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Artikel „Tausig, Karl“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 473–474, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tausig,_Karl&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 00:09 Uhr UTC)
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Tausig: Karl T., einer der bedeutendsten Claviervirtuosen seiner Zeit, geboren am 4. November 1841 zu Warschau, † am 17. Juli 1871 zu Leipzig. Sein Vater Aloys T., ein Schüler Thalberg’s und ein tüchtiger Clavierspieler, ließ sich die Erziehung seines Sohnes sowol in wissenschaftlichen Fächern als in der Musik sehr angelegen sein; später gab er ihn zu Liszt, der in Weimar residirte und dem aus allen Theilen der Welt die bedeutendsten Kräfte zuströmten, um bei ihm die letzte Feile an ihre Technik als Claviervirtuose zu legen. Liszt nahm an dem originellen Jünglinge das größte Interesse, und obgleich er so ganz anders veranlagt war wie er selbst, so schien dies gerade den Reiz noch zu erhöhen. Aus jener Zeit besitzen wir in dem Briefwechsel von Liszt und Richard Wagner (Lpz. 1887, II, 197) einen trefflichen Commentar zur Erscheinung Tausig’s. Liszt schreibt am 18. Mai 1858 an Wagner: „Da sende ich Dir einen Wunder-Kerl, liebster Richard. Nimm ihn freundlich auf. – Tausig soll Deinen Erard gehörig bearbeiten und Dir allerlei Zeug zusammenspielen. – Empfehle ihn unseren gemeinschaftlichen Freunden in Zürich.“ (Wagner lebte damals als Verbannter in Zürich.) Darauf antwortete Wagner am 2. Juli 1858: „Eine große Freude machtest Du mir mit dem kleinen Tausig“ (T. war damals 17 Jahre alt, war aber von Figur schmächtig und nur mittelgroß). „Das ist ein schrecklicher Junge: bald staune ich über seinen eminent entwickelten Verstand, bald über seine rasende Art. Der muß etwas ganz Außerordentliches werden, wenn er überhaupt etwas wird. Mit seinem fürchterlich starken Cigarrenrauchen und Theetrinken, bei gänzlichem Mangel aller Aussicht auf Bart, erschreckt er mich wie die jungen Enten die Henne, die sie aus Versehen ausgebrütet, wenn sie ins Wasser gehen. Wohin der es noch bringen soll, begreife ich nicht, Schnapps und Rhum (!) bekommt er bei mir aber nicht. Meiner ganz erträglich soutenirten Tafel thut er aber wenig Ehre an; er setzt sich fast jedesmal mit der Erklärung, gar keinen Appetit zu haben, zu Tisch, was mir um so weniger Freude macht, als ich weiß, daß dies vom vielen zuvor genossenen Käse oder Zuckergebäcke kommt. In dieser Art martert er mich eigentlich beständig, ißt mir einzig meine Zwiebacke weg, mit denen selbst mich meine Frau sehr kurz hält. Spaziergänge sind ihm ein Gräuel: dennoch behauptet er gern mitzugehen, wenn ich ihn zu Hause lassen will; nach der ersten halben Stunde streitet er dann bereits 4 Stunden gegangen zu sein … Natürlich macht mir der Junge auch außerdem noch große Freude: wenn er sich wie ein Bube benimmt, redet er doch meistens wie ein Alter, und zwar von scharfem Calibre. Ich kann mit ihm Alles und jedes Thema vornehmen, er wird mir bestimmt mit Helligkeit und großer Receptivität zu folgen wissen. Dabei ist es denn eben so rührend und ergreifend, wenn dieser Junge mir dann ein so tiefes zartes Gefühl und eine so weit hin empfindende Sympathie zeigt, daß er mir unwiderstehlich nahe kommt. Musikalisch ist er jedenfalls enorm befähigt und sein rasendes Clavierspiel macht mich schaudern. Da muß ich denn immer an Dich denken …“. Auch im nächsten Briefe vom 8. Juli 1858 beschäftigt er sich mit ihm und vertheidigt ihn gegen Liszt. Tausig’s erstes Auftreten als Virtuose rief eine heftige Opposition hervor. Die Verehrer Liszt’s und Wagner’s hoben ihn gen Himmel, während ihn alle Uebrigen sehr scharf beurtheilten. Allgemeine Anerkennung fand nur seine bis dahin noch nicht dagewesene Sicherheit, seine Klarheit im Ton, die selbst bei den stärksten Stellen nicht litt, dagegen mißfiel sein Anschlag, die Härte seines Tones und das wilde Einherstürmen, [474] dem kein Instrument gewachsen war; unter seinen Schlägen büßte das Instrument jeden Wohlklang ein. Seit 1859 hatte er einige Concertreisen unternommen und sich dann in Dresden niedergelassen, doch hier fand er wenig Anerkennung. Er ging um 1861 nach Wien, doch auch hier fand man nur Gefallen daran, ihn mit Tadel zu überschütten. Hanslick (in der Presse) rühmt ihm zwar eine nicht gewöhnliche Begabung, außerordentlichen Fleiß, Bravour, Kraft, Ausdauer Gedächtniß und Witz nach, doch im übrigen setzt er ihm scharf zu. Als Schluß sagt er über sein erstes Concert: „Keine einzige Vortragsnummer des Herrn T. hat uns mit einem reinen, befriedigenden oder gar tiefen Eindruck entlassen.“ Die Deutsche Musikzeitung von Selmar Bagge (Wien 1862, S. 390) stößt in dasselbe Horn: sein stechender Anschlag, „der das Clavier förmlich wimmern macht“, sein Pianissimo, „nur gestreift, getippt, gefegt, lange Perioden nachlässiger Gleichgültigkeit“ setzen den Referenten in Zorn, so daß er sich zu dem Ausspruche verleiten läßt: nicht Ueberkraft, sondern im Gegentheil Blasirtheit ist der Grundcharakter von Tausig’s Spiel. T. wandte auch Wien den Rücken und ging nach Berlin. Hier fand er einen durch H. v. Bülow’s vielfaches Auftreten als Virtuose gut vorbereiteten Boden. Die überschäumende Jugendkraft hatte auch bereits einer ruhigeren Auffassungsgabe Raum geschaffen und so fand er in Berlin, wenn auch nicht unbedingte, dennoch eine seinen Leistungen entsprechende Anerkennung, die sich von Jahr zu Jahr in einer Weise steigerte, daß er schließlich den Sieg über alle Gegner davontrug und so oft er auch öffentlich auftrat, stets einen gefüllten Saal fand. Der Schreiber dieser Zeilen hat ihn mehrfach gehört und Gelegenheit gehabt, einen Vergleich mit Bülow’s Spiel zu machen. Tausig’s Unfehlbarkeit war staunenswerth, sein Vortrag stets von einer wahren Sonnenklarheit, sowol im Forte als Piano. Technische Schwierigkeiten gab es für ihn nicht. Der Zuhörer war seiner Sicherheit ebenso gewiß wie T. selbst und konnte sich ganz dem Genusse hingeben, freudig angeregt durch diese Titanenleistungen. Man vergaß dabei oft, daß T. ein inniges Gefühlsleben abging, was v. Bülow in so hohem Grade besaß. Der Zuhörer kam aus dem Staunen nicht heraus, empfand aber doch nachträglich eine Leere, statt innerliche Befriedigung. Bei T. stand die Technik obenan, während sie bei Bülow nur das Mittel zum Ausdruck der Empfindung bildete. Das war der große Unterschied zwischen den beiden Heroen in den 60er Jahren. T. war Bülow technisch überlegen, doch als Interpret classischer Compositionen stand Bülow unerreicht da. Im J. 1869 gründete T. ein Musikinstitut für das höhere Clavierspiel, welches er bis zu seinem Tode leitete, wobei er sich eines großen Zuspruchs erfreute. In seinem bürgerlichen Leben blieb er ein Freund von Extravaganzen, wie ihn schon Richard Wagner als Jüngling schildert und man erzählte sich manch komischen Zug. Als Componist hat er auf dem ihm so kurz zugemessenen Lebenswege wenig geleistet, doch hat er sich verdient gemacht durch Herausgabe von classischen Werken, die er für seine Schüler mit großer Sorgfalt präparirte. Auf einer Reise nach Leipzig starb er ganz plötzlich am Typhus. Seine hinterlassenen „Technischen Studien“ gab Heinrich Ehrlich bei Trautwein in Berlin heraus.