur, Christoph Bernhard v. Galen, Fürstbischof und Schlachtenheld zugleich, der das Schwert gegen die Generalstaaten, Holland, Frankreich, Kurbrandenburg, Dänemark und die Türken schwingt, schließen sich an. Wer kennt ferner nicht den Staatsmann, Minister v. Fürstenberg, seit 1763 an der Spitze des Münsterlandes, wie er mit genialer Schöpferkraft im Sinne der neuen Humanitätsideen des Jahrhunderts wirkt, einen geistreichen Kreis, repräsentirt durch die Fürsten Galyzin, Hamann, Jacobi, Hemsterhuys, Stollberg und Goethe, dem verrotteten Münster näher bringt? Er war eine echt westphälische, gegen alle Form gleichgültige Natur, klein im grauleinenen Kittel und Lederkäppchen, reitend auf einem kleinen Pferde, und so zerstreut, daß er den Namen seines Lieblingsrößleins statt seines eignen Namens unter eine Verordnung schrieb, ein genialer Abenteurer, dessen Sonderlingseigenschaften wie ein vererbtes Stammgut durch mehrere Generationen hindurchgehen. Die letzte mächtige Verkörperung westphälischer Stamm- und Raceeigenschaften trat 1837 auf die Schaubühne europäischer Ereignisse und stellt jene Eigenschaften in der ausgeprägtesten Vollendung dar. Es ist der Erzbischof Freiherr v. Droste zu Vischering. Wir werden seine nähere Bekanntschaft machen.
Die meisten adeligen Excentricitäten sind von der Cultur, „die alle Welt beleckt“, beseitigt, der Adel hält sich nach dem Umschwung aller seiner Verhältnisse mit vornehmer Resignation und in ruhiger Zurückgezogenheit auf seinen Gütern, bringt einige Zeit des Jahres in seinen stattlichen Hotels entre cour et jardin in Münster zu, wo er eine streng abgesonderte Gesellschaft bildet, trägt ererbte Schulden ab, vergrößert seine Besitzungen, wird täglich reicher, sorgt für strengkirchliche Erziehung seiner Kinder und beschränkt [231] seine Theilnahme am geistigen Leben der Nation auf Unterstützung des religiösen Vereinswesens.
Der würdigste aller adeligen Männer dieses Landes ist aber der Mann, zu dessen Bilde wir nun zurückkehren. Auch ohne nach Westphalen einen Fuß gesetzt zu haben, kannte zu der Zeit vor 30–40 Jahren jeder gebildete Preuße den Namen des Oberpräsidenten dieser Provinz, jene mit dem gewaltigen v. Stein verschwisterte Natur. Vinckes Persönlichkeit, seine großartige, volksthümliche Wirksamkeit war nirgends ein Geheimniß; man war auf ihn gespannt nicht nur als auf eine individuelle Besonderheit, man hatte sich gewöhnt, ihn als die Spitze, als den hervorragendsten Ausdruck einer großen Stammes-Gesammteit zu sehen, zu verehren und zu lieben. Zwar konnte auch dieser Staatsmann, welcher auf das Wohl und die Hebung Westphalens mit eminenter Thätigkeit eingewirkt hat, so wenig, als sein großer Zeitgenosse und Freund, der Minister v. Stein, nicht mit gleichen Augen von den heterogenen Bestandtheilen seines Wirkungskreises betrachtet werden; auch er, dessen nur auf das Wahre und Gute gerichtete Thätigkeit die verschiedensten Interessen durchkreuzte, rief die entgegengesetztesten Gefühle der Liebe und des Mißwollens, der Bewunderung oder der Scheelsucht hervor, aber sein Charakter, Geist, seine Stellung und Arbeit sichern ihm das dankbare Andenken nicht nur seiner nähern Landsleute, sondern namentlich in unsern Tagen aller bravgesinnten Deutschen. Es ist nicht die Absicht, sein Leben chronologisch zu schildern. Das hat Mancher schon, wenn auch fragmentarisch, gethan. Ein Bild des „alten Vincke“ wollen wir zu zeichnen versuchen, in welchem sich der Mensch, der Westphale und der Geschäftsbeamte, speciell der Vorgesetzte der Provinz in seiner so großartigen, als liebenswürdigen Eigenthümlichkeit abspiegele.
Ein ganz kurzer Blick auf seinen Lebensgang ist gleichwohl nicht zu umgehen.
Vincke tritt in einem Lebensalter in die höhern Kreise der öffentlichen Thätigkeit, wo unsere heutige Beamtenjugend kaum das erste Stadium der Vorbereitung betritt. Er ist zu Minden geboren und gehört einer alten in Minden, Ravensberg und Osnabrück begüterten Familie an, der begabte Sprößling eines an Bildung und Ehren reich gesegneten Hauses, eines Vaters, der vom großen Preußenkönige bewundert, in den preußischen Dienst gezogen sich rühmen durfte, daß Friedrich II., so oft er nach Minden kam, bei ihm wohnte. Der frühzeitig für Recht und Freiheit, namentlich die nordamerikanische, glühende Sohn giebt die gewünschte Seemannscarrière auf, wird einer der musterhaftesten und dankbarsten Zöglinge des Pädagogiums in Halle und seines Dirigenten, des alten Kanzlers Niemeyer, und bezieht die Universitäten Marburg, Erlangen, Göttingen. Seine äußere Erscheinung war unbedeutend. Klein und jugendlichen Aussehens wurde er später, schon 30 Jahre alt und Präsident, für einen Knaben angesehen. „Sü es, was dat Jüngesken sick krus mäket,“ sagte eine münsterländische Bauerfrau, als der ihr unbekannte Präsident über ihre Zögerung, einen Schlagbaum aufzuschließen, sich ereiferte.
Die große Krisis des öffentlichen Lebens, in welche seine akademische Bildung fällt, konnte auf den feurigen Sinn Vincke’s nicht ohne Einfluß bleiben; wir erfahren, weß Geistes Kind in politischer Hinsicht schon der Student war. „Kann ich,“ so schrieb er damals in Beziehung auf das Wöllner’sche Religionsedict (1788), „meinem Vaterlande in einem öffentlichen Amte nicht dienen, ohne vorher Heuchler, Schleicher, Intrigant und Schmeichler zu werden, so begabe ich mich zurück.“ In Vincke’s Studentenzeit (1792–1795) treten die Wirkungen der französischen Revolution sichtbar über die Grenzen Frankreichs auch in Deutschland heraus. Schauseite und Kehrseite der großen Welterschütterung kommen zur Anschauung; der Kriegsschauplatz rückt Vincke sehr nahe, der Kanonendonner von Mainz, Frankfurt und von der Lahn dröhnen bis Marburg hinaus. Werden wir uns wundern, wenn wir auch unsern jungen Freund von frühreifem Verstande, größter Lebhaftigkeit und dem wärmsten Herzen voll den Ideen ergriffen finden, welche keinen denkenden Menschen damals unberührt ließen? Schon damals erklärte er sich gegen jede Absonderung der verschiedenen Schichten der Bevölkerung, gegen den Kastengeist des Junkerthums, gegen Rangverhältnisse und Titelsucht, stimmte laut und eifrig ein in das Lob der Oeffentlichkeit und Freiheit, und erklärte sich gegen Steuerfreiheit des Adels und des Clerus.
Kaum 24 Jahre alt tritt v. Vincke nach glänzend bestandenen juristischen und cameralistischen Prüfungen in den preußischen Staatsdienst, und hier ist das Feld, wo seine treffliche Natur sich in ihrer ganzen Verdienstlichkeit und Originalität von den Vorstufen des öffentlichen Beamtenthums bis in die höchsten Stellungen hinein zu entfalten beginnt. Auf diesem Gebiete wollen wir ihn nun begleiten.
Was war es doch, das dem preußischen Beamtenthum gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, also zur Zeit der öffentlichen Thätigkeit Vincke’s, eine so eigenthümliche, achtungsvolle Anerkennung verschaffte? – Seit der Revolution bis 1806 war das von Friedrich II. zurückgelassene kleine Königreich schnell emporgewachsen. Seine Adler schwebten über die Länder der alten Sachsen bis zur Nordsee, über das Maingebiet und das Herz Thüringens, sie beherrschten die Elbmündung, umkreisten Böhmen von zwei Seiten. Preußens Scepter reichte bis tief in das Weichselthal und bis zur alten Polenhauptstadt. Aber mit dieser Größe stand die innere bildende Kraft nicht im Verhältniß. Alle Vergrößerung des Ländergebiets war nicht durch eine starke innere Triebkraft gemacht, sie war die Frucht ruhmloser Feldzüge, aufgedrängt von übermächtigen Feinden, ohne Autorität und innere Festigkeit. Verhängnißvoll war es besonders, daß der letzte Regulator fehlte, welcher unablässig und ehrlich die Regierung begleitet, den Wünschen des Volkes Ausdruck giebt, die öffentliche Meinung. Die Presse war bevormundet, gelegentliche Flugschriften gewaltthätig unterdrückt. König Friedrich Wilhelm III., ein Herr von strenger Rechtlichkeit und maßvollstem Sinne, empfand, daß in der alten absolutistischen Weise des großen Königs fortzuregieren ihm unmöglich sei. Friedrich hatte bei allem Geist das Ganze doch nur durch die Eigenmacht seines Willens, als der letzten Instanz, zusammengehalten. Er hatte das wagen können. Unter seinen Nachfolgern mußte die Controle des Regierungsbeamtenthums in den Beamten selbst gesucht werden. Hiermit begann in Preußen die Herrschaft der Büreaukratie. Mit ihr wuchs die Zahl der Aemter, Behörden, Zwischenbehörden. Aus dem Bestreben, die Starrheit der alten Zeit gerecht, gründlich und human umzubilden, wuchs Weitläuftigkeit und Actenschreiberei hervor. Die Eigenmächtigkeit des alten monarchischen Regiments ging nun in die Willkür der Beamten über, gegen die es beim Mangel einer freien Presse keine Rettung gab. Aber außer der Kraft und Opferfähigkeit, welche trotzdem im Volke selbst einer großen Zeit entgegenschlummerte, ward auch in der Beamtenwelt Preußens ein neues und hoffnungsreiches Leben sichtbar. Die ehrliche Arbeit, Intelligenz und Rüstigkeit desn Willens einzelner Höhergestellten erfüllt mit hoher Achtung im Vergleich mit dem spätern französischen Beamtenwesen; das Personal der Obergerichte und der höhern Verwaltung umschloß in der Regel die Blüthe der preußischen Intelligenz, ja es concentrirte sich hier die stärkste Kraft des Bürgerthums, die höchste Bildung des Adels. Das waren seit den alten Coccei, Carmer u. A. geschulte, gescheidte, redliche, feste Männer von großartiger Arbeitskraft, stolzem Patriotismus, von Unabhängigkeit des Charakters, welcher sich in der Handhabung des Rechts noch durch keine Ministerialrescripte beirren ließ. Sie stammten zum Theil aus Bürgerhäusern, aber auch der bessere Theil der Adelsfamilien schloß sich an. Es ist eine Freude, in jener Zeit des Schwankens den Blick auf die stille Arbeit dieser Männer zu richten. Sie haben als oberste Richter und Provinzialverwalter ihr preußisches und deutsches Bewußtsein dauerhaft durch schwere Zeiten getragen, haben in gleicher Weise auf ihre Umgebungen gewirkt. Auch unter der Fremdherrschaft wirkten sie in ihren Kreisen mit kalter Selbstbeherrschung fort, tief in ihrer Seele eine bessere Zeit vorbereitend. Das waren die Stein, Sack, Merkel und viele Andere und nicht der Letzte unter ihnen Ludwig von Vincke.
Als derselbe 1798, 24 Jahre alt, zum Landrath des Kreises seiner Vaterstadt Minden, mit einem Gehalt von 300 Thalern, ernannt war, zeigte er ein so jugendliches Aussehen, daß König Friedrich Wilhelm III., als er ihm bei Gelegenheit der großen Revue bei Petershagen in Minden vorgestellt wurde, sich gegen Herrn von Stein äußerte: „Macht man hier Kinder zu Landräthen?“ Die Antwortet lautete: „Ja, Majestät, ein Jüngling an Jahren, ein Greis an Weisheit.“
In seiner landräthlichen Wirksamkeit zu Minden spiegelt sich bereits das ganze Bild seines künftigen Treibens ab. Er hatte das Glück unter der Leitung einer der bedeutendsten Persönlichkeiten Deutschlands zu arbeiten, des Freiherrn von Stein, damals obersten Verwalters der westphälischen Landesteile. Freilich fehlte [232] es bei der energischen Derbheit dieses Staatsmannes nicht an heftigen Auftritten und spitzigen Correspondenzen zwischen Beiden, zumal Vincke ein bedeutendes Erbe väterlicher Heftigkeit besaß; allein Stein erkannte schnell den hohen Werth des jungen Mannes und verhalf ihm bald zu höherer Wirksamkeit. Es galt den Augiasstall eines nichtsthuenden Vorgängers aufzuräumen. Der feuereifrige junge Landrath fuhr unter die Faulpelze seiner Unterbeamten und weckte sie aus vieljährigem Schlummer. Um 4 Uhr des Morgens war er schon an der Arbeit oder auf dem Wege, einen langschlafenden, lahmen Bürgermeister oder Schulzen zu wecken. Bald wußte Jeder, daß er keine Minute vor dem kleinen quecksilbernen Landrathe sicher war. Bald lernten ihn auch seine Kreisinsassen, seine „lieben Bauern“ kennen, lieben, achten, ihm vertrauen und Rath und Hülfe bei ihm suchen. Er konnte stundenlang mit ihnen reden, ohne zu ermüden, war aber selbst kurz, bündig und immer beim Kern der Sache. Er umfaßte das Wohl des Volkes nach allen Richtungen und zwar nicht als Actenwurm oder auf schriftlichem Wege, überall untersuchte er persönlich, kroch in den Küchen und auf den Speichern umher, untersuchte die Wiesen, Felder und Wälder, die Feuerspritzen, Brandeimer und Wasserbehälter und sammelte eine ihn unbeschreiblich fördernde Orts- und Personenkenntniß. Wie stand er mit seinen Bauern? – Eines Tages besucht ihn ein Oberförster von Bülow, ein strenger, adelstolzer Herr, der es unter seiner Würde hält, sich irgendwie mit dem Volke gemein zu machen. Als er keinen Bedienten findet, tritt er durch die Thür und sieht zu seinem Entsetzen den Landrath von Vincke bei zwei Bauern am Ofen in aller Gemüthlichkeit mit übergeschlagenen Beinen sitzen; alle drei schmauchten ihr Pfeifchen im dampferfüllten Zimmer. Weniger gemüthlich ging es ein andermal bei einem reichen ländlichen Bürgermeister zu, der bei jeder Pflicht zu spät kam. Im westphälischen blauen Kittel betrat Vincke in früher Morgenstunde den Hof des Herrn, ward von den Hausmägden für einen frischen, jungen Bauer angesehen, auf die Frage, ob der Herr auf sei, ausgelacht, von ihnen zum Kaffee geladen und mußte zwei bis drei Stunden auf den Langschläfer warten, den er dann zum Schrecken des Hauses gründlich abkanzelte.
Zwei größere Reisen in’s Ausland lassen auf Vincke’s deutsch-westphälische Natur manches interessante Streiflicht fallen. Von dem 1800 in höherem Auftrage nach England unternommenen Ausfluge (von Minden bis London brauchte man damals 24 Tage!) brachte er zur Verwertung in seiner Heimath die wichtigsten landwirthschaftlichen Notizen höherer Kategorie, höchst interessante Details über Blindenanstalten, Irrenhäuser, Fabrikwesen und Schulen mit, fühlte dagegen bei seiner Vorstellung am Hofe zu St. James, zu welcher Haarkräusler und Kleiderkünstler ihn zu seinem Leidwesen ganz neu ausstaffiten, die höchste Langeweile und muß auf einer musikalischen Soirée beim Herzog von York beinahe verhungern.
Man wollte damals in Preußen die Merino-Schafe einführen. Vincke hatte als Kammerassessor in Berlin einen Bericht über die Schafzucht eines schlesischen Grafen abgestattet und war mit Thaer in nahe Beziehung getreten. Dies lenkte die Blicke auf ihn und veranlaßte seine Sendung nach Spanien.