Antworten auf Fragen aus dem Publikum

Textdaten
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Autor: Adolf Loos
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Titel: Antworten auf Fragen aus dem Publikum
Untertitel:
aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 355–378
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1919
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft: im „neuen 8 uhr-blatt“, juni bis oktober 1919.
Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung:
Loos pflegte eine Kleinschreibung (außer bei Satzanfängen und Namen) auch bei seinen Titeln, wie den Inhaltsverzeichnissen zu entnehmen ist (im Buch selbst sind die Titel in Versalien gesetzt). Um Irritationen zu vermeiden, werden die Titel in der gewohnten Groß-Kleinschreibung gegeben
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[355]
ANTWORTEN AUF FRAGEN AUS DEM PUBLIKUM
(1919)
Zur einleitung:
Vom kammerdienerdeutsch

„Sehr geehrter herr architekt! Herr architekt haben sicher schon bemerkt ...“, ja, was ist denn das!

Erstens bin ich für sie kein „herr architekt“, sondern der „herr Loos“. Sowohl im brief, als auch in der mündlichen anrede. Ich möchte den sehen, der einen schneider oder einen schuster außerhalb seines berufes statt mit „herr Müller“ oder „herr Schmidt“ stets mit „herr schneider“ oder „herr schuster“ ansprechen würde. Sie meinen, der vergleich hinkt, da doch ein schneider oder ein schuster etwas gewöhnliches sind, ein architekt aber etwas besonderes vorstellt. Obwohl ich durchaus anderer meinung bin, will ich mich doch auf ihren standpunkt begeben. Aber auch von diesem aus würde die anrede: herr maler, herr bildhauer oder herr komponist doch nur im intimsten kreise möglich sein und immer einen ironischen beigeschmack haben.

Und zweitens macht einen modernen menschen das kammerdienerdeutsch, also das deutsch, das im achtzehnten jahrhundert gesprochen wurde und heute nur erträglich ist, wenn der sprecher eine livree trägt, nervös. „Herr architekt haben bemerkt ...“, ja, wer kann das heute noch ertragen! Moderne kleidung tuts nicht. Man muß auch moderne manieren dazu haben und modernes deutsch dazu sprechen. Denn sonst wirkt man wie ein negerhäuptling in Zentralafrika, der sich für einen modernen [356] menschen hält, weil er einen europäischen zylinder auf dem kopfe trägt. Er ist grotesk, ohne es zu wissen. Menschen, die im kammerdienerdeutsch sprechen, mögen auch, um nicht lächerlich zu wirken, livree anlegen und mit weißen wadenstrümpfen und gepudertem zopf einhergehen. Dann gehts!


Frage: Was halten sie von amerikanischen schuhen?

Antwort: Nicht viel. „Amerikanische“ schuhe werden nur im wilden westen und im wilden osten getragen. In New York tragen sie nur die dicken polizisten. (Ein amerikanischer policeman ist immer dick.) Östliche amerikaner und westliche europäer tragen dieselben schuhe; jene form, die ja auch von unseren besten schustern in Wien gearbeitet wird und die man seit jahren in den auslagen studieren kann. Seit vierzig jahren hat sich in der form nichts geändert. Und sie meinen doch die form. Sollten sie aber die amerikanische fabrikationsart meinen, dann kann ich nur antworten, daß unsere industrie derzeit nicht imstande ist, schuhe zu liefern, die so gut und bequem passen wie die amerikanischen. Dazu wäre zuerst die gleichförmige numerierung nach zahlen (länge) und buchstaben (breite) erforderlich. Erst diese könnte die fabrikanten befähigen, leisten zu erzeugen, die dann normalen füßen – vor allem müßten also die menschen normale menschliche füße bekommen – angemessen wären. Diese leisten können nur mit der zeit, nicht von heute auf morgen entstehen. Jede amerikanische fabrik betrachtet ihre leisten als geschäftsgeheimnis; sie werden sorgfältig in einbruchsicheren tresors gehütet.

[357] Frage: Wie hat ein sportanzug beschaffen zu sein?

Antwort: Die frage ist zu allgemein, und sie müßten mir den sport angeben, den sie meinen. Aber einen großen fehler, der in Wien begangen wird, will ich bei dieser gelegenheit festnageln. Der größte teil der sporte, die wir betreiben, verlangt freie knie. Anders als der reitsport, bei dem sich das knie in ruhe befindet. Für den reitsport, und nur für diesen, dienen die reithosen, riding breeches. Diese breeches haben daher enge knie. Nun ist es ein wahnsinn, in riding breeches fußsport, also golf, jagd, touristik, skilaufen etc. zu betreiben. Man braucht dazu keine riding breeches, sondern knickerbockers. Kurze hosen, die fest unter dem knie schließen, aber das knie frei lassen und ziemlich tief über das knie herab fallen (die richtige länge kann durch die angabe ermittelt werden, daß die hose, bevor sie unter dem knie befestigt wird, fast so lang wie eine lange hose sein soll). Aber die nur auf dem Semmering möglichen gestalten in „breeches“ (ein wort, das ohne die verbindung mit reiten in England unmöglich ist und allein nur in einer vulgären redewendung vorkommt) würden sich in der Schweiz lächerlich machen.


Frage: Lange hose, kurze hose?

Antwort: Die lange hose ist eine reithose. Werther trug noch das original, eine anliegende hose, die von den fesseln entlang bis zur halben wade eng geknöpft war. Darüber stulpstiefel. Kleine knaben trugen damals keine stiefel, sondern halbschuhe, die hose war wie unsere heutige lange hose geschnitten. [358] Es geschah, was immer geschieht: die jugend hat recht. Aus knaben wurden männer. Was man in der jugend gewohnt ist, bringt man ins alter hinüber. Erinnern wir uns eines ähnlichen vorganges aus unsren knabenjahren. Kinder tragen gegenwärtig kurze hosen. Aber der zeitpunkt, in dem sie lange hosen erhalten, wird beständig hinaufgerückt. In den höheren ständen erhält der knabe die erste lange hose später als in den niedrigen ständen. Dort beginnt der bub schon mit zehn jahren um die lange hose zu jammern.

Alles, was modern ist, kommt von der jugend. Es wird in die mannesjahre hinübergeschleppt: hosenträger und Meistersinger, schnürschuhe und Rodin, kurze hosen und Peter Altenberg. Die jugend hat immer recht.

So behielten auch die knaben des achtzehnten jahrhunderts recht, obwohl ihre väter kniehosen trugen und die revolutionären erwachsenen ihre waden in hohe stiefel steckten. Die kinder trugen lange hosen und dabei blieb es. Auch für die erwachsenen. Bis die jugend im neunzehnten jahrhundert kurze hosen bekam. Das bedeutet für die erwachsenen des zwanzigsten jahrhunderts auch kurze hosen.

Unsere zukunft ist die kurze hose mit den nackten knien. Woher ich das weiß? Weil die knaben der ganzen welt solche hosen tragen. Als der englische general Baden-Powel nach dem burenkriege die boyscouts (pfadfinder) organisierte, suchte er für sie eine praktische kleidung. Als ein echter Engländer, dem jeder chauvinismus und jede nationalitätstümelei fremd ist – beides sind zeichen von nationaler unsicherheit und schwäche –, nahm er das gute dort, wo immer er es fand, auch wenn es nicht gerade in England gewachsen ist. Die [359] hose nahm er aus den österreichischen alpenländern. Das war für uns grund genug, da unser österreichisches nationalbewußtsein selbstverständlich jede engländerei ausschloß, unsern pfadfindern eine um die knie geschlossene kniehose zu geben. Von Japan bis Venezuela trugen die pfadfinder die österreichische kniefreie hose, ich sah sie in Madeira und Algier, in Lissabon und Madrid, in Rom und Kopenhagen. Aber wir in Österreich? Justament nöt! Wir werden den engländern nicht alles nachmachen. Und unsere pfadfinder liefen in einem gewand herum, dem an schönheit, ordnung und zweckmäßigkeit nur die österreichische kriegsuniform an die seite gestellt werden kann. Ganz richtig sagte mir jemand neulich: Wenn wir uns im jahre 1914 die englischen offiziere und ihre kleidung angesehen hätten, hätten wir es uns überlegt, krieg zu führen.

Seit ein paar tagen sieht man in Wien englische soldaten in sommeruniform. Sie tragen nackte knie. Unsre österreichischen nackten knie. Vor jahren habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß, da doch jedes land das nationale moment in der uniform betont, unsere infanterie in den alpenländischen lederhosen marschieren solle. Aber man lachte mich aus. Das wäre zu wenig militärisch. Gegen das österreichische hätte man nichts einzuwenden. Aber österreichisch seien verschiedenfärbige aufschläge und flinserlsterne. Und der überschwung so schief und schlampert wie möglich. Mit einem wort: fesch.


Frage: Warum trägt man gamaschen?

Antwort: Die heutigen gamaschen sind schottischer herkunft. Der schottische bauer trägt halbschnürschuhe auch im winter und ist daher bei hohem schnee gezwungen, [360] gamaschen zu tragen. Der wiener schuster nennt deshalb ganz richtig solche schuhe, die in England brogues genannt werden, schotten, zum unterschied von den tiroler halbschuhen, die entweder gar keine oder gerade kappen besitzen. Die zunge kann sowohl kurz, also normal, sein oder überlang über die verschnürung herabfallen. Dann muß das leder fransenartig zugeschnitten werden, was als lederendigung immer notwendig ist, da sich das leder, naß geworden, sonst einrollt. Aber auch diese fransenzunge, die man jetzt sogar bei damenschuhen bemerken kann, die nicht schottisch gearbeitet, wo sie also falsch am platze sind, ist in Tirol gebräuchlich. Schotten sind immer schwer und sollen nur zu knickerbockers, also zur sportkleidung, getragen werden.

Nun kann man sich die frage nach den gamaschen selbst beantworten. Man kann gamaschen nur zu halbschnürschuhen tragen. Und da man zum gehrock und cutaway (jakett) keine halbschuhe tragen darf, muß man, falls man doch welche anzieht, gamaschen darüber knöpfen.


Frage: - ?

Antwort: Sie meinen also, daß wir gegenwärtig wichtigere sorgen haben sollten, als uns fragen über kleidung vorzulegen. Die antwort über gamaschen hat sie besonders erzürnt. Was soll ich ihnen antworten! Vor allem, daß der reiche mann der sorge: was ziehe ich an, dank der regel, daß man dann am richtigsten gekleidet ist, wenn man am wenigsten auffällt, vollständig enthoben ist. Sein gefüllter kleiderschrank bringt ihn mit leichtigkeit über alle solche sorgen hinweg. Für den reichen mann, für das reiche volk ist mein briefkasten überflüssig. [361] Erst wenn sich die not einstellt, erst wenn man gezwungen ist, mit wenig hauszuhalten, erst dann wird man einen berater brauchen. Sie sind allerdings der meinung, daß es gegenwärtig nicht darauf ankommt, was, sondern daß wir überhaupt etwas anzuziehen haben. Da decken sich unsere anschauungen vollständig. Aber um das zu erreichen, ist höchste sparsamkeit notwendig. Vor mir liegt ein bild aus dem „interessanten blatt“: die sozialdemokratischen führer im begräbniszug der vierzehn todesopfer. Und merkwürdig, welch ein zufall, alle tragen dunkle kleidung. Haben sie einer verabredung gemäß gehandelt? Nein, alle haben, obgleich wir gegenwärtig wichtigere sorgen haben, rein gefühlsmäßig dunkle kleidung gewählt. Ja, ich bin der meinung, daß ein jeder von ihnen der feierlichen handlung eher ferngeblieben, als daß er in einem gelbkarrierten anzug, falls er keinen anderen mehr gehabt hätte, erschienen wäre. Und dabei will ich zugeben, daß die meisten jener abgeordneten, vielleicht alle, ihre meinung teilen werden.

Wir sind arm geworden. Aber deshalb sollen wir nicht lächerlich werden. Daher müssen wir beginnen – die sparsamkeit gebietet es –, über unsere kleidung nachzudenken. Vielleicht wird es dazu kommen, daß wir mit unsrer letzten hose und unsrem letzten rocke herumlaufen müssen. Vorzeitige überlegungen können es aber so einrichten, daß nicht zufälligerweise eine kniefreie lederhose und ein schwarzer ballfrack diese beiden letzten kleidungsstücke sind. Denn sonst würden wir lächerlich. Sie, der überragende geist, werden allerdings leugnen, daß ein mensch in diesem anzug komisch wirkt. (Ich möchte es nicht auf die probe ankommen lassen. Ich lade sie ein, mich in einem solchen anzug, aber ohne überzieher [362] darüber, und nicht im auto, bei hellem tageslicht zu besuchen.)

Wir sind arm geworden. Wir müssen arbeiten. Ein jeder, was er am besten kann. Jeder sollte trachten, möglichst wenig zu verbrauchen. Auch der schuster. Wäre ich ein diktator, ich erließe ein gesetz, durch das nur die anfertigung von halbschuhen gestattet wäre. Euch friert? Dann tragt gamaschen.

Wir sind arm geworden. Von der arbeit müssen wir leben, nicht vom handel, wie naive uns für die zukunft weissagen.

Wieder hat jeder zu arbeiten, so gut er kann. Und wir sollten das ergebnis unsrer arbeit nicht selbst verbrauchen, sondern als zahlung für lebensmittel an das ausland abgeben. Also auch gamaschen. Diese waren im frieden ein exportartikel und sollen es wieder werden. Aber wir dürfen nur gamaschen erzeugen, die gekauft, die in anderen ländern getragen werden. Und solche gamaschen kann man nur erzeugen, wenn man weiß, wann und wie gamaschen getragen werden. In Timbuktu kann man keine gamaschenindustrie errichten.

Die kleidung ist nur der ausdruck des inneren menschen. Auch des verarmten menschen, des verarmten volkes. Ein tschandalavolk kann man schon an seinem äußeren erkennen. Auch zwischen armut und armut gibt es einen unterschied.


Frage: Der mann ohne hut?

Antwort: Der erste mann ohne hut war der athlet auf den amerikanischen universitäten. Fußball war der erste sport, der ohne hut ausgeübt wurde. Der darauffolgende lauf, der ungeniert paarweise in den straßen der kleinen [363] universitätsstadt ausgeführt wurde, zeigte zum erstenmal den hutlosen mann auf der straße. Damals dachte man noch an sonnenstich und verkühlung und daher ließen sich die amerikanischen athleten die haare lang wachsen. Da aber ein jeder ein athlet sein wollte, war die hutlosigkeit bald das kennzeichen jedes akademischen bürgers Amerikas. Erleichtert wurde dies durch die sitte, daß sich männer in Amerika nicht durch hutabnehmen, sondern durch zuwinken – die hand in kopfhöhe – begrüßen. Nur den frauen dankt man für den gruß durch hutabnehmen, was der hutlose mann durch eine leichte verbeugung mit dem kopfe ersetzen muß.

Parallel mit dieser universitätsangelegenheit lief der folgende vorgang: Da die frau ihre haare anders anordnet, wenn sie einen hut trägt, als wenn sie keinen trägt (ball oder theater), so war sie gezwungen, für diesen fall eine eigene kopfbedeckung zu erfinden. Durch das ganze neunzehnte jahrhundert hat man die verschiedensten formen dafür ausgedacht. Aber jene damen, die im geschlossenen wagen den ball oder das theater besuchen konnten, ließen die kopfbedeckung einfach weg. Es ist nicht verwunderlich, daß auch die frauen, die die elektrische oder ihre füße benutzen mußten, wenigstens im theater selbst hinter ihren reichen schwestern nicht zurückstehen und durch einen kapuzenlosen kopf in der garderobe auffallen wollten. Man glaubte zwar, daß man so frieren müsse, aber man erschien so nobel. Man riskierte den schnupfen. Aber es stellte sich heraus, daß man gar keinen bekam.

Nun hatte der amerikanische mann bald heraus, daß, wenn seine frau keinen schnupfen bekam, er es auch wagen könne. Denn der hut im theater und auf dem ball [364] ist eine belästigung. Auch hier waren die ersten die, die einen wagen hatten.

Als ich das letzte mal in London war (winter 1908), trug kein mann in frack oder smoking einen hut. Das straßenbild in der nähe des leister square bei theaterschluß wirkte merkwürdig. Tausende von theaterbesuchern waren auf der straße, die sich aus dem theater in das nächste restaurant begaben. Alle ohne hut.

Der krieg hat den zug zur hutlosigkeit unterbrochen. Wir waren fünf jahre abgesperrt. Aber wer ins ausland gehen konnte, sah die vielen hutlosen männer in Zürich und Bern. Selbstverständlich war in den winterkurorten auch tagsüber überhaupt kein hut zu sehen. Ich ging mit meinem einzigen hut in St. Moritz aus. Aber ich vergaß, angesteckt durch die allgemeine hutlosigkeit, bei Haselmann (oder wars wo anders), ihn wieder aufzusetzen, und dort hängt er vielleicht noch heute. Ich merkte es erst, als ich nach wochen von St. Moritz wegfuhr. Wo ist mein hut? Bei Haselmann – oder wars wo anders? Ich fuhr ohne hut.

Vor dem bahnhof in Zürich traf ich den grafen P., den attaché unsrer gesandtschaft in Bern. Er trug keinen hut. „Seit wann sind sie in Zürich?“ „Ich bin soeben angekommen.“ „Ja, aber ...“ Die übrigen worte blieben mir in der kehle stecken, denn ich wollte sagen, daß das wohl kaum möglich sei, da er keinen hut trage. Aber da fiel mir noch rechtzeitig ein, daß der hutlose mann auch dann den hut nicht aufsetzt, wenn er von Bern nach Zürich fährt. Und warum auch. Im eisenbahncoupé braucht man ihn doch am allerwenigsten. Der hutlose mann reist ohne hut um die ganze welt. Alles kann man ohne hut, nur nicht vor einer auslage stehen bleiben. Denn dann [365] kommt sicher einer, zeigt auf etwas im schaufenster und sagt: was kostet diese schildkrottasche?

Seit jahren, lange vor dem krieg bereits, ging ich im sommer ohne hut. Dann aber kam der herbst mit seinem regen und ich konnte nicht durchhalten. Nur Peter Altenberg, der gleich Diogenes, der seinen becher wegwarf, als er sah, daß ein knabe aus der hohlen hand trank, meinem beispiel folgte, gewöhnte sich auch im winter daran. Und wenn man bisher den kulturstand eines volkes nach dem gebrauch der seife abschätzte, wird man eines tages fragen: Welcher prozentsatz der männlichen bevölkerung trägt keinen hut? Denn dem hutlosen mann gehört die zukunft.


Frage: Was ist ein overall?

Antwort: Der arbeiter trägt von altersher eine schürze. Die schürze wird von allen handwerkern getragen, deren arbeit uns aus dem achtzehnten jahrhundert überliefert ist. Aber die arbeiter der vielen neuen industrien, die im neunzehnten jahrhundert entstanden, bedienten sich eines überzuges für die hose und einer bluse aus blauem schürzenstoff. Man denke an unsere installateure. „Der mann mit der blauen schürze“ – das war, mit rethorischem überschwang ausgesprochen, eines der beliebtesten requisite jedes politischen redners der achtundvierziger jahre. Später hieß es: „der mann in der blauen bluse“. Der amerikanische arbeiter, praktisch wie er ist, sah nicht ein, warum man diesen überzug über den anzug aus zwei stücken machen müsse. Er trägt ein arbeitskleid, das eine große ähnlichkeit mit den ersten hosen unserer knaben hat. Die hose deckt auch die brust und wird mit spangen über den achseln festgehalten. Diese [366] kleidung nennt man overall. Der overall wird auch die kleidung des europäischen arbeiters werden. Während des krieges haben eine halbe million amerikanischer arbeiter in den französischen fabriken, eine andre halbe million hinter der front gearbeitet. Diese million männer im overall haben diesen arbeitsanzug in Frankreich populär gemacht. In dreißig jahren haben wir ihn auch in Österreich. Dann wird der politiker, wie seit dreißig jahren sein amerikanischer kollege, emphatisch vom „mann im overall“ sprechen.


Frage: Warum trägt man zum modernen überzieher einen gürtel?

Antwort: Der gürtel kann bei allen röcken getragen werden, die ständig geschlossen und sowohl hinten wie vorne weit zugeschnitten sind. Dies gilt für die jacke ebenso wie für den überrock. In den österreichischen alpenländern, wo die joppe der gewöhnliche rock ist, also ein kleidungsstück, das vorn anliegend, hinten lose gearbeitet ist, genügt der zum knöpfen eingerichtete „dragoner“, um, mittels der hohlfalte, den ganzen rock, trotz seinem weiten schnitt, zu einem anliegenden kleidungsstück zu machen. Die im westlichen Europa getragene arbeitsjacke, die bluse, ist auch vorn weit und verlangt daher als verschluß einen gürtel. Das trugen die handwerksburschen in der biedermeierzeit, das trägt der bauer in Norfolk. Das norfolk-jackett wurde die jacke des sportmannes. Es ist eine mischung der französischen bluse mit der österreichischen joppe. Von jener hat es den weiten schnitt auch über der brust, von dieser die straffe, gebügelte anordnung der falten. Es besitzt also auch falten auf der brust, während die joppe nur die rückenfalte [367] aufweist. Das norfolk-jackett hat daher den gürtel, während für die steirer-joppe der dragoner genügt.

Auch der alpenbewohner trägt die joppe einmal mit geschlossenem, einmal mit offenem „dragoner“. Das wechselt von jahrzehnt zu jahrzehnt. Manchmal fühlen sich die menschen wohler, wenn sie lässig, manchmal, wenn sie adrett angezogen sind. Gegenwärtig leben wir in einer zeit, in der die menschen adrett, „geschlossener“ angezogen sein wollen. Selbst unser sakkoanzug, der doch durch die sichtbare weste aufs „offentragen“ eingerichtet ist, wurde schon vor dem kriege immer mehr und mehr zugeknöpft getragen. Offenbar verlangten es die nerven. Je moderner heute die nerven des mannes, desto zugeknöpfter sein rock. Peter Altenberg trug schon mit fünfzehn jahren einen gürtel zum gewöhnlichen sakko. Das erschien wohl komisch, aber seine nerven brauchten es. Wie überhaupt das „komische“ des anzuges eines vorläufers der menschheit immer daher rührt, daß der schneider, der für die allgemeinheit arbeitet, dem nervenbedürfnis noch nicht nachgekommen ist.

Aber kehren wir wieder zum überzieher zurück. Der ulster war noch wie ein futteral, wie ein kaftan gearbeitet. Dann kam der menschikoff – hinten weit, mit einem dragoner. Dann kam der raglan. Der war auch vorne weit. Das war die zeit, in der man das sakko offen trug. Und damals trug man auch einen vorn und hinten weit geschnittenen überrock. Nun verlangen die nerven wieder den engen schluß. Den rock knöpft man zu – was aber macht man mit dem weiten überzieher? Das herumflattern macht einen nervös! Da nimmt man einen gürtel, wie es P. A. schon vor fünfzehn jahren bei seinem sakko machte. Als er mich mit dem modernen gürtelrock erblickte, [368] war er neidisch. Sein nächster „schliefer“, wie er seinen mantel nannte, sollte auch einen gürtel bekommen. Armer Peter, lieber Peter, du hast es nicht erleben sollen!


Frage: Batik?

Antwort: In den letzten monaten mehren sich die fälle, daß mich ein mädchen aufsucht, mir mitteilt, daß sie künstlerin sei, und da es doch mein beruf und daher meine verdammte pflicht und schuldigkeit sei, künstlern mit rat und tat zur seite zu stehen, so –

Ich antworte drauf: ich weiß schon – batik! Worauf mich das fräulein für ein noch höheres wesen hält, als ich tatsächlich bin, nämlich für das höchste wesen, das man sich heute vorstellen kann, für einen telepathen.

Aber das bin ich nicht. Ich arbeite nur mit hilfe der wahrscheinlichkeitsrechnung. Neunzig prozent der „künstlerinnen“ nennen sich so, weil sie batiken können.

Wenn ich einen maikäfer in ein tintenfaß fallen und dann auf einer schöngefärbten, herrlichen pongisseide herumkrabbeln lasse, so entsteht[WS 1] batik. Ich kann mir die arbeit erleichtern und statt eines maikäfers gleich zehn oder zwanzig maikäfer verwenden. Ich kann einen teil der maikäfer in schwarze tinte, einen anderen in rote tinte stecken. Ich kann mir ein flascherl violette tinte kaufen. Gelbe! Wie gesagt, es gibt künstlerinnen, die eine so üppige, ausschweifende phantasie besitzen, daß mir die worte fehlen, ihren kunstwerken gerecht zu werden. Auch gibt es welche, die noch andere rezepte besitzen. Es müssen ja nicht gerade maikäfer dazu dienlich sein. Ich weiß schon – um einer berichtigung vorzubeugen – es gibt auch andere methoden. Es ist ja selbstverständlich, [369] daß in den anderen elf monaten mit anderen mitteln gearbeitet werden muß. Aber der effekt ist derselbe.

Stelle einen maler vor eine leere leinwand – er wird malen. Stelle einen batiker vor ein stück reine seide – er wird batiken. Stelle ein kind mit einem stück kreide vor eine planke – es wird ...

Aber kehren wir zu dem fräulein, das mich für einen telepathen hält, zurück. Ich sage: „Batik, ja batik ... Das ist eine schwere sache! Wie kann ich da helfen?! Ich glaube, am besten ist, sie geben das stück in eine chemische putzerei. Vielleicht bringts die fertig.“

Ich glaube nicht, daß die künstlerin meinen rat befolgen wird. Sie wird schon mittel und wege finden, das unbrauchbar gewordene stück seide anders zu verwenden. Denn sonst wären nicht unsere schaufenster voll mit batiktüchern und batikkrawatten. Aber um die aufgewendete zeit wars doch schade. Typewriten und maniküren sind viel nützlichere beschäftigungen. Dem modernen menschen erscheint ein nicht tätowiertes antlitz schöner als ein tätowiertes. Dem modernen menschen sind tätowierungen und batik ein greuel, auch wenn diese beiden techniken in Polynesien und auf dessen kolonie am stubenring eine kunstleistung bedeuten. Die gefahr ist groß, daß alle frauen die berufung zur batikkünstlerin in sich entdecken und daß sie so der wirtschaftlichen arbeit entzogen werden.

Nachschrift : Soeben erfahre ich, daß die chemischen putzereien nicht imstande sind, batik zu entfernen. Hat dir deine braut eine batikkrawatte geschenkt, so mußt du sie dunkel färben lassen.

[370] Frage: Abschaffung der weste?

Antwort: Sie fragen, „warum wir die weste, dieses barocke kleidungsstück, nicht schon längst ausgemerzt haben?“ Nun, weil Rom nicht in einem tag erbaut wurde. Die weste stammt, wie sie richtig angeben, aus der barockzeit. Aber nichts ändert sich von heut auf morgen. Alles bleibt. Trotz dem elektrischen licht bleibt die kerze noch. Nur ihre verwendungsmöglichkeit wird begrenzt. Auch die weste ist nicht mehr so notwendig, wie vor zweihundert jahren. Der mann in der bluse braucht keine weste. Der mann im geschlossenen rock braucht keine weste. Von jahrhundert zu jahrhundert wurde der weste der boden entzogen. Und eines tages werden die letzte kerze und die letzte weste im museum zu sehen sein.


Frage: Hat die „arbeiterzeitung“ in bezug auf die modeausstellung recht?

Antwort: Die „arbeiterzeitung“ irrt, wenn sie das wort mode nur für die bekleidung, also die arbeit des schneiders, hutmachers, schusters angewendet wissen will. Das ist falsch. Mode ist der stil der gegenwart. Über jede sache, die einem mißfällt, sei es nun eine symphonie, ein drama, ein bauwerk, glaubt man ein vernichtendes urteil zu fällen, wenn man entrüstet ausruft: Das ist kein stil, das ist eine mode! Ganz richtig, in hundert jahren nennt man die mode der zeit ihren stil, ob es sich nun um damenhüte oder kathedralen handelt. (Auf dem maskenball erscheint frau X im stile des vierzehnten jahrhunderts, das mag noch angehen, aber bedenklicher ist es schon, wenn gotteshäuser nach mittelalterlicher mode gebaut werden.) Oder will man die bekleidungsgegenstände [371] mit der bemerkung verächtlich machen, daß sie der veränderung unterliegen? Dann müßte man an kunstwerke den gleichen maßstab anlegen. Die verurteilung der „arbeiterzeitung“ gilt also nicht der mode, dem stile der gegenwart, sondern den bekleidungsgegenständen.

Nun ist es ja richtig, daß bei diesen viel überflüssige arbeit verbraucht wird. Aber nicht mehr als bei den übrigen gewerben. Im gegenteil: unsre kleidung ist, der anderer jahrhunderte gegenüber, weit einfacher geworden, was man von unsren häuserfassaden nicht behaupten kann. Man vergleiche die ruhigen, vornehmen alten wiener häuser mit dem ornamentenkrawall, den die neuen häuser von heute anstimmen. Und wer, wie ich, in wort und tat gegen das ornament auftritt, dem ergeht es wie – nun wie mir. Die ganze menschheit könnte sich ein besseres leben einrichten, wenn sie vom ornament, vom überflüssigen, lassen würde. Unsere schneider, unsere schuster und hutmacher sind in der ornamentlosigkeit am meisten vorgeschritten: mögen die anderen gewerbe bald nachfolgen!


Frage: Kunst und handwerk?

Antwort: Man hat mir vorgeworfen, daß ich in meiner letzten fragebeantwortung meinen standpunkt verlassen hätte, daß ich mir selbst untreu geworden sei. Seit zwanzig jahren predige ich den unterschied zwischen kunst und handwerk und lasse weder ein kunsthandwerk noch eine angewandte kunst gelten. Im widerspruch zu allen meinen zeitgenossen.

Ich schieb: „Oder will man die bekleidungsgegenstände mit der bemerkung verächtlich machen, daß sie der veränderung unterliegen? Dann müßte man an kunstwerke [372] den gleichen maßstab anlegen.“ Sehen wir, ob ich damit meine prinzipien aufgegeben habe.

Ich sage: das kunstwerk ist ewig, das werk des handwerkers ist vergänglich. Die wirkung des kunstwerkes ist geistig, die wirkung des gebrauchsgegenstandes materiell. Das kunstwerk wird geistig konsumiert, unterliegt daher nicht der zerstörung durch den gebrauch, der gebrauchsgegenstand wird materiell konsumiert und dadurch verbraucht. Denn ich halte es für eine barbarei, wenn man bilder angreift, aber dieselbe barbarei ist es, bierkrügel herzustellen, die nur in die vitrine gestellt werden können (Wiener Werkstätte). Der gebrauchsgegenstand ist nur für die zeitgenossen gearbeitet und hat nur diesen zu genügen – das kunstwerk wirkt bis in die letzten tage der menschheit. Aber der formalen veränderung sind beide unterworfen, und zwar so stark, daß es dem historiker möglich ist, sowohl beim kunstwerk wie beim gebrauchsgegenstand den zeitpunkt der entstehung zu bestimmen. Ich schrieb einmal: Wenn von einem ausgestorbenen volke nichts anderes als ein knopf übrig bliebe, so ist es mir möglich, aus der form dieses knopfes auf die kleidung und die gebräuche dieses volkes, auf seine sitten und seine religion, auf seine kunst und seine geistigkeit zu schließen. Wie wichtig ist dieser knopf.

Ich wollte damit auf den zusammenhang zwischen innerer und äußerer kultur hinweisen. Der weg ist: Gott schuf den künstler, der künstler schafft die zeit, die zeit schafft den handwerker, der handwerker schafft den knopf.


Frage: Uniform und zivil?

Antwort: Sie schreiben, aus meiner letzten antwort*)[1] [373] gehe hervor, daß ich die meinung vertrete, ein oberst möge im frack, also in zivil, einen ball besuchen.

Es freut mich, daß sie das herausgefunden haben. Solche dinge, die gewöhnlich abseits der fragebeantwortung liegen, sind in meine antworten oft eingestreut. Das hat den zweck, den leser zu zwingen, über dinge nachzudenken, die scheinbar nebensächlich sind, aber konsequent durchgedacht zu wichtigen folgerungen führen. So auch hier. Ja, ich bin der meinung, daß der offizier nur im dienst und auf dem wege zum dienst uniform zu tragen hat, in allen übrigen lebenslagen aber sich durch nichts von jedem andern bürger unterscheiden darf. Und zwar nicht, weil ich gegen die uniform bin, die ich an richtiger stelle schätze (wie ich auch für die militärischen distinktionen bin, weil sie notwendig sind), sondern weil ich die würde der uniform geschützt wissen will. Es wird uns schwer verständlich sein, daß das englische offizierskorps ein mitglied bestraft, wenn es sich in uniform zum raseur begibt. Hier wird die würde der uniform geschützt. Aber darüber sich den kopf zu zerbrechen, ist im grunde nicht die sache des zivilisten. Dagegen haben wir ein interesse daran, ein demokratisches interesse, daß sich niemand durch seine kleidung von den anderen bürgern abhebe, daß niemand einen vorteil durch sie einheimse. Außerhalb der kaserne ist der leutnant ein simpler herr X und der oberst ein simpler herr Y, und damit basta.


Frage: Monokel?

Antwort: Menschen, die nur auf einem auge kurzsichtig sind, tragen ein monokel. Bei uns gilt das monokel als geckenhaft – warum, verstehe ich nicht. Ein amerikaner würde das ebenso wenig verstehen, wie wenn man [374] ihm sagte, daß ein mann, der eine prothese trägt, ein geck ist. Damit ist gesagt, daß in Amerika nur der ein monokel trägt, der es braucht. Die vielen gut sehenden menschen, die ein fensterglas im auge tragen – das hauptkontingent stellen die deutschen –, haben das monokel in verruf gebracht. Was im hirn solcher menschen vorgeht, ist mir rätselhaft. Wer aber ein monokel braucht, soll es tragen, welchem beruf immer er angehört. Vor dreißig jahren gehörte in New York einer der bekanntesten anglikanischen geistlichen zu den monokelträgern. Auch frauen, besonders ältere frauen, tragen dort monokel.

Ich bin auf beiden augen weitsichtig und trage ein monokel zum lesen außerhalb des hauses. Der weitsichtige leidet sehr darunter, daß er, wenn er den blick von seiner zeitung hebt, mit dem glas vor dem auge einfach blind ist. Er ist daher gezwungen, das glas abzunehmen. Ich habe gefunden, daß dies am einfachsten mit dem monokel geschieht.

Daß bei uns so viele laffen mit einem monokel herum rennen, ist mir gleich. Es steht jedem frei, mich für einen zu halten. Für was die leute mich angesehen haben, als ich in dieser woche auf einen streifwagen sprang, um schneller nach Hietzing oder Döbling zu kommen, weiß ich ja auch nicht. Das scheint hier jedenfalls verpönt zu sein, denn mir schien, daß ich der einzige war, der es tat.


Frage: Stadtpelz?

Antwort: Nun, man trägt ihn, wenn man ihn hat und wenn es genügend kalt ist. Aber man wird dafür sorge tragen, daß man auch einen gewöhnlichen winterrock (chesterfield) besitzt. Aus sparsamkeit. Denn man wird [375] trachten, den pelz so zu schonen, daß er für die ganze lebenszeit reicht. Daher wird er eine form haben müssen, die auf zwanzig bis vierzig jahre unverändert bleiben kann. Denken sie an die regel: Jeder gegenstand hat so lang ästhetisch zu halten (darf also dem auge so lange nicht unangenehm, nicht lächerlich werden), wie er physisch hält. Auf einzelne gegenstände angewendet, würde das bedeuten, daß ein ballkleid einer frau, das in einer nacht durchgetanzt wird, ästhetisch nur für diese eine nacht möglich zu sein braucht, morgen mag es schon lächerlich wirken, also unmodern sein. Aber ein schreibtisch erfüllt seine aufgabe, dank dem material und der angewendeten arbeitszeit, vielleicht hundert jahre, – da ist dafür sorge zu tragen, daß er eine form erhält, die hundert jahre modern bleibt. Das ist eine sorge, um derentwillen sich unsere neudeutsche künstlerschaft, zu der auch die mitglieder des österreichischen werkbunds gehören, niemals graue haare wachsen ließ. Daß aber arbeitskraft, sogar beste arbeitskraft (edelarbeit) und bestes material, den schrullen eines „künstlers“ zuliebe verschwendet wird, da der erzeugte gegenstand aus ästhetischen gründen nicht konsumiert, nicht aufgebraucht werden kann, – denn welcher mensch kann heute in einer wohnung leben, die ein wiener kunstgewerbeschulprofessor vor zwanzig jahren „entworfen“ hat –, das ist ein verbrechen.

Auf die schneiderei angewendet, hat die regel zu lauten: Billiges material, schleuderhafte arbeit für ein ballkleid. Da mag man so extravagant wie möglich sein. Und wenn die schneiderphantasie nicht ausreicht, möge man sich beim modernen architekten rat holen. Dort ist er am platz. Aber für den pelz wähle man einen meister, der [376] konservativ ist. Um so konservativer, je edler das material ist, das man verarbeiten will.


Frage: Nationale eigenart?

Antwort: Sie fürchten, daß wir unsere nationale eigenart durch die vielen fremden käufer, die, von unserer billigen valuta angezogen, Wien überschwemmen, verlieren könnten. Bis jetzt habe ich noch nichts davon bemerkt. Doch halt – heute sah ich die ersten englisch-amerikanischen brieftaschen im schaufenster bei Hieß in der kärntnerstraße. Unsere nationale eigenart verlangte, die metallecken, die eine ledertasche schützen sollten, nur an der oberen seite anzubringen. Die anderen beiden ecken blieben ungeschützt. Das genügte fürs schaufenster. Dafür, und nicht zum gebrauch, wie anderwärts, scheinen unsere ledergalanteriewaren bestimmt. Das ist nun wohl einem amerikanischen offizier aufgefallen, und daher werden für solche offiziere – aber nur für diese – auch brieftaschen, welche dem gebrauch dienlich sind, in die auslage gelegt. Denn für die amerikaner ist der metallbeschlag ein schutz gegen die abnützung, für die wiener ist er ein ornament.


Frage: Freiheit und kleidung?

Antwort: Sie meinen, daß ein volk, das seine fesseln abgeworfen hat, seine freiheit auch in so nebensächlichen dingen, wie es die kleidung ist, bewahren und alle kleiderordnungen aus etiketterücksichten aufgeben sollte. Nun, die sache ist gerade umgekehrt. Was sie freiheit nennen, ist die freiheit, die ich mir nehme, wenn ich den im hause unbequemen dreckkübel auf die straße schütte. Ohne rücksicht auf die passanten, ohne rücksicht [377] auf die gesundheit meiner mitmenschen. Wenn sie diese freiheit für sich beanspruchen, dann müssen sie schon etwas mehr in den osten ziehen, sagen wir nach Ispahan oder Herat, wo der absolutismus noch die staatsform ist. Je freier aber die regierungsform ist, desto beschränkter ist der mensch in seinem tun und lassen. Und je freier die menschen leben, je weniger sie unter polizeiaufsicht leben wollen, um so mehr sind sie verpflichtet, eine polizeiliche kontrolle selbst und auf ihre eigene person anzuwenden. Das, und nur das macht den polizisten für den staatsbürger überflüssig. Dann ist der polizist nur ein werkzeug der gesellschaft zur verhinderung von verbrechen. Dann dient er nicht mehr dazu, das anstellen zu beaufsichtigen und „bitte, links gehen“ zu kommandieren. Unfreie völker haben ihre polizisten außerhalb, freie völker haben sie in sich. Jeder amerikaner ist sein eigener polizist. Was er aber von sich selbst verlangt, verlangt er mit der größten strenge und rücksichtslosigkeit auch von seinen mitmenschen. In Amerika kann man den strohhut nicht vor dem einundzwanzigsten mai tragen. Wer sich früher damit auf die straße traut – es sind nur deutsche – läuft gefahr, daß ihm der hut vom kopf geschlagen wird. Also gibt es in diesem freien land kleiderverordnungen, die der deutsche mit dem wort rückschritt bezeichnet. So etwas gibt es im fortschrittlichen Deutschland nicht. Und doch: auf einem ball würde ein mensch mit nackten knien und lederhosen nicht zugelassen werden. Ist das rückschritt? Ein jeder fühlt, warum wir die selbe festkleidung anlegen. Wir erfüllen damit die demokratische forderung, daß doch endlich alle, die in der frohn des lebens sich durch verschiedene kleidung unterscheiden müssen, – und sei es [378] nur auf die kurze zeit des festes – gleich sein sollen. Alle tragen das weiße hemd und die batistkrawatte, lackschuhe und frack. Mein schuster, den ich in der werkstatt „herr meister“ anspreche, ist ein herr Schulze geworden, der gestrenge oberst, der einen im kasernenhof herumjagt, ist ein herr Maier, und der mann, den ich im amte mit „herr hofrat“ anspreche, ist für mich nur ein herr Schmidt. Keiner hat, bevor er das fest besuchte, sinnend vor dem schranke gestanden und sich gefragt: Was ziehe ich heute für den ball an, womit ich die anderen ausstechen könnte? Das überläßt man den frauen.

Nun, der amerikaner ist immer auf dem ball. Von der frühe bis in die nacht. Weil er ein republikaner ist.

In Afghanistan ist es anders.

Anmerkungen von Adolf Loos

  1. *) Siehe „freiheit und kleidung“, seite 376. [Anmerkung Wikisource: in der Vorlage irrtümlich: 276]

Anmerkungen des Herausgebers

[462] auswahl aus den beiträgen von Adolf Loos im „neuen 8 uhr-blatt“, juni bis oktober 1919. Weitere, von Loos nicht in „trotzdem“ aufgenommene „antworten“ wird der zweite band der „gesammelten schriften“ enthalten [Anmerkung Wikisource: ein zweiter Band ist nicht erschienen].

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ensteht