ADB:Stolze, Heinrich August Wilhelm

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Stolze, Heinrich August Wilhelm“ von Ernst Alberti in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 425–428, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stolze,_Heinrich_August_Wilhelm&oldid=- (Version vom 8. Dezember 2024, 09:20 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Stolz, Michael
Nächster>>>
Stolze, Nikolaus
Band 36 (1893), S. 425–428 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Heinrich August Wilhelm Stolze in der Wikipedia
Heinrich August Wilhelm Stolze in Wikidata
GND-Nummer 115378162
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|36|425|428|Stolze, Heinrich August Wilhelm|Ernst Alberti|ADB:Stolze, Heinrich August Wilhelm}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=115378162}}    

Stolze: Heinrich August Wilhelm St., neben Gabelsberger der Bahnbrecher auf dem Gebiete der deutschen Stenographie, ist am 20. Mai 1798 in Berlin geboren. Da er das Handwerk des Vaters, die Schuhmacherei, seiner schwächlichen Gesundheit wegen nicht erlernen konnte, wurde er im J. 1809 dem Joachimsthalschen Gymnasium übergeben, dessen Classen er bis Prima mit bestem Erfolge besuchte, um Theolog zu werden. Der im J. 1812 erfolgte Tod seines Vaters, dessen früher blühendes Geschäft während der napoleonischen Kriege verfallen war, nöthigte den Knaben bald, durch Privatunterricht für seinen und seiner Mutter Unterhalt zu sorgen, so daß seine Schularbeiten größtentheils ein Werk der Nacht waren. Diese Nothlage hat zuerst in ihm das Verlangen nach der Stenographie wachgerufen. Unmittelbar vor der Abiturientenprüfung übernahm er auf Wunsch seiner Mutter, nicht ohne schwere innere Kämpfe, eine ihm von einem seiner Lehrer erwirkte Stelle im Büreau der Berlinischen Feuerversicherungsgesellschaft. 18 Jahre lang hat er dieser in treuester Pflichterfüllung gedient. Doch hatte er namentlich das Unterrichten so lieb gewonnen, daß er auch in seinem neuen Berufe nicht nur dazu einen Theil seiner freien Stunden verwendete, sondern auch durch Selbststudium und Anhören von Universitätsvorträgen sich weiter auszubilden suchte. Das dabei sich abermals geltend machende Bedürfniß nach einer kürzeren Schrift hoffte er durch Erlernung des 1819 in zweiter Auflage erschienenen Mosengeil’schen Systems (s. A. D. B. XXII, 368) befriedigen zu können. Wurde diese Hoffnung nun freilich auch nicht ganz erfüllt, so wurde doch gerade durch dieses System in ihm ein reges Interesse an der Stenographie überhaupt erweckt; denn die wissenschaftlich vornehme Art, mit der Mosengeil über Werth und Bedeutung der Stenographie urtheilt, der er die Rolle einer nützlichen Dienerin nicht sowol auf parlamentarischem Felde als vielmehr auf dem Gebiete der geistigen Arbeit überhaupt zuschreibt, war St. so congenial, „daß wir annehmen dürfen, Mosengeil habe, wenn nicht geradezu die Richtung Stolze’s bestimmt, so doch das, was an ähnlichen Vorstellungen sich damals in St. bereits regte, aufs lebhafteste bestätigt und befestigt“. Von da an lernte St. die vorzüglichsten englischen, französischen und deutschen Systeme der Stenographie kennen. So studirte er im J. 1821 die 1796 erschienene Stenographie von Holstig und die von Leichtlen, 1822 die von Stärk, 1827 das System von Brede, 1828 das von Dutertre, 1829 die unter dem Namen der tironischen Noten bekannte Kurzschrift der alten Römer, aus der er die Erkenntniß gewann, daß auch die deutsche Stenographie ihre Elemente aus der deutschen Currentschrift zu entnehmen und nicht aus geometrischen Zeichen zu bilden habe. Das führte ihn dazu, sich mit den besten kalligraphischen Werken seiner Zeit zu beschäftigen. Auch die 1831 erschienene Homographie der Lady Scott, sowie die [426] Stenographie von Nowak zog er in den Bereich seiner Studien, aber keines dieser Systeme entsprach seinem Ideale einer auf den Bau der deutschen Sprache gegründeten, in der Bezeichnung zuverlässigen und einfachen Kurzschrift. Dieses Ideal war ihm nicht nur aus dem Studium der sprachwissenschaftlichen Werke von Becker, Franz Bopp und Grimm, sondern auch aus seiner pädagogischen Beschäftigung erwachsen. Unterrichtete er doch seine beiden Kinder – 1831 hatte er sich mit seiner Cousine vermählt – bis zu ihrem 12. Lebensjahre selbst. Nur von einer diesem Ideal entsprechenden Kurzschrift erwartete er, daß sie für den Schulunterricht und eine allgemeinere Verbreitung geeignet sein würde. Ein solches System zu schaffen war daher sein Ziel.

Da erschien 1834 Fr. X. Gabelsberger’s Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst, zum ersten Male eine wirklich deutsche Stenographie, in der St. mehrere von seinen eigenen Ideen verwirklicht fand. Und doch erreichte sie nicht sein Ziel. Betrachtete Gabelsberger seine Erfindung als ein Heiligthum, in das nur Intelligenz und höhere wissenschaftliche Bildung einzutreten berechtigt sein sollten, so wollte St. Jedem, der einige Kenntniß der deutschen Grammatik und eine geläufige leserliche Handschrift besaß, eine Schrift in die Hand geben, die einen allgemeinen Culturfortschritt auf dem Gebiete der Schreibkunst bedeutete. So sehr ihn daher auch die Genialität Gabelsberger’s anfangs blenden mochte, so schwer es ihm geworden sein mag, sich dem Einflusse dieses gewaltigen Geistes zu entziehen, so stand ihm doch bereits damals sein Ideal einer Kurzschrift so bestimmt vor Augen, hatte er bereits damals die Probleme, um die es sich dabei handelte, so tief erkannt und fühlte sich in den fundamentalen Fragen dem Altmeister so überlegen, daß er eben damals, am 1. Juli 1835, gegen den Rath aller seiner Freunde, seine feste und auskömmliche Stellung aufgab, um, indem er als Privatgelehrter durch Unterricht sein und seiner Familie Leben fristete, völlig der Verwirklichung seines Ideals einer deutschen Kurzschrift leben zu können. Unermüdlich hat er in den folgenden Jahren daran gearbeitet, bis er im März 1838 ein einheitliches Princip für die vollständige Bezeichnung der Vocale fand, das den weiteren Aufbau des Systems bestimmte. Von allen anderen Beschäftigungen machte er sich darum jetzt frei und arbeitete in den folgenden zwei Jahren lediglich an der Ausgestaltung seiner Idee. Mit der theoretischen Grundlegung ging die praktische Erprobung Hand in Hand. Ein gerade aus jenen Jahren erhaltenes Bruchstück von Manuscripten Stolze’s beweist, mit welchem Fleiß und welcher Gründlichkeit er dabei zu Werke gegangen ist; dieses Bruchstück enthält allein 784 eng beschriebene Quartseiten geschichtlichen Stoffes.

Im Herbst 1840 war St. so weit, daß er das Manuscript seines Lehrbuchs dem preußischen Unterrichtsministerium mit dem Gesuch um Beihülfe zur Herausgabe des Werkes überreichen konnte. Da ihm diese in Höhe von 282 Thalern unter der Bedingung der Rückzahlung zugesichert wurde, trat er im Januar 1841 als Lehrer der Stenographie auf, und im Mai desselben Jahres konnte er sein Lehrbuch der Oeffentlichkeit übergeben.

In dessen Einleitung spricht er den für ihn leitend gewesenen Grundsatz aus, daß das Wort, wie es in der lebendigen Sprache ein einheitliches organisches Gebilde sei, so auch in der stenographischen Schrift nicht aus den einzelnen Buchstaben zusammengesetzt erscheinen dürfe, sondern „vielmehr als ein Bild vor unsere Augen treten müsse, in dem gleichwol die beiden einander entgegengesetzten Elemente, Vocal und Consonant, Auslaut und Anlaut, Endung und Stamm stets deutlich unterschieden seien“, und nachdem er die Geschichte der Stenographie von den Griechen und Römern an bis auf Gabelsberger kritisch dargestellt hat, bestimmt er die Vorzüge seiner Methode vor den früheren dahin, [427] daß sie 1. die vollständige Bezeichnung aller Laute jedes einzelnen Wortes als obersten Grundsatz aufstelle, so daß also überall der Buchstabe den Laut, den fehlenden Laut aber eine bestimmte Regel vertrete, daß sie 2. mit dieser Vollständigkeit die nothwendige Kürze der Bezeichnung vereinige und 3. in ihren Regeln über die Verbindung der Buchstaben zu Wörtern vollständig sei.

In der Vollständigkeit seines Systems sah er mit Recht dessen wesentlichen Vorzug vor allen früheren; es vollkommen zu nennen, dazu war er zu bescheiden. Vielmehr hat er sich wiederholt aufs bestimmteste dahin geäußert, daß es ihm nicht auf sein Werk, als vielmehr auf die Förderung der Stenographie überhaupt ankäme, und daß er Jedem gerne weichen wollte, der thatsächlich Besseres leisten würde.

Die Hoffnungen, die St. darauf gesetzt hatte, daß das preußische Ministerium sich seiner Erfindung in ähnlicher Weise annehmen werde, wie das bairische der Gabelsberger’s, schlugen leider völlig fehl; denn „der Decernent, der Stolze’s darauf gerichtete Eingaben zu prüfen gehabt, hatte in seinem Bericht an den Minister geschrieben, er könne nur dringend rathen, dem St. eine Unterstützung zur Herausgabe seines Werkes zu gewähren. Man werde auf diese Weise bei dem Feuereifer des Mannes durch eine einmalige geringe Ausgabe, und indem man ihm Aussichten auf Einführung seines Systems in die Schulen eröffne – die sich ja später nicht zu erfüllen brauchten – das Ziel erreichen, sich tüchtige Stenographen zu beschaffen, ohne genöthigt zu sein, wie andere Staaten, regelmäßig dauernde Ausgaben dafür zu machen oder wol gar ein Staatsinstitut errichten zu müssen.“

Da auch die Unterrichtsthätigkeit nicht die erwünschten Erfolge hatte, das Ministerium auf Zurückgabe des Vorschusses drang – erst 1845 ward diese im Gnadenwege niedergeschlagen –, St. aber von allen Mitteln entblößt und selbst von schwerer Krankheit heimgesucht war, so brach für ihn und seine Familie eine Zeit der Verzweiflung herein, in der er sich nur dadurch vor dem Untergange zu retten wußte, daß er ein kleines Posamentiergeschäft gründete, dessen Leitung seiner Frau zufiel. Den bittern Kelch des Leidens, der ihm während seines ganzen Lebens so oft geboten wurde, hat St. in dieser Zeit bis auf die Neige leeren müssen. Da erinnerten sich seiner – es war im J. 1844 – seine beiden ersten Schüler, die als Mitglieder der polytechnischen Gesellschaft in Berlin sich kennen gelernt hatten, der Kaufmann Karl Kreßler und der königl. Marstallsecretär Jaquet. Sie griffen sofort energisch durch, wußten die polytechnische Gesellschaft für die Stolze’sche Sache zu interessiren, gründeten in demselben Jahre noch den „Stenogr. Verein zu Berlin“, den ersten Stenographenverein überhaupt, verschafften St. Schüler und machten umfängliche Propaganda für seine Sache. So wurde der Meister mit neuem Lebensmuthe und der Gewißheit erfüllt, daß seine Arbeit, die Arbeit eines Lebens, im Dienste der Stenographie nicht verfehlt gewesen sei.

Freilich gelang es ihm erst nach harten Kämpfen, seiner Sache von seiten des Staates die äußere vollendete Anerkennung zu verschaffen. Erst 1850 ward er zum Vorsteher des stenographischen Büreaus des preußischen Abgeordnetenhauses ernannt, wodurch ihm für den Rest seines Lebens eine Laufbahn eröffnet wurde, die er seit Jahren schon so gern als den Zweck desselben betrachtet hätte. Bis zu seinem am 8. Januar 1867 erfolgten Tode hat er diese Stellung bekleidet, unermüdlich und treu alle ihre Pflichten erfüllend. Hier hat sich der Meister der Theorie auch als ein Meister der Praxis bewährt. „Nicht nur die prächtige, leserliche Handschrift“, rühmt einer der hervorragendsten Praktiker seiner Schule von ihm, „in ihrer Gedrungenheit und Rundung macht auf den Fachmann, der da weiß, wie schwer es ist, im Fluge der Rede auch noch schön [428] zu schreiben, den tiefsten Kunsteindruck, sondern auch die eben so geniale und dabei doch maßvolle Art, mit der St. zu kürzen verstand, reißt zu aufrichtiger Bewunderung hin“.

Aber nicht nur um deswillen, was St. als Theoretiker und Praktiker auf dem Gebiete der Stenographie geleistet hat, sondern ebenso um seines Charakters willen verdient er die Bewunderung aller Edeldenkenden. Man muß wissen, mit welcher Fülle von äußerem und innerem Leid, das aller Beschreibung spottet, dieser Mann in seinem Leben hat kämpfen müssen, um auch nur entfernt zu verstehen, was er ertragen und – was mehr ist – überwunden hat. Trotz allen bitteren Erfahrungen ist er aber Zeit seines Lebens ein Idealist gewesen, und so rauh ihm das Leben mitgespielt hat, niemals hat er sich in landläufige Gemeinheit hinabziehen lassen. Eine durchaus vornehme, etwas verschlossene, aber ehrliche, wahrhaftige, treue und gewissenhafte Natur, aufopferungsfähig und bescheiden, so steht er vor Dem, der sein Leben überschaut, ein von Wenigen zu erreichendes Vorbild.

Sein Werk war bereits bei seinem Tode weit verbreitet. Gelegentlich des 25jährigen Bestehens des Systems im J. 1866 zählte man 7 Verbände mit 109 Vereinen und 6050 Mitgliedern, die seine Sache pflegten, und die 50jährige Jubelfeier im J. 1891 wurde von 26 Verbänden mit 495 Vereinen und 12 448 Mitgliedern begangen. Geben diese Zahlen auch keinen zutreffenden Begriff von der thatsächlichen Verbreitung der Stolze’schen Stenographie, so zeigt doch ihre Vergleichung das stetige Wachsthum. Die im J. 1845 zuerst erschienene Anleitung, die das System in kurzer Fassung enthielt, ist seitdem in 57 Auflagen mit 207 500 Exemplaren ausgegeben worden. Neben ihr erfreuen sich eine ganze Reihe anderer Lehrbücher gleichfalls großen Absatzes. Das System ist auch auf die bekanntesten lebenden Sprachen übertragen worden und hat da zum Theil nicht unbedeutende Verbreitung gefunden. Den Interessen des Systems dienen mehrere Fachzeitschriften, darunter das 1849 wol als älteste stenographische Zeitschrift überhaupt begründete Archiv für Stenographie.

Das deutsche System hat durch die Prüfungscommission des stenographischen Vereins zu Berlin, der St. bei Lebzeiten selbst angehörte, zuerst 1872, dann 1888 eine Weiterbildung im Sinne der Vereinfachung des Regelwerks erfahren, wodurch zugleich die ursprünglichen Grundsätze Stolze’s auf Grund der neueren Ergebnisse der stenographischen Wissenschaft schärfer und consequenter ausgeprägt wurden.

Stolzebibliothek Band I–XVIII, Berlin 1889–92.