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Artikel „Vestvali, Felicita von“ von Hermann Arthur Lier in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 653–654, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vestvali,_Felicita_von&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 07:32 Uhr UTC)
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Vestvali: Felicita v. V., Sängerin und Schauspielerin, eigentlich Anna Marie Stegemann, stammte aus einem alten polnischen Adelsgeschlecht. Sie wurde in Stettin am 23. Februar 1828 (nach anderen in Warschau im Jahre 1831) geboren, wo ihr Vater unter dem Namen Stegemann die Stelle eines höheren Beamten bekleidete. (Es wird auch behauptet, daß er den Titel Graf und den Rang eines Generals in der preußischen Armee gehabt habe.) Ihre Mutter war eine geborene Baronesse v. Hünefeld. Felicita, die bis zu ihrem ersten Auftreten als Sängerin auf der italienischen Bühne den Namen Anna Stegemann führte, erhielt eine ausgezeichnete Bildung und verrieth schon als Kind eine entschiedene Neigung für das Theater. Da sie von ihren Eltern nicht die Erlaubniß erhielt, sich der Bühne widmen zu dürfen, entfloh sie mit fünfzehn Jahren in Knabenkleidung, um sich der Bröckelmann’schen Gesellschaft anzuschließen. Bald darauf kam sie an das Stadttheater in Leipzig, wo sich die Schröder-Devrient(?) ihrer annahm und ihr Unterricht ertheilte. Sie gefiel in Partien wie Agathe, Regimentstochter u. s. w. sehr und fand daher sehr bald an dem Hoftheater zu Hannover Engagement. Da sie aber fühlte, daß ihr die eigentliche Schulung fehlte, gab sie ihre Stellung in Hannover auf und wandte sich nach Paris, um sich an dem dortigen Conservatorium ausbilden zu lassen. Auf der Insel Jersey, wohin sie auf einer Concertreise gekommen war, von ihren Collegen im Stich gelassen und aller Mittel beraubt, blieb sie dort als Musiklehrerin, bis sie die Mittel hatte, nach Neapel zu reisen und Schülerin Mercadante’s zu werden. Unter seiner Leitung entwickelte sie ihre schöne Stimme zu einem Contra-Alt von phänomenaler Tiefe und Wucht. Nachdem sie ihre Gesangsstudien bei Pietro Montani in Florenz beendet hatte, trat sie im J. 1853 in der Scala zu Mailand unter dem Namen Felicita v. Vestvali als „Romeo“ auf. Der Erfolg war ein enormer. Verdi vertraute ihr trotz ihrer Jugend die Acuzena im „Troubadour“ an. Bald drang ihr Name über die italienische Grenze hinaus. Zu einem Gastspiel in London aufgefordert, entzückte sie den vornehmsten englischen Adel, der ihr ungeahnte Triumphe bereitete. Da ihr aus Amerika colossale Summen geboten wurden, ließ sie sich verleiten, in das Land der Dollars zu ziehen und im Verein mit Mario und der Grisi in den Städten der Union umherzureisen. Auch hier war der Erfolg außergewöhnlich, da Rollen wie Romeo, Tancred und Arsace (in der „Semiramis“) von ihr in der That hinreißend gespielt und gesungen wurden. Als sie nach [654] Mexiko kam, wurde ihr die Direction des großen dortigen Nationaltheaters mit der ungeheuren Subvention von 43 000 Dollars angeboten. Sie nahm dieses Anerbieten an und erwarb sich in kurzer Zeit ein Vermögen, in dessen Besitz sie nach Europa zurückkehrte, um im J. 1859 für kurze Zeit, gleichfalls unter dem größten Beifall der Hörer in der großen Oper zu Paris aufzutreten. Hierauf wandte sie sich wieder nach Amerika, hatte aber nicht mehr das alte Glück, da man ihr Bestreben, dort die classische Musik, namentlich Gluck, einzubürgern, nicht verstand. Sie verlegte sich daher ganz auf das Schauspiel und nahm bei Kean Unterricht. Im J. 1864 spielte sie in New-York zum ersten Mal die Titelrolle in Shakespeare’s „Romeo“, und ließ darauf bald den Hamlet und den Petrucchio folgen. Wiederum waren die Amerikaner bis zur Tollheit entzückt. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich als sie im J. 1867 nach London und ein Jahr später nach Hamburg kam. Sie erregte hier wie dort eine unbeschreibliche Begeisterung, die bei einzelnen ihrer Verehrer und Verehrerinnen bis zur Narrheit ausartete. Es folgten nun Gastspiele an allen größeren deutschen Theatern, und als diese versagten, stieg sie auch zu den kleineren Bühnen herab, da sie nirgends Ruhe hatte und sich nie genug im Spielen thun konnte. Frühzeitig von der Presse todt gesagt, starb sie erst am 3. April (nicht 3. Febr.) 1880 zu Warschau. Auf ihren Wunsch geleitete ihre unzertrennliche Freundin Elise Lund, eine geborene Hamburgerin und Schülerin Carl Töpfer’s, ihren Leichnam nach Warmbrunn, wo die V. eine Villa besaß, und wo ihr von Freundeshand ein Denkmal errichtet worden ist. – Die Urtheile über die schauspielerischen Leistungen der V. lauten sehr verschieden. Ihre beste Rolle war ohne Zweifel der Hamlet; ihr Romeo dagegen bedeutete nichts, und den Petrucchio gab sie als bloßen Polterer. Noch weniger lagen ihr weibliche Rollen wie die Elisabeth in Laube’s „Essex“, denn sie war, wie sich ein Kritiker ausdrückte, „als Weib noch mehr Mann, als sie als Mann Weib war“. Aber auch ihr Hamlet war nur ein interessantes Experiment, bei dem man über das peinliche Gefühl des Künstlichen und Gemachten nicht hinauskam. Ihre Absichten waren jedenfalls die besten. Niemand wird ihrem Hamlet wirkliches Verständniß absprechen können und im Vergleich zu dem, was die meisten männlichen Vertreter dieser Rolle bieten, scheint ihre Leistung immerhin noch ein nachahmenswerthes Vorbild gewesen zu sein.

Vgl. Illustr. Zeitung. Leipzig 1869. LII, S. 67–69. – H. Uhde, Das Stadttheater in Hamburg. Stuttgart 1879. S. 542–546. – F.-J. Fétis, Biographie universelle des musiciéns. Supplément. Paris 1880. II, 617. – Almanach der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger. Cassel und Leipzig 1881. IX, 109–112. – Deutscher Bühnen-Almanach. Berlin 1870. Bd. 34, wo das Bildniß der Vestvali als Hamlet beigegeben ist, und 1881, Bd. 45, S. 153–157. – Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. XVI, 174. – Das Buch Felicita v. Vestvali. Pallas Athene. Memoiren e. Künstlerin. München 1873, ist ein Roman, der für die Biographie der Künstlerin nur mit Vorsicht zu benutzen ist.