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Artikel „Wülcker, Ernst“ von Friedrich Thomae in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 44 (1898), S. 559–562, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:W%C3%BClcker,_Ernst&oldid=- (Version vom 7. Dezember 2024, 05:46 Uhr UTC)
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Band 44 (1898), S. 559–562 (Quelle).
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Wülcker *): Friedrich Ernst W. wurde am 24. August 1843 zu Frankfurt am Main geboren. Sein Vater, Inhaber der Silberwaarenhandlung J. H. P. Schott Söhne, ein feinsinniger, hochgebildeter Mann, hatte ein reges Interesse für Litteratur und Wissenschaft und besaß eine reiche, ausgewählte Büchersammlung. Durch ihn wurde W. schon früh mit der Geschichte des Alterthums, namentlich des ägyptischen, bekannt, mit welcher der Vater sich damals beschäftigte und zu der er sich ausführliche Collectaneen angelegt hatte. W. durchlief zunächst die unteren Classen der Musterschule, wurde dann privatim von dem um die Erklärung des Aristoteles verdienten Adolf Torstrick unterrichtet und trat Ostern 1856 in das Frankfurter Gymnasium ein. In den letzten Semestern trieb er noch privatim Gothisch, Alt- und Mittelhochdeutsch. Aus dieser Zeit sind uns auch zwei von ihm gedichtete Prologe zu einer Festaufführung der oberen Classen („Als Manuscript für Freunde“ gedruckt) erhalten, eine schöne Probe seiner dichterischen Begabung. W. studirte von 1862–65 in Göttingen, dann bis zu Ostern 1868 in Leipzig. Dazwischen verbrachte er zwei Wintersemester im Elternhause, hauptsächlich gemeinsam mit Lorenz Diefenbach mit sprachwissenschaftlichen Studien beschäftigt. Während anfänglich die classisch-philologischen Studien im Vordergrund standen, wandte W. sich bald der Germanistik und Sprachvergleichung zu und trieb in Leipzig noch besonders eifrig Sanskrit. In Göttingen gehörte er der Burschenschaft Brunsviga an und redigirte mit poetischem Humor die Bierzeitung. 1868 wurde er zum Doctor promovirt auf Grund der Dissertation über „Vocalschwächung im Mittelbinnendeutschen“, einer Schrift, auf die schon Raumer in seiner Geschichte der Germanischen Philologie aufmerksam machte. Seine Untersuchungen über die älteren mitteldeutschen Dialekte setzte W. in Marburg und Frankfurt fort und sie waren es, die ihn auf das Frankfurter Archiv führten. So kam es, daß man ihm, den man gern in Frankfurt festgehalten hätte, vorschlug, als präsumtiver Nachfolger Kriegk’s, vorerst als Secretär, in das Frankfurter Stadtarchiv einzutreten. W. lehnte anfangs ab, stand er doch eben im Begriff, sich in Leipzig zu habilitiren. Indessen ließ er sich später bestimmen, diesen Vorsatz aufzugeben und auf die akademische Lehrthätigkeit zu verzichten, zu der er so ganz besonders berufen schien und in der auch die Gabe, seine Begeisterung für die Wissenschaft in lebhafter Mittheilung auf den Hörer zu übertragen, am schönsten gewirkt hätte. Im J. 1870 trat er als Secretär in das Frankfurter Archiv ein. Er erfaßte seinen Beruf mit der ihm eigenen freudigen Pflichttreue und lebte fortan mit rastlos angestrengter Thätigkeit im doppelten Dienste des Staates und der Wissenschaft. Den Benutzern der Archive war er weit über die amtliche Verpflichtung hinaus behülflich und förderte fremde Arbeiten in selbstlosester Weise. Einen Theil seiner Studien und Erfahrungen auf dem Gebiete der Archivwissenschaft hat er in einem Werk niedergelegt, dessen Vollendung ihm nicht beschieden war: „Urkundenausfertigung und Urkundensprache der ernestinischen Kurfürsten“.

Das Frankfurter Stadtarchiv lieferte den Stoff zu zwei „Neujahrsblättern“ des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt: „Urkunden und Schreiben betreffend den Zug der Armagnaken 1439–1444“ (Frankf. 1873) und „Urkunden und Akten betreffend die Belagerung der Stadt Neuß am Rheine 1474–1475“ (Frankf. 1877). Diese Publicationen, denen ausführliche Einleitungen vorausgeschickt sind, liefern werthvolles Material für den Culturhistoriker und durch die diplomatisch getreue Wiedergabe für den Sprachforscher. Ebenfalls in der Frankfurter Zeit begonnen und von W. allein nach elfjähriger [560] Arbeit vollendet wurde das mit Lorenz Diefenbach gemeinsam unternommene „Hoch- und niederdeutsche Wörterbuch der mittleren und neueren Zeit“ (Basel 1885). Diefenbach’s Antheil beschränkt sich in der Hauptsache auf die Buchstaben A und <tt<B, derjenige Wülcker’s umfaßt die Buchstaben D–Z und bildet weitaus den werthvolleren Theil. Vom Neuhochdeutschen ausgehend und das 14.–18., besonders aber das 15. Jahrhundert berücksichtigend, schöpft das Diefenbach-Wülcker’sche Wörterbuch zumeist aus Handschriften, vorzugsweise aus Archivalien und Glossarien des Frankfurter und Weimarer Archivs und der Frankfurter Stadtbibliothek, außerdem aus seltenen Druckwerken. Auch Geschlechts-, Orts- und Localnamen fanden Aufnahme, reiche Beiträge boten die mitteldeutschen, namentlich die fränkischen Mundarten. Hier wie später bei der Ausarbeitung des Grimm’schen Wörterbuchs ist es ein Hauptverdienst Wülcker’s, daß er den noch unausgenutzten Wortschatz der Archive heranzog und verwerthete.

Dem Frankfurter Archiv entstammt auch das überaus reiche Material, das den „Lauteigenthümlichkeiten des Frankfurter Stadtdialects im Mittelalter“ zu Grunde liegt (4. Bd. von Paul und Braune’s „Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache“, zugleich Festschrift zu Zarncke’s 25jährigem Docentenjubiläum, Halle 1877). In diese wenig umfangreiche, aber um so gehaltvollere Schrift hat W. seine Untersuchungen aus der bisher für die Grammatik so wenig ausgenutzten Zeit des späten Mittelalters zusammengedrängt. In der durchsichtigen klaren Weise, die seine Schriften auszeichnet und die aus vollkommener Beherrschung des Stoffs entspringt, gibt er die wissenschaftliche Erklärung der scheinbaren Barbarei und Vielgestaltigkeit der damaligen Mundarten und Schreibweisen. Die „Lauteigenthümlichkeiten“ waren ein vorläufiger Auszug aus einer groß angelegten „Grammatik des Frankfurter Stadtdialects“, deren nicht vollendetes Manuscript sich in Wülcker’s Nachlaß befindet.

Eine wichtige Veränderung in Wülcker’s äußeren Lebensverhältnissen brachte das Jahr 1875 durch den Eintritt als erster Archivsecretär in das Geh. Haupt- und Staatsarchiv zu Weimar. In demselben Jahre gründete er sich den eigenen Hausstand durch seine Verheirathung mit Bertha Fenner, Tochter des Obergerichtsraths Fenner, die durch ihr feines und volles Verständniß für seine Forschungen das Glück erhöhte, welches ihm Beruf und Wissenschaft gewährten, und Freunde und Fachgenossen aus der Nähe und Ferne suchten gern das behaglich gastliche Haus in Weimar auf. Im J. 1877 ward er zum Archivar und 1888 zum Archivrath befördert.

In Weimar entfaltete W. eine vielseitige litterarische Thätigkeit. In deren Mittelpunkte steht seine Mitarbeit an dem „Deutschen Wörterbuche der Brüder Grimm“. Er übernahm zunächst die Bearbeitung des Buchstabens V und hat diese vom Jahr 1886 bis 1895 in den Lfgn. 1–6 des 12. Bandes bis zu dem Worte „Verschrecken“ durchgeführt. Sichere Beherrschung des Stoffes, die sich in der Beschränkung auf das Wesentliche zeigt und die richtige Mitte zwischen allzu großer Breite und trockener Kürze hält, sorgfältige und geistvolle Entwicklung der Bedeutungen, Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit und die Erschließung neuen Materials in den archivalischen Quellen zeichnen seine Darstellung aus und sichern ihm dauernd eine ehrenvolle Stelle in der Geschichte der deutschen Lexikographie.

Zu Studien über die sächsische Geschichte und das Reformationszeitalter gaben die reichen Bestände der Weimarer Archive willkommene Veranlassung. Schon in den ersten Jahren der Weimarer Zeit bereitete W. die Herausgabe des „Briefwechsels des Kursächsischen Rathes Hans von der Planitz mit dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen“ vor. Indeß mußte diese Arbeit, wie so manche andere, hinter der Betheiligung am Grimm’schen Wörterbuch zurückstehen. Von Hans Virck 1898 herausgegeben, bildet sie die erste Publication der Königl. Sächs. Commission für Geschichte. Hierher gehören auch die beiden Abhandlungen [561] „Reichstag und Reichsregiment zu Anfang der Reformationszeit“ (in den Preuß. Jahrbüchern 53. Bd., 1884) und „Verhandlungen über Errichtung eines Grenzzolles auf den Reichstagen von 1523 und 1524“ (in der Wochenschrift „Die Gegenwart“ 16. Bd., Nr. 27). Für die Allgemeine Deutsche Biographie schrieb W. die Geschichte der Herzöge zu Sachsen: Johann Friedrich d. Mittlere, Johann Wilhelm, Johann Ernst, und zahlreiche andere Biographien von ernestinischen Fürsten und Weimarer Gelehrten und Staatsmännern.

W. liebte es, die Ergebnisse seiner sprachgeschichtlichen Studien in knappster Form zusammenzufassen. Die im Verhältniß zu ihrem reichen Inhalt wenig umfangreichen Schriften bieten eine Fülle des Neuen. So hat er uns die schönen Resultate seiner Forschungen über die kursächsische Kanzleisprache und die Sprache Luther’s in der Form von Vorträgen, gehalten auf den Philologentagen zu Gera 1878 und Karlsruhe 1882, gegeben. („Die Entstehung der kursächsischen Kanzleisprache“ 1. Bd. der Neuen Folge der Zeitschrift f. thür. Gesch. u. Alterth., Jena 1879, und „Luthers Stellung zur kursächsischen Kanzlei“, Germania, 28. Jahrg., Wien 1883. Im Auszug in den „Verhandlungen“ der Phil. Vers. Leipz. 1879 u. 1883.) Schon in den „Lauteigenthümlichkeiten“ hatte W. einen Ausblick in dies Gebiet eröffnet und die Vorträge brachten auf Grund eingehendster archivalischer Studien eine Bestätigung seiner damals ausgesprochenen Ansichten. Es ist nicht genug zu bedauern, daß sein früher Tod ihm nicht vergönnt hat, das Werk zu vollenden, das diese Untersuchungen abzuschließen bestimmt war.

Von der deutsch-romanischen Section der 37. Philologenversammlung zu Dessau 1884 wurde W. zusammen mit Max Rieger und Hermann Paul zu einer philologischen Prüfungscommission der deutschen Probebibel gewählt und gab 1885 sein Gutachten ab („Gutachten über die Probebibel“, Halle 1885). Gleichfalls sprachgeschichtlich sind die Kritiken, die W. schrieb. Immer gab er darin noch Ergänzungen und neue Gesichtspunkte und bei aller Sachlichkeit und Gründlichkeit war sein Urtheil nie persönlich verletzend. Als charakteristische seien hier angeführt die über: Schilling, die Diphthongisirung der Vocale û, iu und î (Germania, 25. Jahrg., Wien 1880), Pietsch, Luther und die hochdeutsche Schriftsprache (Lit.-Bl. f. german. u. roman. Phil., 5. Jahrg. 1884), Hyrtl, die alten deutschen Kunstworte der Anatomie (ebd. 6. Jahrg. 1885). An dem wissenschaftlichen Leben Weimars betheiligte sich W. durch sprachliche und geschichtliche Vorträge; trotz vielfacher Aufforderung hat er sie nicht veröffentlicht, da er an dem Grundsatze festhielt, nur thatsächlich neue Ergebnisse im Druck erscheinen zu lassen. Nur ein Vortrag, „Die Verdienste der fruchtbringenden Gesellschaft um die deutsche Sprache“ ist im „Bericht“ des deutschen Sprachvereins zu Weimar 1888 gedruckt.

W. starb im 52. Jahre. Schon im vorhergegangenen Jahre hatte ihn ein leichter Schlaganfall gezwungen, einen längeren Urlaub zu nehmen und seine rastlose Thätigkeit auf ein geringeres Maß zu beschränken. Bis zum letzten Augenblicke aber lebte er seiner Wissenschaft und sein einziges Sehnen war, seine volle Thätigkeit wieder aufnehmen zu können. Er bereitete gerade die Planitzbriefe zum Druck vor, da setzte am 16. September 1895 ein plötzlicher Schlagfluß seinem Leben ein Ziel.

Der reiche litterarische Nachlaß legt ein beredtes Zeugniß ab von Wülcker’s umfassendem Wissen, seinen vielseitigen Interessen, sowie von der außerordentlichen Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit, mit der er arbeitete. Seine Schriften beruhen auf einer solchen Fülle eines mit liebevollem Fleiß zusammengetragenen und aufs sorgfältigste gesichteten Materials, daß man die Beschränkung bewundern muß, mit der er uns immer nur die Summe seiner Forschungen [562] in knappster Fassung gab. In der Hauptsache stammen die Manuscripte aus der Zeit vor dem Eintritt in die Redaction des Grimm’schen Wörterbuchs und W. freute sich darauf, nach dessen Vollendung die zurückgelegten Arbeiten wieder aufzunehmen. Der Nachlaß umfaßt grammatische (lautliche), dialektische, archivalische und lexikalische Arbeiten, darunter besonders die oben erwähnte Grammatik des Frankfurter Dialekts und das Werk über Urkundenausfertigung und Urkundensprache der ernestinischen Kurfürsten, das zum Theil schon in der Ausarbeitung vorliegt, ferner ein gleichfalls weit vorgeschrittenes Werk, das W. besonders am Herzen lag und den Abschluß seiner früheren Veröffentlichungen über die kursächsische Kanzleisprache und die Sprache Luther’s bilden sollte, Vorarbeiten zu einem Lehrbuch der Diplomatik mit werthvollen Untersuchungen über die Geschichte der Schrift und Wülcker’s Gedichte, die nie für die Oeffentlichkeit bestimmt waren. Der Nachlaß wird später auf der Universitätsbibliothek zu Tübingen aufbewahrt werden. Ein Bild von W. brachte die Illustr. Zeitung, Leipz. u. Berlin, im Mai 1889 (Bd. 92, Nr. 2395), doch hat der Zeichner, der nur nach der Photographie arbeitete, einen fremden Ausdruck in Wülcker’s offene, lebhafte Züge gelegt. Wir sehen wol den geistvollen Forscher, aber vergebens suchen wir nach dem Ausdruck der sonnigen Güte, die sein ganzes Wesen durchleuchtete. Güte und Wahrheit waren die Grundzüge seines Charakters. Weil nichts Niedriges oder Böses in ihm war, weil er nie etwas zu verbergen hatte, konnte er sich immer unbefangen und ohne Rückhalt geben und das machte einen Hauptreiz seiner Unterhaltung aus. Voll Zutrauen gegen die Menschen war er in der Aufrichtigkeit seines Herzens fast allzu arglos. Den Schwächen Anderer stand er mit gutmüthigem Humor gegenüber und seine humoristischen Gedichte sind voll heiterer Laune. Streng gegen sich, gegen Andere nachsichtig, besaß er die schöne Heiterkeit eines, der Haß und Bitterkeit nicht kennt. So bereit er war, Andern zu helfen, so wenig nahm er für sich in Anspruch. Daß man sich einer Pflicht entziehen, eine Hülfe versagen, ja, daß man eine Pflicht sich leicht machen, eine Hülfe nur karg gewähren könne, kam ihm nicht in den Sinn. In seinem Amt arbeitete er mit ganzer Seele; in allem was er that, war er voll Hingebung an die Sache ohne irgend welche persönliche Zwecke. Von seinem reichen Schatz an Wissen und Erfahrung gab er uneigennützig Jedem, zufrieden, wenn die Gabe im Dienst der Wissenschaft verwandt wurde. Denn in der Wissenschaft ging er auf, sie hielt er so hoch, daß sein eines Streben war, sie, nicht sich zu fördern.


[559] *) Zu S. 268.