Ein Oberpräsident
[736] Ein Oberpräsident. Im Jahre 1830 machte ich eine Reise durch Westphalen. – Eines Abends kam ich in die Kreisstadt O., und fuhr in den Gasthof zur Sonne, um daselbst zu übernachten. Rechts von der Einfahrt des Hauses befand sich das allgemeine Gastzimmer, ein großer Saal, der, für die damalige Zeit, und für die kleine Stadt, elegant ausgestattet war. Hinter diesem Zimmer, nach dem Hofe hinaus, befand sich ein zweites Gastzimmer, welches für Landleute und Handwerker bestimmt war; auch die Kutscher der Reisenden hielten sich dort auf. Beide Zimmer waren durch eine Glasthür von einander getrennt.
Ich hatte mein Abendbrod verzehrt, und saß noch bei einem Glase Bier, als die Thür nach der Hausflur sich öffnete, und ein alter, kleiner Bauersmann eintrat. Er trug die landesübliche blaue Blouse, Gamaschen, einen Knotenstock in der Hand, unter dem Arme ein Bündelchen, und im Munde eine kurze Pfeife. Der Mann hatte augenscheinlich eine weite Reise zu Fuß gemacht, er schien ermüdet, und die dicken, mit Nägeln beschlagenen Schuhe waren bestäubt.
Freundlich grüßend setzte er sich mir am Tisch gegenüber, und fragte den Wirth, ob er übernachten könne. Als dieser die Frage bejahte, bestellte er Schinken, Brod und Bier zu seinem Abendessen.
„Gehen Sie in jenes Zimmer, lieber Mann, welches für die Landleute bestimmt ist, hierher kommen die Honoratioren: die Magd, die dort aufwartet, wird Ihnen bringen, was Sie wünschen.“
Ohne eine Miene zu verziehen, stand der alte Mann auf, wünschte mir einen guten Abend und ging durch die Glasthür.
Eine halbe Stunde darauf trafen nach und nach sechs bis acht Herren ein, welche, nach den Titeln, die ihnen der Wirth bei der Begrüßung gab, Beamte des Kreisgerichts sein mußten. Drei der Herren setzten sich bald zu einer Partie Whist nieder. Ich rückte meinen Stuhl dem Whisttisch näher, und sah dem Spiele zu.
Eine Stunde mochte vergangen sein, da sah ich den alten Bauer, der vorher aus dem Zimmer gewiesen war, an der Glasthür stehen, seine Pfeife im Munde, und als der Wirth zufällig in die Nähe der Thür kam, klopfte er an die Scheibe, und winkte ihm, hinaus zu kommen. Der Wirth wechselte nur wenige Worte mit ihm, mit welchen er, wie ich aus der Gebehrde entnahm, eine Bitte des Alten abschlug. Dann kam er wieder in das Vorderzimmer, und wandte sich mit den Worten an einen der spielenden Herren: „Verzeihen der Herr Kreis-Gerichtsrath, es ist ein Bauer im Hinterzimmer, der Sie einen Augenblick zu sprechen wünscht.“
Der Angeredete erwiderte barsch, der Kerl möge morgen auf’s Gericht kommen, hier habe er Nichts mit ihm zu reden.
Der Wirth brachte diesen Bescheid dem Landmann, und kam dann wieder mit der Bitte zum Herrn Rath, denselben nur wenige Minuten anzuhören, da er morgen früh um fünf Uhr bereits die Stadt verlassen müsse.
Unmuthig sagte nun der Gerichtsrath: „So mag er hereinkommen!“
Der Bauer stellte sich bescheiden hinter den Stuhl des gestrengen Herrn, welcher, ohne ihn zu beachten, seine ganze Aufmerksamkeit dem Spiele widmete. Als er jedoch, in einer kleinen Pause des Spieles, den Blick rückwärts auf den Bauer warf, waren die Karten hinwerfen und vom Stuhle aufspringen das Werk eines Augenblickes, unter unzähligen, tiefen Verbeugungen stammelte er: „O mein Herr Oberpräsident, hätte ich gewußt – diese Ehre – bitte tausend Mal um Entschuldigung!“
Der Alle aber klopfte ihm gemüthlich lächelnd auf die Schulter. „Bitte, Herr Rath, lassen Sie sich nicht stören, spielen Sie Ihren Robber aus, dann werde ich Ihnen meinen Vortrag halten.“ Und, sich gegen den Wirth verbeugend, sagte er mit ironisch klingender Stimme: „Erlauben Sie, daß ich mich hier niedersetze, bis die Herren ihre Partie beendet haben?“
Der alte Mann war der Oberpräsident von Westphalen, Ludwig von Vincke.