Altdeutsche Sagenstätten
Wo im baierischen Unterfranken das Alzenauer Freigericht seinen dunkel bewaldeten Höhenzug an Dettingen vorüber gen Aschaffenburg erstreckt, haftet in der weiten Ebene, die der Mainstrom durchschneidet, das Auge vorzugsweise an einem Punkte: während diesseits alle die verstreut liegenden Ortschaften von nur einem niedrigen, sehr bescheidenen Kirchthürmchen überragt werden, streben jenseits des von Ufergebüschen dicht umsäumten Flusses mehrere äußerst stattliche Thürme hoch und schlank gen Himmel, und auch der kleine Häusercomplex, der sich da am Mainufer hindehnt, erhebt sich über einen „dörflichen“ Anstrich. – Wenn wir die Mainfähre, die uns über den Strom getragen, verlassen, stehen wir auf hessen-darmstädtischem Gebiet, und zugleich auf dem althistorischen Boden von „Ober-Mühlheim“, das durch Kaiser Karl den Großen seinen neuen Namen „Seligenstadt“ erhielt.
Der Geschichte nach hatte Kaiser Karl zu Seligenstadt einen ähnlichen Reichspalast, wie zu Frankfurt am Main wie zu Tribur und Ingelheim am Rhein. Ein uralter, mit etlichen
[281][282] Steinbogen und kleinen Pilastern verzierter Mauerrest, der unmittelbar über dem Mainufer emporsteigt und noch jetzt den hochtönenden Namen „Palatium“ trägt, deutet den Platz an, wo sich einst die Seligenstädter Kaiserpfalz erhob, die noch wiederholt von den Regenten aus dem Geschlecht der Hohenstaufen zum Aufenthalt benutzt worden ist.
Für die Erbauung des Palatium zu Seligenstadt wäre nun genugsame Veranlassung zu finden in Kaiser Karl's besonderer Vorliebe für die Jagd und der Nähe seines Lieblingsforstes, des Dreieich, dessen Grenzen mit denen der übrigen beiden großartigen Reviere des alten, deutschen Reichswaldes, dem „Forehahi“ und Odenwald, so nahe zusammenliefen, daß die drei zusammen gleichsam eine einzige, nur hier und da durch Sumpfland unterbrochene Strecke tiefsten, wundervollsten Urwaldes bildeten. Zeugen doch von jener Vorliebe des Kaisers für den herrlichen Bannforst noch heute die Ruinen von Dreieichenhain, die Stätte bezeichnend, wo das kaiserliche Jagdschloß stand. Aber die Sage hat eine ganz andere Erklärung noch für den Vorzug des Ortes, einen Reichspalast erhalten zu haben, sowie für den Namen Seligenstadt, eine Erklärung, die uns gewissermaßen in den engsten Kreis der Familienverhältnisse jenes deutschen Kaisers einführt, dem Mit- und Nachwelt den ehrenvollen Beinamen „der Große“ gaben.
Der Liebesroman von Emma, der Tochter des Kaisers, die Eginhard, den Geheimschreiber ihres Vaters, heirathete, ist – wie man wohl sagen darf – ein in aller Welt bekannter. Die uralte Chronik des Klosters Lorsch, dessen gelehrten und fleißigen Mönchen wir so viele interessante Notizen und Berichte aus der fernen Vorzeit verdanken, bewahrte der Nachwelt auch jene anziehende Sage von deutscher Liebe und Treue auf. Der Ort nun, wohin Eginhard und Emma sich wandten, nachdem der Kaiser sie vom Hofe „und aus seinem Angesichte“ verbannt hatte – wo sie Beide lebten, starben und die Stätte ihrer ewigen Ruhe fanden, ist der Ueberlieferung zufolge eben in Seligenstadt und dessen ehemaliger Benedictiner-Abtei zu suchen.
Kaiser Karl der Große hatte sich, so heißt es, mit der Verbannung des jungen Paares selbst am härtesten gestraft. Emma war seine Lieblingstochter, Eginhard sein Günstling. Häusliche Tugenden zierten die junge Prinzessin; nicht umsonst hieß sie nach der fleißigen Biene „Imma“; und eine dieser häuslichen Tugenden wurde des verbannten Kaiserkindes Glück und der Grund zur Aussöhnung mit dem Vater: ihre besondere Meisterschaft in der Kochkunst.
Kaiser Carolus kam auf einem seiner Jagdzüge durch den Dreieich an des Maines Ufer bei Ober-Mühlheim und machte mit seinem Gefolge Rast in der Nähe einer Fischerhütte, die einsam dort am Strande lag, wo nun auf schöner Terrasse die Abtei Seligenstadt sich erhebt. In dem Fischerhäuschen griff die am Herde wirthschaftlich waltende junge Hausfrau in die Functionen des kaiserlichen Kochs ein. Sie kochte einen in Main eben geangelten Fisch auf die Weise, wie sie ihn einst ihrem Vater zubereitet. – Kaum sah der Kaiser die Schüssel, so stieg die Erinnerung an sein verbanntes, seit lange umsonst gesuchtes Kind in ihm auf, und heftig fragte er: „wer den Fisch gekocht habe?“ – Der erschrockene Koch lief auf und davon; der Kaiser eilte zur Hütte und stand jetzt vor der einfach und ländlich gekleideten Frau. Er erkannte sie sofort; sie sank zu seinen Füßen hin, und er nahm sie an sein Herz, in dem sie fortan ihren alten Platz wieder behauptete. Auch mit Eginhard war er ausgesöhnt, als er seine Emma trotz Armuth und Entbehrung so beglückt und zufrieden fand. Damals rief er die Worte aus, welche dem Platze einen neuen Namen geben sollten: „Selig sei die Statt, wo sich meine Tochter wiedergefunden hat!“
Der Ort war seitdem ein geweihter für die drei Glücklichen. Den frommen Gebräuchen einer alten Zeit zu Folge – die an den Stellen, wo dem Menschen Glück und Heil widerfahren, der Gottesverehrung Ausdruck gab – begründeten Eginhard und Emma dort, wo sie den Kaiser und Vater mit sich ausgesöhnt hatten, ein Kloster, die Benedictiner-Abtei Seligenstadt. Anfangs weltlicher Vorsteher derselben, später nach dem 836 erfolgten Tode seiner Gattin Abt, schrieb Eginhard hier die meisten der Werke, welche seinen Gelehrtenruf feststellten, nicht aber seine berühmte Chronik über das Leben Kaiser Karl's des Großen, die ihm schon verschiedene Jahre früher einen Namen machte.
Die Abtei wurde 1802, nachdem sie über tausend Jahre bestanden, aufgehoben und Seligenstadt fiel an den Großherzog von Hessen. Die stattlichen Bauten der Kirche und des sich daran schließenden Convents erheben sich noch heute an ihrer alten Stelle nahe dem Mainufer, nur wenige Schritte von den Ueberresten des Palatium entfernt. Die Kirche beherrscht den Vordergrund des weiten Platzes, und hinter derselben dehnen sich in mächtigem Viereck die langgestreckten Flügel der Klosterbauten. Obgleich Um- und Anbau dem alterthümlichen Gotteshause vielfach schadeten, ist die Kirche mit ihren schönen Thürmen, ihrer großartigen Façade, eine besondere Zierde des Maingebiets. Sie wird neuerdings mit großer Pracht renovirt.
Interessanter – und zu den alten Zeiten und sagenhaften Geschichten passender war die Kirche früher. Es lag damals in dem düstern, tief umschatteten Raume dieser uralten Pfeilerbasilika, die noch ein Atrium besaß, ein geheimnißvoller, ein ganz unsagbarer Zauber. Das Grau der Wölbungen, hie und da der tiefe Verfall, dann die dunklen alten Chor- und Betstühle, der alterthümliche und eigenartige Bilderschmuck – all dieses Dunkle und Düstere paßte prachtvoll zu der Grabstätte inmitten des hohen Chors, zu jenem mit der Krone und dem Kaiserwappen der Karolinger gezierten mächtigen Sarkophage von schwarzem Marmor, den die Sage mit ihren grauen Schleiern umwob.
Im März des Jahres 1872 feierte Seligenstadt einen großen Triumph. Es ging nämlich seit lange die Sage: Eginhard und Emma wären nicht in jenem Marmorsarkophage, sondern zu Erbach im Odenwalde begraben. Wer je den interessanten alten Rittersaal des Erbacher Schlosses durchschritt und unten in der kleinen abgegrenzten Gruft vor dem großen einfachen Steinsarge stand, der wird dort auch gehört haben: „darin ruhen die Stammeltern des gräflich Erbach'schen Geschlechts, Eginhard, Herr und Graf von Erbach, ehemals Geheimschreiber Kaiser Karl's des Großen, und Emma, Eginhard's Gemahlin, des mächtigen Kaisers Lieblingstochter.“
Der Erbacher schlichte Steinsarg, ähnlich dem zu Verona als Ruhestätte Romeo's und Julien's erklärten, befand sich allerdings einst in der Seligenstädter Abteikirche; in ihm aber ruhten, wie die Seligenstädter Ueberlieferung besagte, Eginhard und Emma nur so lange, bis ein prachtliebender Abt einen Marmorsarkophag als passender erachtete für die Tochter und den Schwiegersohn eines großen deutschen Kaisers.
Im März 1872 nun, vor der Renovirung des hohen Chors, wurde der Marmorsarkophag von seinem alten Platze entfernt. Er kam in einen niedrigen Anbau im hohen Chor, in das sogenannte Kirchenarchiv. Dieses ist jetzt zur Capelle umgewandelt und durch offenen Eingang mit der Kirche verbunden. Vor der Veränderung des Platzes öffnete man den Sarkophag in Gegenwart einer dazu eingeladenen Commission, die aus verschiedenen höheren hessischen Beamten und Würdenträgern der Kirche bestand. Man legte dieser Commission zuvörderst ein altes Urkundenbuch der Abtei vor, in welchem Seligenstädter Klosterbrüder über eine gleiche Nachforschung nach den Gebeinen der berühmten Todten aus den Jahren 1607 und 1722 berichtet haben.
Nach hundertfünfzig Jahren stand man also abermals an dem uralten Grabe zu einem gleichen Zwecke versammelt. Der Wunsch, den alten Streit endlich beigelegt zu sehen, mochte diese letzte Nachforschung angeregt haben. Dieselbe fiel zu glänzender Rechtfertigung des alten Urkundenbuches aus; denn bis auf's Kleinste stimmten seine Angaben mit dem Inhalt sowohl des Sarkophags wie der darin ruhenden Documente überein. Der Anfang des neuen, vor Zeugen aufgenommenen Berichtes über den Befund, welcher Bericht von allen Anwesenden unterzeichnet wurde, mag hier wortgetreu folgen:
„Nach Hinwegnahme der marmornen Deckelplatte des Sarkophags erblickten wir, ungefähr ein Fuß tiefer, eine Bretterlage, und nach deren Entfernung wurde eine sargähnliche Lade sichtbar, die mit zwei Siegeln, denen des Abts Peter des Vierten Schultheiß, versehen war. Im Innern war diese Lade durch eine Querleiste in zwei Abtheilungen getheilt. In der einen derselben, gegen den Hochaltar hin, lagen zwei schwarzseidene Säckchen, an deren eines eine kleine Pergamentrolle angebunden; außerdem befand sich hier ein Stück schwarzen Zeuges aus ripsartigem Stoffe und ein Stück durchlöchertes Leinen. – In der andern, nach dem Schiff der Kirche gerichteten Abtheilung fanden sich, [283] in ein Stück schwarzen Seidenzeugs eingeschlagen, eine Reihe von Gebeinen in Ordnung neben einander liegend. Unter diesen lag eine schwarze Dalmatika mit einem einzelnen rothseidenen Längestreifen über Brust und Rücken. Darunter zwei Stücke Seidenzeug, welche je aus zwei rothen und von diesen umschlossenen gelben Streifen bestanden und deren Nähte durch einen schmalen blaugefärbten Lederstreifcn gedeckt waren. Unter diesen lag wiederum ein Stück Leinen in verblaßten Farben. In ein ähnliches Stück Leinen waren die Gebeine eingeschlagen, welche das eine schwarze Säckchen enthielt. Beide Stücke waren auf den Nähten und inmitten der Streifen, nach einer gewissen Ordnung, mit Lederstückchen besetzt.“
Hiermit und mit den beiliegenden Documenten war der Inhalt des Sarkophags erschöpft. Nach dem Wortlaut dieser alten Documente, die von vielen Conventualen unterzeichnet, waren die Gebeine als die von drei Personen: eines älteren Mannes, einer älteren Frau und einer im jugendlichen Alter Verstorbenen, näher recognoscirt, die beiden Ersteren als die von Eginhard und Emma, die der Jugendlichen als die einer Gisla. Die Gebeine Eginhard’s lagen frei auf der Dalmatika, jene anderen in den beiden Säckchen. Der Pergamentstreifen an dem einen dieser Säckchen trug die Worte: „Ossa Dominae Gisla pia memoria.“ Wer diese junge Herrin war, ist nicht gesagt. Man vermuthet: eine Tochter von Eginhard und Emma. Dieser Gisla Andenken bewahrt auch noch das nahe bei Seligenstadt gelegene Dorf Zellhausen, wo Emma und Gisla als „fromme Beterinnen und Wohlthäterinnen der Armen“ im Erinnern fortleben.
Nach dieser letzten Sarkophag-Eröffnung wurde Seligenstadt abermals eine besuchte Wallfahrtsstätte, nur daß fortan nicht mehr, wie in früheren Jahrhunderten, die Gebeine der heilig gesprochenen Märtyrer: „Marcellin und Peter“ die Menschen dahin zogen – sondern die Grabstätte des berühmten Liebespaares den Magnet bildete. Freilich darf nicht verschwiegen werden, daß, nachdem der Streit zwischen Seligenstadt und Erbach zur Ruhe gekommen, ein anderer noch nicht schweigt: der Streit, ob Emma auch in Wahrheit eine Tochter Karl’s des Großen gewesen. Nun: die gefundenen Urkunden gehen mit den alten Sagen und den Insignien auf dem Sarkophage Hand in Hand, und ein Ausspruch des berühmten Rhapsoden Dr. Jordan lautet dahin: „die alte Sage sei treuer und zuverlässiger, als die alte Geschichte“.[1]
Weniger glücklich, als die Kirche, deren Restauration bereits weit vorgeschritten, sind die anderen Baureste der alten Abtei daran; sie bleiben vorläufig dem Verfall überlassen.
Das Prälaturhaus, das von allen Bauten des ehemaligen Convents das wohlerhaltenste ist, zeigt noch zur Zeit die „Kaiserzimmer“. Bieten sie auch dem Auge die entsetzlichsten Spuren der Verwüstung, so tragen sie doch auch auf der andern Seite noch den Stempel ihrer einstigen Pracht in Stuckaturarbeit und vergoldeten Ledertapeten. Einer der Säle hat seinen Wandschmuck in alten Oelgemälden bewahrt. Diese, sowie die Fresken in anderen Räumen, weisen fromme oder gelehrte Motive auf. Die Abtei besitzt auch ein altes Bild von Eginhard und Emma, das Kaiser Leopold sich copiren ließ. Ein anderes Gemälde ist der Portraitstammbaum aller Aebte, von Eginhard ab bis in’s achtzehnte Jahrhundert.
Das ganze Terrain des Klosters ist von hohen Mauern umgeben, welche alterthümliche, mit Wappen und Statuen verzierte Portale schmücken. Im Refectorium erreichte die Verwüstung den Höhegrad. Die prachtvolle, weit und hoch gewölbte Halle ist jetzt ein Holzschuppen. Und dabei steht noch am Eingange das schöne Weihbecken von Marmor; es berührt ebenso eigen, wie die Reste der Wandmalereien, wo Bischöfe in vollem Ornat den Stab segnend über Holz und Gerümpel neigen. Geradezu erschütternd aber wirkt in dem Raume, an dem zerbröckelten Pfeiler eines Fensterbogens, der letzte Ueberrest eines Gesichts: ein großes weitaufgeschlagenes Auge. Es starrt uns so ernst, so vorwurfsvoll an, daß man erschrocken, bestürzt zurückweicht.
Möchte Hessens Behörde diesen vorwurfsvollen Blick doch auf sich beziehen und durch ihn bewogen werden, der so stark um sich greifenden Verwüstung in der alten Eginhard’schen Abtei Einhalt zu thun!
Wie die Abtei ihre Wandlungen erfahren hat, so auch das Palatium. Die historische Stätte des alten Reichspalastes erkor sich ein speculativer Verfertiger guten Bieres zur Brauerei, und am Ende der letzten alt-interessanten Mauerwand zieht sich, unterhalb mächtiger Quadern und zierlicher Pilaster und Säulen, in friedlich einfacher Holzbedachung eine Kegelbahn hin. „Mainlust“ heißt zur Zeit der Ort, der Garten, wo man sich nach allen historischen Kreuz- und Querzügen durch Seligenstadt ausruhen und erquicken kann. Der „Mainlust“ gegenüber liegt am Saume des Alzenauer Freigerichts Dettingen, und blicken wir in die weite Ebene, so haben wir das Schlachtfeld vor uns, auf welchem 1743 die Pragmatische Armee unter König Georg dem Zweiten von England einen so blutigen Sieg über die Franzosen erfocht. Kirchhöfe der Umgegend bewahren auf alten Leichensteinen noch die Namen manches Opfers der Schlacht. Auch der dreißigjährige Krieg sandte seine verheerenden Horden in die Gegend, die nun den Stempel eines tiefen Friedens trägt und unter seinen Segnungen blühend gedieh.
Der Ort Seligenstadt selbst weist nur zwei mehr als zweifelhafte Erinnerungen an die Zeit Eginhard’s auf.
Im Innern des Städtchens trägt ein uraltes Giebelhaus als Wahrzeichen einen Kopf. Die Einen deuten denselben dahin: „Das ist Kaiser Karl, der nach seiner Tochter ausschaut.“ Andere wiederum erzählen die Geschichte vom Fische und Koch mit einer Miene, als habe sie sich am Tage zuvor zugetragen, und sie enden den Bericht mit den Worten: „Bis hierher lief der Koch in seinem Schrecken, und das Haus, das nun hier steht, nahm seinen Kopf als Wahrzeichen.“ Im Gasthause „Zur Krone“ aber bewahrt man einen kunstvoll geschnitzten Löffel mit Kette. Aus dem soll Karl der Große getrunken haben. Interessant ist das durch ein altes Fremdenbuch nachgewiesene Factum, daß Peter der Große, als er im Juni 1698 auf seiner Reise nach Rom in Seligenstadt übernachtete, jenen Carolus-Löffel als Becher benutzte. Auch andere deutsche Kaiser tranken daraus, die auf ihren Reisen zur Kaiserkrönung nach Frankfurt in Seligenstadts Abtei Rast machten.
Als wir vor Kurzem wiederum mit Freunden und Verehrern der altdeutschen Sage in Seligenstadt waren, nahmen wir von da aus den Rückweg nach Frankfurt über Dreieichenhain. Die dichten und dunkeln Fichten- und Föhrenwaldungen, die sich von Seligenstadt gen Offenbach erstrecken, die Laub- und Nadelwaldungen, welche wiederum gen Langen, Isenburg und Dreieichenhain sich hindehnen – es sind noch immer herrliche Waldbestände. Um Dreieichenhain haben sogar, woran der Name erinnert, noch die deutschen Eichenwaldungen ihr Reich. Vergebens aber sucht man unter den alten Baumriesen nach jenen berühmten „drei Eichen“, einer alten Gerichtsstätte. Wo jetzt der Kirchplatz von Langen ist, sollen sie einst ihren Platz gehabt haben. Dafür besitzt Dreieichenhain eine sehr schöne Burgruine. Dort stand, wie schon bemerkt, ehemals das Jagdschloß Karl’s des Großen, und dort rasteten nach der Sage Eginhard und Emma auf ihrem Verbannungswege. Unterhalb der Ruinen zieht sich ein Weiher entlang. Auch in seine Fluth senkte Fastrada, das von Kaiser Karl so glühend geliebte Weib, einen Zauberring, ihn wieder an die Stelle zu locken und da zu bannen, wo sie so glücklich mit ihm gewesen. Des Ringes Zauber wirkt der Sage nach noch immer. Wer die klare Fluth des stillen Wassers einmal erschaute, den zieht es wieder zur Stelle. Und wer ließe sich nicht gern zu jenen Eichenwäldern locken – in jene alten, sagenumsponnenen Ruinen, wo schon die Römer ein Castrum erbaut hatten! Man weist die Ansiedelung der Römer zu Seligenstadt und Dreieichenhain um die Zeit nach, wo Kaiser Trajan begann, die Südseite des Mainstromes ebenso zu befestigen, wie man zu Drusus’ Zeiten seiner nördlichen Linie entlang Castelle erbaut und Pfahlgräben angelegt hatte. Wo jetzt in Seligenstadt, nahe der Abteikirche und dem Palatium, ein alter Mainthorthurm aufragt, soll ehemals sich eines der vier Thore eines römischen Castrum befunden haben: die Porta Sinistra.
Ein hessischer Chronist führt sogar an: in Seligenstadt wäre schon ein Theil der 22. römischen Legion detachirt gewesen, [284] die bei der Zerstörung Jerusalems betheiligt war. Durch aufgefundene Votivsteine weist er das nach.
Der anmuthige Liebesroman von dem Geheimschreiber Eginhard und der Kaisertochter hat neuerdings eine reizvolle, vielbewunderte Darstellung von Künstlerhand gefunden. Zu Ingelheim am Rhein, wo einst das Palatium Karl’s des Großen stand, erhebt sich zur Zeit die Villa des Baron Erlanger, und ihren Hauptschmuck bilden im Innern jene Darstellungen des Offenbachers Leopold Bode, zu welchen bei ihrer Ausstellung im Städel’schen Institut in Frankfurt am Main die Menschen tausendweis drängten. Jetzt zieht jener Sagencyclus die Rheintouristen nach Ingelheim; und Viele, Viele wandern von da, wo sie das Liebesleben von Eginhard und Emma im Bilde geschaut, an ihr Grab in der einsam gelegenen Abteikirche zu Seligenstadt.
- ↑ Wir unsrerseits ziehen es vor, uns an das Resultat der kritischen Geschichtsforschung zu halten. Nach demselben hat Eginhard allerdings die Abtei Seligenstadt gebaut, aber auf einem 815 ihm von Ludwig dem Frommen (Kaiser Karl starb 814) geschenkten Territorium, und seine Gemahlin Emma oder Imma, mit welcher er sich in die Abtei zurückzog, war nicht eine Tochter Karl’s, sondern die Schwester des Bischofs Bernhard von Worms. Eginhard (oder Einhard) starb am 14. März 840.
D. Red.