Das Haftpflichtgesetz und seine Revision

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Autor: Karl Biedermann
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Titel: Das Haftpflichtgesetz und seine Revision
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17, 20, S. 278–280, 320–324
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[278]
Das Haftpflichtgesetz und seine Revision.
Von K. Biedermann.

Die moderne Industrie hat durch eine gründliche Arbeitstheilung, durch die Einführung zahlloser Maschinen, vor Allem dadurch, daß sie die elementaren Naturkräfte in ihren Dienst zwang, ihre Wirkungen verhundert-, ja vertausendfacht. Allein neben der Lichtseite steht auch eine Schattenseite. Mit der Kühnheit ihrer Unternehmungen, mit der Massenhaftigkeit der Stoffe, die sie bewältigt, mit der fieberhaften Hast, mit welcher die Maschinen und die zu ihrer Bedienung verwendeten Menschenhände arbeiten müssen, sind auch die Gefahren für Gesundheit und Leben der dabei beschäftigten Millionen von Arbeitern wesentlich gestiegen. Ganz besonders aber sind es eben jene in den Dienst des Menschen gezwungenen Elementarkräfte, welche nicht selten gegen ihn selbst ihre zerstörende Macht richten und so sich gleichsam rächen für die Herrschaft, die der Menschengeist über sie ausübt. „Denn,“ wie schon der Dichter singt, „die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand.“ Der Dampf allein, dieser Riese im Schaffen, solange er dem Menschen gehorcht, dieser furchtbare Dämon, sobald er seine Fesseln sprengt, hat Tausende und aber Tausende von Leben vernichtet. Ja auch schon seine regelrechten Functionen im Umtriebe von Rädern verleihen den von ihm in Bewegung gesetzten Maschinen eine solche Schnellkraft, daß die mit denselben in Berührung kommenden Menschen immerfort in Gefahr schweben, von ihnen erfaßt, beschädigt, wo nicht verstümmelt oder zermalmt zu werden. Nicht am wenigsten sind es ferner auch jene unterirdischen, unberechenbaren, unheimlichen Elementargeister der giftigen Dämpfe und der sogenannten schlagenden Wetter, welche leider so häufig Menschenopfer, und zwar gewöhnlich gleich massenweise, fordern.

Den Gefahren, welchen somit die im Dienste der modernen Industrie arbeitende Bevölkerung tagtäglich ausgesetzt ist, kann freilich vielfach vorgebeugt werden durch Vorsicht, und zwar auf Seiten der Arbeiter wie der Unternehmer. Leider aber wird diese Vorsicht beiderseits nur zu oft vernachlässigt.

Von einem sehr großen Theile aller der Unglücksfälle in Fabriken etc. läßt sich mit ziemlicher Sicherheit constatiren, daß er nur durch Unvorsichtigkeit oder Leichtsinn der Arbeiter selbst [279] herbeigeführt worden. Es ist dies um so schlimmer, als durch derartige Unvorsichtigkeiten oft nicht blos Diejenigen, welche sich solcher schuldig machen, sondern auch zahlreiche Andere, die daran unschuldig waren, verunglücken.

Indeß, dagegen läßt sich (abgesehen von den auf erweislich grobe Fahrlässigkeit unter Umständen fallenden criminellen Strafen) wenig oder nichts thun, außer der immer auf’s Neue wiederholten dringenden Ermahnung zur Vorsicht an die Arbeiter.

In vielleicht ebenso vielen Fällen mag aber auch ein Verschulden der Unternehmer oder ihrer Angestellten die Ursache von Körperverletzungen oder gar Tödtungen von Arbeitern sein. Und hier ist es nicht nur möglich, sondern hier heischt es auch die Gerechtigkeit: sobald durch Jemandes Verschulden Personen beschädigt wurden, welche seiner Leitung sich anvertrauten, welche in seinem Dienste gearbeitet und mit dem Aufgebot ihrer Kräfte ihm genützt haben, denselben dafür haftbar zu machen, daß er (abgesehen von einer etwaigen strafrechtlichen Verantwortung) die also Beschädigten möglichst ausreichend für den erlittenen Verlust schadlos halte.

In den Gesetzgebungen der großen Industriestaaten England und Frankreich war eine solche Haftpflicht der Unternehmer für die durch ihr Verschulden herbeigeführten Unglücksfälle schon längst ausgesprochen, und die Praxis der dortigen Gerichte hatte die Wirkung, daß oft sehr bedeutende Summen (zumal bei Massenunfällen, z. B. auf Eisenbahnen) gezahlt werden mußten. In Deutschland fehlte es, so lange es überhaupt noch keine gemeinsame Rechtsgesetzgebung gab, selbstverständlich auch hierfür an irgendwie ausreichenden Bestimmungen.

Die einzelnen Landesgesetzgebungen machten zwar wohl größtentheils den Unternehmer oder Arbeitgeber haftbar für Unfälle, die unmittelbar er selbst verschuldet hatte, nicht aber (oder doch nur unter ganz besonderen Voraussetzungen) für solche, die durch Verschuldungen seiner Angestellten veranlaßt waren; da nun bei allen größeren Betrieben (bei Eisenbahnen Bergwerken, Fabriken) selten oder nie der Unternehmer selbst, vielmehr nur die von ihm angestellten Personen die eigentliche Leitung des Betriebes haben, so konnte nach jenen Gesetzen in den seltensten Fällen eine gesetzliche Verpflichtung des Unternehmers zur Schadloshaltung der in seinem Unternehmen Verunglückten nachgewiesen werden.

Durch das preußische Gesetz über die Eisenbahnen von 1838 wurde zuerst für dieses sehr bedeutende Gebiet industrieller Unternehmungen eine umfassendere Haftpflicht, und zwar eine sehr strenge, eingeführt; denn nach jenem Gesetz hafteten die Unternehmer von Eisenbahnen (also die Actiengesellschaften) für jeden beim Betriebe derselben vorkommenden Unglücksfall, sobald sie nicht nachweisen konnten, daß entweder eine sogenannte „höhere Gewalt“ (z. B. ein Bergsturz, der einen Wagenzug zertrümmert, oder ein Blitzstrahl, der in einen solchen eingeschlagen, oder eine plötzliche, nicht abzuwendende Unterwaschung der Schienen und dergleichen), oder daß das eigene Verschulden des Verunglückten dessen Beschädigung verursacht habe.

Noch in zwei anderen Beziehungen waren die deutschen Landesgesetzgebungen über Haftpflicht unzureichend. Für’s Erste enthielten sie nichts Genügendes über die Höhe der Entschädigung, und so kam es, daß, wenn einmal ein Unternehmer zu einer solchen verurtheilt ward, die zu zahlende Summe selten viel mehr betrug, als die Curkosten eines Beschädigten, die Beerdigungskosten eines Getödteten und höchstens noch den Arbeitslohn des Verunglückten auf eine kurze Zeit. Sodann aber war (abgesehen von den unter das preußische Eisenbahngesetz fallenden Vorkommnissen) für den Beschädigten der Beweis, daß der Unternehmer an der Beschädigung Schuld trage, äußerst schwer, meist gar nicht zu führen, weil die deutschen Proceßgesetze insgesammt für eine solche Beweisführung höchst peinliche, nur selten zu erfüllende Erfordernisse aufstellten.

Es war somit für Deutschland, dessen Industrie je länger je mehr an Maschinenkraft und Fabrikbetrieb mit der englischen und französischen wetteiferte, das höchste Bedürfniß vorhanden, auch in Bezug auf den Schutz der Arbeiter gegen die mit diesem Industriebetriebe verbundenen Gefahren ähnliche gesetzliche Bestimmungen zu treffen, wie sie in jenen Ländern längst bestanden. Und weil eine gemeinsame Gesetzgebung des Reichs über den Proceß und vollends über das bürgerliche Recht noch in weiter Aussicht stand, mußte zunächst durch ein besonderes oder sogenanntes Specialgesetz diese Materie der Haftpflicht geordnet werden.

Die erste Anregung zum Erlaß eines solchen „Haftpflichtgesetzes“ für’s ganze Reich ging von Leipzig aus, und zwar nicht, wie man vielleicht denken könnte, aus der Mitte der Arbeiter, etwa in Folge der seit 1863 lebhafter gewordenen und hauptsächlich von Leipzig aus betriebenen Arbeiterbewegung, vielmehr aus einem Kreise von Besitzenden, die dem größeren Theile nach Arbeitgeber waren. Eine Versammlung der nationalliberalen Partei in Leipzig war es, welche an den norddeutschen Reichstag von 1868 eine von Dr. Hans Blum verfaßte, von dem Verfasser dieses Aufsatzes angeregte Petition in diesem Sinne richtete.

Der Reichstag übergab diese Petition („Biedermann und Genossen“) einstimmig dem Reichskanzler zur Berücksichtigung. In Folge dessen gelangte denn an den ersten gesammtdeutschen Reichstag im Jahre 1871 eine Vorlage der verbündeten Regierungen, welche es unternahm, die Haftpflicht wenigstens für eine Reihe von Gewerbebetrieben in solcher Weise zu normiren, daß den Arbeitern, beziehentlich deren Hinterlassenen, eine möglichst ausreichende Entschädigung für Körperverletzungen oder Tödtungen gesichert sei.

Allerdings beschränkte das Gesetz, wie es damals zu Stande kam, den Umkreis der Gewerbebetriebe, die unter dasselbe fallen sollten, auf: Eisenbahnen, Bergwerke, Steinbrüche, Gräbereien und Fabriken, ließ also alle übrigen Gewerbebetriebe unberücksichtigt, von denen manche, wie z. B. die Baugewerke, der Mühlenbetrieb, ja auch einzelne Zweige der Landwirthschaft, kaum minder gefährlich sind, als jene oben aufgezählten. Anträge auf Hereinziehung noch anderer Gewerbe wurden zwar im Reichstage gestellt, aber von der Majorität zurückgewiesen. Man glaubte sich zur Zeit auf das Allernothwendigste beschränken zu müssen, um so mehr, als damals (1871) der Reichsgesetzgebung die Competenz in Sachen des bürgerliche Rechts – mit Ausnahme des Obligationenrechts – noch nicht zustand.

Immerhin war es als ein wesentlicher Fortschritt zu Gunsten der arbeitenden Classen zu bezeichnen, daß wenigstens in jenen unstreitig gefährlichsten Gewerbebetrieben die Unternehmer für Beschädigungen ihrer Arbeiter oder auch dritter Personen ausdrücklich haftbar gemacht und zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet wurden, und zwar bei den Eisenbahnen (§ 1) – ganz nach dem Muster des preußischen Gesetzes von 1838 – in allen den Fällen, wo sie nicht entweder „höhere Gewalt“ oder eigenes Verschulden des Beschädigten nachzuweisen vermöchten, bei den anderen Gewerbebetrieben aber nicht mehr blos (wie nach den Landesgesetzen) bei einem Verschulden des Unternehmers, sondern auch in den Fällen, „wenn (wie es in § 2 des Gesetzes wörtlich heißt) ein Bevollmächtigter oder Repräsentant, oder eine zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommene Person durch ein Verschulden in Ausführung der Dienstverrichtungen den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen herbeigeführt hat“.

Eben so wichtig war der zweite Fortschritt, den das Haftpflichtgesetz über die bisherige Gesetzgebung hinaus in Betreff der Höhe der zu leistenden Entschädigungen that. Es setzte nämlich (in § 3) fest: der zu leistende Schadenersatz müsse, abgesehen von der Erstattung der Heilungs- oder Beerdigungskosten, bestehen „in der Erstattung des gesammten Vermögensnachtheils, welchen ein Verletzter durch eine in Folge der Verletzung eingetretene Erwerbsunfähigkeit, oder welchen eine Person, zu deren Unterhalt der durch Unfall Getödtete vermöge Gesetzes verpflichtet war, durch dessen Tod erleidet“.

Es sei hier sogleich bemerkt, daß diese Gesetzesbestimmung von den Gerichten, mindestens von dem als oberster Gerichtshof für alle diese Sachen bestellten Reichsoberhandelsgericht, dahin ausgelegt worden ist, daß ein Beschädigter durch den haftpflichtigen Unternehmer jedenfalls in der Art schadlos gehalten werden muß, daß er dasselbe Einkommen fortbezieht, welches er vor seiner Körperverletzung bezog, bei Tödtungen aber denjenigen Personen, welche zu unterhalten der Getödtete gesetzlich verpflichtet war (z. B. der Frau und den Kindern), der Unterhalt in dem gleichen Maße, wie sie solchen von ihrem Ernährer bezogen, fortgewährt wird.

Ein vielumstrittener Punkt bei Berathung des Haftpflichtgesetzes im Reichstage war der wegen der sogenannten Beweislast. Wer soll den Beweis zu führen haben, ob ein Verschulden des Unternehmers, beziehungsweise eines seiner Angestellten, vorliege [280] oder nicht: der Beschädigte oder der Unternehmer? Die Gesetzvorlage sagte – allerdings in Uebereinstimmung mit den hergebrachten Rechtsgrundsätzen –: der Beschädigte. Dagegen ward von vielen Seiten geltend gemacht: dann werde der Beweis in den meisten Fällen gar nicht erbracht werden; denn wie solle z. B. bei einem Unglücksfall durch schlagende Wetter in einem Bergwerke, wo gewöhnlich die Unglücksstätte selbst zerstört oder verwüstet ist, nachträglich bewiesen werden, ob etwas und was von Seiten des Unternehmers oder seiner Angestellten versehen worden sei? Es ward daher mehrfach im Reichstage beantragt: der Unternehmer (eines Bergwerks, einer Fabrik) solle jedes Mal nachzuweisen haben, daß von seiner Seite und von seinen Angestellten nichts versäumt oder vernachlässigt worden sei, was dazu hätte dienen können, den Unglücksfall abzuwenden. Er sei, wurde behauptet, dann immer noch besser daran, als eine Eisenbahngesellschaft, welche ohne Weiteres als schuldig und daher haftbar betrachtet werde, sobald sie nicht höhere Gewalt oder eigenes Verschulden der Beschädigten nachweise.

Indeß auch diese Anträge wurden verworfen, und so blieb es bei der dem Beschädigten (beziehentlich dessen Hinterlassenen) obliegenden Beweislast. Zum Troste dafür ward von den Vertheidigern der Vorlage gesagt: indem das Gesetz für alle haftpflichtigen Fälle die alte, beengende Beweistheorie in Wegfall bringe und den erkennenden Gerichten das allerfreieste Ermessen einräume sowohl hinsichtlich der Schuldfrage selbst, wie hinsichtlich der Höhe des Schadenersatzes (und das that es allerdings in den §§ 6 und 7), gebe es den Gerichten die Möglichkeit, auch ohne eine strenge Beweisführung von Seiten des Beschädigten diesem eine Entschädigung zuzusprechen, wenn sie nach ihrer wohlerwogenen Ueberzeugung, nach allen vorliegenden oder von ihnen auf eigene Hand ermittelten Umständen die Ansicht gewännen, daß ein Verschulden des Unternehmers oder eines seiner Beauftragten vorliege. Wir werden später (in einem zweiten Artikel) sehen, daß die Hoffnung: die Gerichte würden dem Beschädigten, trotz der für ihn so sehr erschwerten Beweisführung, dennoch zu seinem Rechte verhelfen, wenigstens in vielen Fällen keine vergebliche gewesen ist.

Auf eine besondere Bestimmung des Gesetzes, welche nicht in der ursprünglichen Vorlage enthalten war, sondern erst vom Reichstage hineingebracht ward, auf den vielberufenen § 4, der unter gewissen Voraussetzungen die Kranken-, Knappschafts- und ähnliche Cassen bei der Entschädigung haftpflichtiger Unfälle in Mitleidenschaft zieht, wollen wir hier nicht näher eingehen, wir bemerken nur, daß die mit diesem Paragraphen gemachten Erfahrungen uns für eine Beseitigung desselben zu sprechen scheinen.

Fassen wir alle diese Momente in’s Auge, so werden wir sagen müssen, daß das Haftpflichtgesetz von 1871 allerdings manche wichtige Verbesserungen der bisherigen Gesetzgebung enthielt und daß es entweder Unwissenheit oder böswillige Absicht verrieth, wenn socialistische Agitatoren dasselbe als ein für die Arbeiter ganz werthloses, ja wohl gar als ein ihnen nachtheiliges verschrieen, daß es aber auf der andern Seite sehr begreiflich ist, wenn dieser erste Ansatz zu einer gesetzgeberischen Regelung der Materie für das ganze Reich – und das war das Haftpflichtgesetz – noch unvollkommen und lückenhaft blieb. Seit dessen Inslebentreten sind nun nahezu neun Jahre vergangen, und zahlreiche Erfahrungen sind mit Anwendung des Gesetzes gemacht worden; inzwischen ist auch die Gemeinsamkeit der Rechtsgesetzgebung für das ganze deutsche Reich in allen Theilen mit alleiniger Ausnahme des bürgerlichen Rechts bereits verwirklicht worden, und auch für letzteres ist wenigstens die Competenz des Reichs zweifellos und festgestellt.

Genug, es scheint an der Zeit, an eine Revision des Haftpflichtgesetzes Hand zu legen, und es sind denn auch mehrfache Anregungen dazu bereits erfolgt, theils in der Form von Anträgen, Interpellationen u. dergl. m. im Reichstage selbst, theils auf dem Wege der Petition von außerhalb desselben. Jene ersteren bezweckten theils eine Erweiterung des Kreises der haftpflichtigen Gewerbe, theils Aenderungen in Bezug auf die Beweislast. In letzterer Beziehung ist unseres Wissens wiederum Leipzig mit gutem Beispiel vorangegangen; von da aus sind in jüngster Zeit gleichzeitig zwei ihrem Inhalte nach ziemlich ähnliche Petitionen um Erweiterung des Haftpflichtgesetzes an den Reichstag gerichtet worden, die eine von der „Gemeinnützigen“, die andere von der „Polytechnischen Gesellschaft“, also beide wiederum aus dem Kreise der Besitzenden, beziehentlich der Arbeitgeber.

Nur die erstere ist bisher veröffentlicht worden. Sie erbittet eine Erweiterung des wichtigen § 2 des Haftpflichtgesetzes nach zwei Seiten hin, einmal durch Aufnahme sämmtlicher Gewerbe, einschließlich der Landwirthschaft, in das Gesetz, zweitens durch eine erleichterte Beweisführung zu Gunsten der Beschädigten. Nach dieser Petition wäre § 2 so zu fassen:

„Jeder Unternehmer eines gewerblichen Betriebes – einschließlich der Landwirthschaft – haftet für den Schaden, der dadurch entsteht, daß im Betriebe seines Gewerbes durch sein Verschulden ein Mensch getödtet oder körperlich verletzt wird. Desgleichen haftet ein solcher, wenn er eine auf Schadensverhütung abzielende polizeiliche Anordnung der zuständigen Behörde vernachlässigt hat, für alle körperlichen Unfälle, welche durch Beobachtung der betreffenden Anordnung hätten vermieden werden können, ebenso, als hätte er dieselben verschuldet, wofern er nicht nachweist, daß der Unfall auch bei Beobachtung der polizeilichen Anordnung nicht hätte verhütet werden können. Endlich haftet derselbe auch für den unter gleichen Voraussetzungen von einem Bevollmächtigten oder Repräsentanten oder einer zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommenen Person durch ein Verschulden in Ausführung der Dienstverrichtungen herbeigeführte Schaden.“

In dem jetzigen Stadium, wo eine Revision, eine Erweiterung oder Ergänzung des Haftpflichtgesetzes von 1871 seitens der Reichsgewalten in ziemlich sicherer und wohl auch nicht ferner Aussicht steht, schien es uns angemessen, die öffentliche Meinung und insbesondere die bei diesem Gesetze zunächst Betheiligten, Arbeitgeber und Arbeiter, über diese Materie – in Bezug auf welche zum Theil noch so manche irrige Ansichten und so manche vorgefaßte Meinungen bestehen – so viel wie möglich zu orientiren und aufzuklären. Und es konnte dies wohl nirgends besser geschehen, als in der überall hin, selbst bis in die Wohnungen der Arbeiter verbreiteten „Gartenlaube“.

Wir beschränken uns für heute auf die obigen Andeutungen über den Inhalt, die Tragweite, die Vorzüge und die Mängel des bestehenden Haftpflichtgesetzes, so wie über die bereits gegebenen Anregungen zu Abänderungen desselben. In einem zweiten Artikel, der bald folgen soll, gedenken wir über die bisherigen praktischen Wirkungen des Haftpflichtgesetzes Einiges beizubringen.

[320] Der erste Theil dieses Aufsatzes (in Nr. 17) sprach im Hinblick auf die Revisionsbedürftigkeit des Haftpflichtgesetzes die Hoffnung aus, daß eine Revision desselben in nicht ferner Zeit erfolgen werde. Allein vor der Hand besteht das Gesetz noch in der Gestalt fort, in welcher es 1871 erlassen wurde, und muthmaßlich dürfte es auch noch in allernächster Zeit unverändert fortbestehen, da wohl frühestens beim nächstjährigen Reichstag eine Revision zu erwarten steht. Unter diesen Umständen mag es denn nicht überflüssig sein, zu untersuchen, welche Wirkungen das Haftpflichtgesetz bisher gehabt hat und voraussichtlich auch, so lange es seine gegenwärtige Gestalt behält, noch haben wird. Denn für die dabei Betheiligten ist es nicht gleichgültig, wie das Gesetz in der Praxis wirkt, da es von der Kenntniß dieser Wirkungen wesentlich mit abhängt, ob ein Beschädigter eine gerichtliche Klage auf Entschädigung glaubt anstrengen zu sollen, oder ob er vorzieht, sich in Güte mit dem Unternehmer zu einigen, umgekehrt; ob der Letztere es auf einen Proceß ankommen lassen, oder im Wege der Güte eine angemessene Entschädigung dem Verletzten, beziehungsweise den Hinterlassenen eines Getödteten, gewähren soll.

Die bisher in Bezug auf Unglücksfälle gemachten Beobachtungen scheinen darzuthun, daß einerseits öfters Processe auf Grund des Haftpflichtgesetzes angestrengt werden, deren Erfolglosigkeit vorauszusehen war (z. B. in den Fällen, wo die Verletzung zweifellos durch eine Unvorsichtigkeit des Verletzten selbst herbeigeführt ward), andererseits Beschädigte oder deren Familien von dem Anspruch auf Entschädigung, den die Gesetzgebung ihnen gewähren wollte, keinen Gebrauch machen, entweder weil sie das Gesetz überhaupt nicht genügend kennen, oder weil sie der vorgefaßten Meinung sind (in welcher sie leider durch gewissenlose Agitatoren bestärkt werden, welchen die Verhetzung der Arbeiter mehr gilt, als deren materielles Wohl), als ob ein solcher Anspruch wohl auf dem Papier stände, in der Praxis aber niemals durchzuführen wäre.

[322] In dieser Beziehung wird hoffentlich das öffentliche Gerichtsverfahren, welches seit Einführung der großen Reichsjustizgesetze auch im Civilprocesse zur Anwendung kommt, wohlthätig wirken. Die Entscheidungen und die Entscheidungsgründe der Gerichte in Haftpflichtsachen werden allmählich mehr und mehr bekannt werden, und es wird sich so nach und nach in Volkskreisen eine deutlichere Kenntniß des Gesetzes und seiner Anwendung herausbilden.

Bisher waren es fast nur Erkenntnisse der Gerichte höherer Instanz, und vornehmlich der höchsten, welche in die Oeffentlichkeit gelangten. Allerdings sind aber auch gerade diese Erkenntnisse ganz besonders wichtig und werden es auch künftig sein, da ja unter Umständen Jeder, der einen Proceß auf Grund des Haftpflichtgesetzes anstrengt, oder gegen den ein solcher angestrengt wird, in die Lage kommen kann, im Wege der Berufung an diese höchste Instanz zu appelliren, da ferner mit Grund anzunehmen ist, daß die unteren und mittleren Gerichte bei ihrer Auslegung des Haftpflichtgesetzes sich nach den in ähnlichen früheren Fällen ergangenen Entscheidungen der obersten Instanz mehr und mehr richten werden. Es dürfte daher wohl in der Aufgabe eines so vielverbreiteten und den Interessen aller Schichten des Volkes gewidmeten Blattes wie die „Gartenlaube“ liegen, zum Bekanntwerden wenigstens einiger besonders wichtiger Erkenntnisse dieser Art auch in weiteren Kreisen beizutragen.

Bis zum 1. October 1879 war die höchste Instanz in allen Haftpflichtprocessen das Reichsoberhandelsgericht; seit dem 1. October 1879 ist es das Reichsgericht. Von jenem ersten liegt eine größere Reihe von Erkenntnissen in Haftpflichtsachen aus einer fast achtjährigen Praxis vor; aber auch dieses letztere, obschon seine Thätigkeit noch nicht einmal so viel Monate alt ist, hat doch schon eine Anzahl solcher Fälle entschieden. Die von Dr. Hans Blum unter Mitwirkung von Dr. Karl Braun bei Duncker und Humblot in Leipzig herausgegebenen „Annalen des Reichsgerichts“ enthalten in ihren ersten drei Heften elf solche Entscheidungen, darunter einige seht interessante und principiell wichtige. Um jedoch chronologisch zu verfahren, beginnen wir mit jenen früheren des Reichsoberhandelsgerichts.

Da stoßen wir denn zuerst auf einen allgemeinen Grundsatz, der sich zwar für den Juristen von selbst versteht, der aber dem nicht juristisch gebildeten Publicum wohl häufig unbekannt oder doch unklar ist. Bei größeren Unglücksfällen, namentlich Massenunfällen, pflegt immer alsbald eine amtliche Erörterung und eventuell eine strafrechtliche Untersuchung einzutreten, um zu ermitteln, ob eine von Amtswegen zu bestrafende Verschuldung vorliege. So geschah es z. B. bei dem jüngsten großen Grubenunglück in dem Kohlenschacht bei Zwickau. Da hieß es nun in öffentlichen Blättern: „die amtliche Erörterung hat keine Verschuldung herausgestellt,“ und sofort wurde daran die Schlußfolgerung geknüpft: „somit erweist sich wieder einmal das Haftpflichtgesetz als unwirksam.“ Diese Folgerung ist eine unberechtigte. Ein Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts vom 19. October 1874 spricht ausdrücklich aus, daß der Ausfall einer strafrechtlichen Erörterung oder Untersuchung für den Civilrichter, der das Haftpflichtgesetz zu handhaben hat, in keiner Weise ausschlaggebend oder auch nur bestimmend sein kann, daß recht wohl der Strafrichter keine Schuld finden mag, die zu einem strafrechtlichen Verfahren Anlaß böte, wohl aber der Civilrichter eine solche, welche ausreicht, um darauf eine civilrechtliche Haftpflicht und folglich die Verbindlichkeit zur Schadloshaltung eines Verletzten, beziehentlich der Hinterlassen eines Getödteten, zu begründen.

Die Entscheidung des Civilgerichts in Haftpflichtsachen ist eben eine gänzlich und nach allen Seiten hin freie, lediglich von der eigensten Ueberzeugung des Richters, wie sich diese aus seiner Gesammtanschauung des Sachverhaltes herausbildet, abhängige. Diese „freie richterliche Ueberzeugung“ ist seit Einführung der Civilproceßordnung für das deutsche Reich allgemeingültiger Grundsatz unserer Civilrechtspflege geworden; vorher bestand sie nur in Haftpflichtsachen in Folge einer ausdrücklichen diesfallsigen Vorschrift im Haftpflichtgesetze selbst. Nach den früheren allgemeinen processualischen Bestimmungen mußte der Richter gewisse Dinge als bewiesen annehmen, durfte er andere nicht als bewiesen gelten lassen, je nachdem bestimmten, genau vorgeschriebenen Beweisregeln von den Parteien genügt oder nicht genügt worden war. Jetzt steht es ihm frei, eine Beweisaufnahme zu verfügen wenn sie ihm nothwendig scheint, oder sie zu unterlassen, wenn er ihrer zur Gewinnung einer bestimmten Ansicht von dem Rechtsfalle nicht zu bedürfen glaubt. Oder – wie es in den Motiven zur deutschen Civilproceßordnung heißt – „der Richter ist nicht genöthigt, nur das von den Parteien Bewiesene, beziehentlich Behauptete für wahr anzunehmen, sondern er hat sich, ganz unabhängig davon, ein Bild von dem Thatbestande zu machen“.

Dieses völlig freie Ermessen der Gerichte – welches, um das noch zu erwähnen, in dem durch die deutsche Civilproceßordnung auch im Civilverfahren eingeführten mündlichen Verfahren eine wichtige Verstärkung und Unterstützung finden wird – kommt, wie wir wohl kaum zu sagen brauchen, vorzugsweise dem klagenden Theil in Haftpflichtprocessen, also zumeist den durch Unfälle in Fabriken, Bergwerken etc. beschädigten Arbeitern oder ihren Familien, ferner dem bei Eisenbahnkatastrophen betheiligten Publicum zugute. Dem Beschädigten, der eine solche Klage anstellen will, mag es oft schwer fallen, eine bestimmte „Verschuldung“ des Betriebsunternehmers oder seiner Bevollmächtigten und deren ursachlichen Zusammenhang mit der Beschädigung dergestalt nachzuweisen, daß nirgends eine Lücke im Beweise bleibt, doppelt schwer den Hinterlassenen eines solchen, wo nicht einmal der Mann selbst mehr über das Vorgefallene etwas angeben kann. Hier aber tritt nun eben das Gericht mit seinem freien Ermessen ergänzend ein: es verfolgt die vom Kläger gegebene Spur weiter; es sucht, nach seiner eigenen besten Kenntniß, von dem, was zu einem solchen Beweise nothwendig, das noch Fehlende auf, indem es sich seiner discretionären Gewalt bedient, um die ihm nöthig scheinenden Beweismittel herbeizuschaffen, und stellt so nach Möglichkeit eine gewisse Gleichheit zwischen den Parteien her. Denn zu leugnen ist ja nicht, daß mindestens bei Processen nach § 2 des Haftpflichtgesetzes (bei Unglücksfällen in Bergwerken, Steinbrüchen, Fabriken) der Unternehmer, als der Verklagte, von Haus aus in einer günstigeren Lage sich befindet, als der Beschädigte, welcher ihm oder seinen Vertretern eine bestimmte Verschuldung nachweisen soll – ganz abgesehen von den sonstigen Schwierigkeiten, mit denen namentlich der vermögenslose, von seinem Arbeitgeber abhängige Arbeiter bei einem Processe mit diesem oder vollends mit einer denselben vertretenden Unfallversicherungs-Gesellschaft zu kämpfen hat.

Um nun den zugleich so wichtigen und so schwierigen Nachweis einer Schuld zu erleichtern, hat die oberste richterliche Instanz im Uebrigen bereits gewisse Linien gezogen, welche in einer für den Beschädigten sehr günstigen Weise den Begriff des „Verschuldens“ in der einen und der andern Richtung feststellen.

So heißt es in dem schon erwähnten Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts vom 19. October 1874 wörtlich:

„Unter ‚Verschulden‘ ist vor Allem die Nichtbeobachtung des nach allgemeinen Rechtsprincipien erforderlichen Grades von Aufmerksamkeit zu verstehen. Das Gericht hat dies im civilrechtlichen Sinn nach freier Ueberzeugung zu entscheiden, selbst wenn eine criminelle Freisprechung stattgefunden hat.“ Ferner in einem vom 30. Juni 1875: „Da bei den betreffenden Personen (Beauftragten von Unternehmern) eine besondere Sachkenntniß vorauszusetzen, so gehört bei ihnen zum ‚Verschulden‘ jede Uebertretung der allgemeinen und speciellen, gesetzlichen oder polizeilichen Vorschriften, Instructionen, Reglements, gleichviel ob nach Reichs- oder Landesgesetzen, ob für das ganze Land oder einen einzelnen Bezirk erlassen, vornehmlich der §§ 16, 18, 24, 25, 107, 108, 147 Nr. 2, 148 Nr. 10 der Reichsgewerbeordnung, der Verordnung des Bundesraths über Anlegung von Dampfkesseln vom 29. Mai 1871 und der Ausführungsverordnungen dafür in den Einzelstaaten etc. Als ‚Verschulden‘ stellt es sich ferner dar, wenn diejenige Vorsicht zur Verhütung von Unfällen nicht aufgewendet ist, welche Wissenschaft und Erfahrung dem Angestellten zur Pflicht machen. Bei der Mannigfaltigkeit der hier in Betracht kommenden Fragen wird sich dies im einzelnen Falle wohl nur durch Anhörung von Sachverständigen entscheiden lassen. Der Richter wird dabei von der Voraussetzung ausgehen müssen, daß sich jeder derartige gefährliche Betrieb auf der Höhe der technischen etc. Erfahrung halten, das heißt alle diejenigen Sicherheitsvorkehrungen treffen muß, welche nach der herrschenden Verkehrsanschauung erforderlich sind. Er wird andrerseits die concreten Umstände genauer zu berücksichtigen haben, die Möglichkeit solcher Einrichtungen nach den localen Verhältnissen etc.“

Zu dem „Verschulden“ eines Angestellten rechnet es daher [323] auch das Reichsoberhandelsgericht, wenn derselbe solche Sicherheitsvorkehrungen oder Maßregeln anzuwenden unterließ, „welche nach Gesetz, Wissenschaft, Erfahrung, allgemeiner vernünftiger Verkehrsanschauung zur Verhütung von Unfällen erforderlich sind“, ebenso, wenn er eine unrichtige, also jenem Zweck nicht entsprechende Anordnung des Betriebsunternehmers selbst wider besseres Wissen oder fahrlässiger Weise zur Ausführung brachte, ohne dagegen Vorstellung zu machen; wenn er untaugliche Maschinen, welche Jener angeschafft, ohne weiteres zur Verwendung bringen ließ etc. Kann der Angestellte beweisen, daß er den Betriebsunternehmer auf das Ungenügende oder Zweckwidrige gewisser Vorrichtungen aufmerksam gemacht, Letzterer aber nichts desto weniger darauf beharrt hat, so ist der Angestellte schuldlos. Die Klage ist dann gegen den Betriebsunternehmer selbst zu richten, der nach allgemeinen Landesgesetzen für solche Verschuldungen an erster Stelle verantwortlich ist.

Ein „Verschulden durch Unterlassung“, also einen Grund zur Haftbarkeit, erblickt das Reichsoberhandelsgericht ferner darin, wenn ein Betriebsleiter die Benutzung einer von den Arbeitern hergestellten ungeeigneten und gefährlichen Arbeitsvorrichtung (z. B. eines zu schwachen Gerüstes) nicht verhindert oder verbietet, überhaupt gegen ein ungeeignetes Verhalten der Arbeiter, durch welches sie sich selbst oder ihre Mitarbeiter in Gefahr bringen können, einzuschreiten unterläßt.

Ja schon wenn der Betriebsleiter verabsäumt, solche Arbeiter, die er zu besonders gefährlichen Verrichtungen verwendet, über diese Gefahr, die Schutzmittel dagegen und das von ihnen bei der betreffenden Verrichtung einzuhaltende Verfahren zu belehren, ist dies nach einem Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts ein ausreichender Grund, den Betriebsleiter für schuldig und folglich den Betriebsunternehmer für haftbar wegen der dadurch veranlaßten Körperverletzung zu erklären – es wäre denn, daß die zu der gefährlichen Arbeit verwendete Person, wie dem Betriebsleiter bekannt war, die dazu erforderliche Sachkunde und Erfahrung bereits besaß.

Der Kläger muß allerdings die Verletzung auf irgend eine schuldbare Handlung oder Unterlassung beim Betriebe seitens eines der Angestellten zurückführen; allein auf der andern Seite genügt es, wenn nur die durch die Schuld des Angestellten herbeigeführte Möglichkeit einer solchen Verletzung nachgewiesen wird. „Wollte man,“ sagt das Reichsoberhandelsgericht, „von dem Kläger den strengen Nachweis verlangen, daß die Verletzung auf keine andere Weise eintreten konnte, als durch ein schuldbares Verfahren des Angestellten, so würde die Haftpflicht des Unternehmers beinahe in allen Fällen rein illusorisch sein.“ Beispielsweise: wenn der mit Prüfung und Herrichtung der Sicherheitslampen in einem Kohlen- oder Bergwerke beauftragte Betriebsbeamte nachweisbar hierbei nachlässig gehandelt hat und es ist nun ein Unfall durch eine schlecht hergerichtete Sicherheitslampe entstanden, so ist die Haftpflicht begründet und es bedarf nicht des Nachweises, daß dadurch allein, nicht etwa durch ungeschickte Handhabung der Lampe seitens des Verletzten der Unfall herbeigeführt ward. Nur wenn der Betriebsunternehmer nachweisen kann, daß auch bei völlig guter Beschaffenheit der Lampen der Unfall dennoch (durch eine unabwendbare höhere Gewalt) eingetreten sein würde, ist derselbe haftfrei.

Natürlich sind die Fälle nicht selten, wo es ungewiß erscheint, ob die Verletzung eines Arbeiters durch dessen eigenes Verschulden oder durch das Verschulden eines Angestellten eingetreten sei. Das Reichsoberhandelsgericht nimmt nun an, daß überall da keine Haftpflicht eintrete, wo zwar ein Verschulden des Angestellten vorhanden war, wo aber trotzdem die Verletzung (beziehentlich Tödtung) nicht erfolgt wäre, wenn nicht der Arbeiter selbst pflichtwidrig gehandelt hätte. Wenn also z. B. eine Maschine in zu schnellen Gang gebracht und dadurch ein Arbeiter verletzt worden ist, der Verletzte aber der Maschine unbefugter Weise oder gegen erfolgte Warnung zu nahe gekommen ist, so gilt hier die Verletzung als durch die eigene Schuld des Arbeiters herbeigeführt. Ebenso, wenn eine Grube polizeiwidrig offen stand, der Arbeiter aber, der hineinstürzt, wider Verbot und Warnung jenen Ort betrat. Daß der Arbeiter durch sein verbotswidriges oder überhaupt schuldbares Verhalten sich selbst die Verletzung zugezogen habe, muß aber vom Beklagten bewiesen werden. Wenn z. B. – erklärt ein Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts – ein Arbeiter auf einem fehlerhaft erbauten Gerüste steht und dort eine Handlung vornimmt, die verbotswidrig ist, und das Gerüst bricht, so muß erst bewiesen werden, daß der Zusammenbruch des Gerüstes in Folge dieser verbotswidrigen Handlung des Arbeiters erfolgt sei. Kann dies nicht bewiesen werden, so gilt die fehlerhafte Construction des Gerüstes als Ursache des Unfalles, und der Betriebsunternehmer bleibt dafür haftpflichtig.

Die angeführten Beispiele werden genügen, um darzuthun, in welch hohem und freiem Sinne das Reichsoberhandelsgericht seiner Zeit das Haftpflichtgesetz ausgelegt und angewendet hat. Daß das an seine Stelle getretene Reichsgericht auch diese Erbschaft seines Vorgängers voll und ganz antreten werde, konnte im voraus nicht zweifelhaft sein. Und in der That finden wir schon in den während dieser kurzen Zeit seiner Thätigkeit ergangenen Erkenntnissen des Reichsgericht in Haftpflichtsachen mehrere höchst bemerkenswerthe Entscheidungen. In einer derselben, vom 2. December 1879, wird nicht nur der auf Eisenbahnen bezügliche § 1 des Haftpflichtgesetzes unbedingt auch auf Pferdebahnen angewendet, sondern wird ferner auch der Grundsatz ausgesprochen, daß eine Eisenbahngesellschaft auch für solche Unglücksfälle aufkommen müssen, welche durch bloßen „Zufall“ (nicht „höhere Gewalt“) veranlaßt waren.

„Höhere Gewalt“, heißt es in den Entscheidungsgründen, „bezeichnet, im Unterschiede vom Zufall, ein äußeres, durch elementare Naturkräfte, die schädigende Wirkung von Naturereignissen, oder durch Menschenkräfte, die Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereigniß, welches den Unfall verursacht hat und dessen schädigende Wirkung nach der allgemeinen Verkehrsanschauung durch geeignete Vorkehrungen zu vermeiden unmöglich ist.“ Es handelte sich im gegebenen Falle um die Beschädigung eines fünfjährigen Knaben, der, gerade als die Pferdebahn herankam, vom Trottoir auf das Geleise herabsprang und so unter die Pferde gerieth. Das Reichsgericht scheint nun diese Bewegung des Kindes, die den Unfall herbeiführte, als einen „Zufall“ zu betrachten. Eine „eigene Verschuldung“ sei nicht anzunehmen, weil nach sächsischem Recht (der Fall kam in Leipzig vor) bis zum siebenten Jahre die „Kindheit“ dauert, welche jede „Handlungsfähigkeit“, folglich auch jede „Verschuldung“ ausschließt. Dahingegen unterscheidet das Reichsgericht streng zwischen Verletzungen, die wirklich beim Eisenbahnbetriebe, und solche, die zwar auf dem Terrain einer Eisenbahn, doch ohne Zusammenhang mit dem Betriebe derselben vorgekommen, und schließt die letzteren unbedingt von der Unterstellung unter das Haftpflichtgesetz aus.

Ein anderer interessanter Fall ist folgender: Ein junger Mensch von nicht ganz vierzehn Jahren, an eine Kreissäge gestellt, um daran größeren Knochenplatten eine bestimmte Gestalt zu geben, war beim Herbeilangen neuer Platten von der Säge am Arme erfaßt und dieser ihm verstümmelt worden. Hier entstand die Frage: Lag eigene Verschuldung oder Verschuldung des Angestellten vor, der den Knaben an die Kreissäge gestellt hatte? Das Reichsgericht nahm letzteres an, indem es sagte: „Schon in der Anstellung des noch nicht vierzehnjährigen Knaben an der Cirkelmaschine liegt das Verschulden des von dem Knaben erlittenen Unfalls. Eine Cirkelsäge, sie mag groß oder klein sein, ist eine Maschine, deren Gebrauch die größte Vorsicht erfordert und bei der geringsten Unvorsichtigkeit durch die Schnelligkeit ihrer Umdrehungen den an ihr beschäftigten Arbeiter in die Gefahr einer schweren Verletzung bringt. Der gänzlich unerfahrene, mit der Handhabung einer Kreissäge nicht im Mindesten vertraute Knabe sollte auf einmal durch eine Unterrichtung des Werkführers die erforderliche Geschicklichkeit im Gebrauche der Kreissäge und die zur Vermeidung einer Gefahr der Verletzung erforderliche Vorsicht erlangt haben!“ Hiernach also habe der Werkführer durch Anstellung des Knaben an der Kreissäge dessen Unglück verschuldet, umsomehr, als er gar nicht abgewartet, ob derselbe mit der Maschine richtig umgehen werde, vielmehr sich alsbald fortbegeben und den Knaben ohne Aufsicht die gefahrvolle Arbeit habe vollführen lassen. Das Reichsgericht findet diesen Thatbestand, der den Anspruch auf Schadenersatz begründet, dermaßen „für bewiesen zu erachten“, daß nach seiner Ansicht „es nicht erst, wie seitens der Vorinstanzen geschehen, einer besonderen Beweisauflage mittelst Erkenntnisses bedurfte“.

Eine ähnliche Collision zwischen fremder und eigener Verschuldung schien vorzuliegen, als in einer Glashütte ein Gerüst zusammengestürzt und ein Arbeiter dadurch schwer beschädigt [324] worden war. Der morsche Zustand des Gerüstes war erwiesen, aber der Beklagte behauptete, dasselbe würde nicht eingestürzt sein, wenn nicht der Beschädigte selbst zu viel Holz darauf gelegt hätte. Das Gericht indeß erklärte: „Es könne darauf entscheidendes Gewicht schon darum nicht gelegt werden, weil es die Pflicht des Angestellten gewesen wäre, wenn er das schadhafte Gerüst weiter benutzen ließ, den Arbeitern genaue Anweisung zu ertheilen, bis zu welchem Maße es belastet werden dürfe.“ Gleichermaßen wird es einem Angestellten als „Verschulden“ angerechnet, daß derselbe einen einfachen Fabrikarbeiter mit einer Arbeit betraute, die besondere Geschicklichkeit erforderte, „ohne ihm mindestens genaue Verhaltungsmaßregeln zu geben oder ihm den Beistand eines technischen Sachverständigen zu gewähren“.

Von besonderem Interesse ist auch ein Fall, wo ein Gießer als „Vorarbeiter“ eine gemeinschaftliche Arbeit zugleich commandirte und selbst mit verrichtete, und wo er durch die Art seines Zugreifens die Schädigung seines Mitarbeiters veranlaßte. Die unteren Instanzen hatten hier angenommen, der Gießer sei in diesem Falls nur als gewöhnlicher Arbeiter thätig gewesen; das Reichsgericht erkennt dagegen, daß das thätige Miteingreifen des Gießers seine Verantwortlichkeit als „Vorarbeiter“, als Leiter dieser bestimmten Verrichtung, nicht aufhebe, und verurtheilt deshalb den Unternehmer zur Entschädigung des verletzten Arbeiters.

Günstiger für die Unternehmer ist ein anderes Erkenntniß des Reichsgerichts, welches ausführt: die Benutzung einer Maschine könne zwar wegen ihrer großen Gefährlichkeit für die Arbeiter den Gewerbetreibenden für den dadurch herbeigeführten Schaden verantwortlich machen, allein dazu gehöre eine ganz besondere Gefährlichkeit. Wollte man alle für gefährlich zu erachtende Maschinen beseitigen, so würde eine große Reihe von Fabriken unmöglich werden. Nach § 107 der Gewerbe-Ordnung hätten die Arbeiter lediglich einen Anspruch auf „Sicherung“, soweit sie durch Einrichtungen „thunlich“ sei.

Wie in der Beurtheilung des Entschädigungsanspruchs selbst, so ist das Gericht auch vollkommen frei in Feststellung der Höhe der zu gewährenden Entschädigung. Nach dem Haftpflichtgesetze soll dem Beschädigten der durch die Beschädigung ihm erwachsende Vermögensnachtheil ersetzt werden. Schon das Reichsoberhandelsgericht hat nun angenommen, daß hierfür maßgebend sei die Summe des Erwerbes, welchen der Beschädigte zur Zeit der Beschädigung hatte. Dieses Einkommen muß ihm erhalten bleiben; bei gänzlicher Erwerbsunfähigkeit in Folge der Beschädigung muß ihm dasselbe vollständig ersetzt, bei nur partieller muß der Ausfall vergütet werden, den er in Folge dessen an jenem früherer Einkommen erleidet. Bei einem ungleichmäßigen Erwerbe wird der Durchschnitt der letzten Jahre als Norm genommen. War bei einer Fortsetzung derselben Arbeit (ohne Versetzung in eine andere Stelle) eine Erhöhung des Einkommens mit Bestimmtheit zu erwarten (z. B. bei Zugführern u. dergl.), so ist auch darauf Rücksicht zu nehmen. Wird dem noch theilweise Erwerbsfähigen von dem Entschädigungspflichtigen eine Arbeit zugetheilt, die ihm einen entsprechenden Erwerb gewährt, so muß er diese annehmen, wenn sie seiner bisherigen Beschäftigungsart angemessen ist, was bei dem gewöhnlichen Arbeiter leicht zu bewirken sein wird. Wissenschaftlich oder technisch Vorgebildete brauchen nur wieder in eine ebensolche Arbeit einzutreten. Das Reichsgericht hat dem von der Kreissäge beschädigten Knaben, da sein rechter Arm unverletzt geblieben, er also noch mit diesem arbeiten konnte, als Entschädigung eine der Hälfte seines Wochenlohns entsprechende Rente zugebilligt.

Eine eigenthümliche Frage entstand bei dem beschädigten fünfjährigen Knaben. Hier konnte von einem Verluste der Erwerbsfähigkeit augenblicklich noch keine Rede sein, und das Reichsgericht wies daher den Anspruch auf eine bestimmte Entschädigung „zur Zeit“ ab. Andererseits war zu erwägen, daß nach dem Haftpflichtgesetz jeder Anspruch auf Entschädigung, wenn nicht geltend gemacht, nach zwei Jahren erlischt. Um diesen Nachtheil von dem Beschädigten abzuwenden, entschied das Reichsgericht, „daß die Beklagte (die Pferdebahngesellschaft) dem Kläger (dem Vater des Beschädigten) für dessen Sohn Ersatz des Vermögensnachtheils zu leisten schuldig sei, welcher für Letzteren in Folge der Verletzung durch Verminderung der Erwerbsfähigkeit in Zukunft entstehen“. Auf Grund dieser Entscheidung kann der Beschädigte später, wem er in das Alter der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist und hierbei sich die Folgen der erlittenen Verletzung in Bezug auf eine Verminderung dieser Erwerbsthätigkeit herausstellen, auf die wirkliche Leistung einer Entschädigung Anspruch erheben.

Aus all diesen oberstrichterlichen Entscheidungen in Haftpflichtfällen erhellt so viel, daß auch schon das gegenwärtige Gesetz für den Schutz des Publicums und speciell der Arbeiter nicht wirkungslos gewesen ist – dank der erleuchteten, auf möglichste Ausgleichung der im Gesetze noch enthaltenen Ungleichheiten und Schwierigkeiten sorgsam bedacht gewesenen Praxis dieser höchsten Gerichte. Das darf indessen nicht abhalten, das Gesetz zu verbessern, wo es noch mangelhaft ist, und damit den Gerichten selbst eine freisinnige Auslegung desselben im Geiste der Gerechtigkeit und Billigkeit noch mehr zu erleichtern.