ADB:Steub, Ludwig
Leonhard Spengel’s und Michael Söltl’s Unterricht genoß. 1828 bezog er die Hochschule, um sich dem Studium der Philologie zu widmen, doch obwol ihm die Vorlesungen Friedrich Thiersch’s fruchtbare Anregung boten, ging er, um sich nicht „sein ganzes Leben lang mit ungezogenen Jungen herumbalgen zu müssen“, zum juridischen Fach über. Auch die Pandekten und der gemeine Civilproceß boten dem mit lebhafter Phantasie Begabten nicht die gehoffte Befriedigung. „Ich fühlte deutlich, daß ich nicht auf dem rechten Wege sei, aber ich wußte keinen andern“ – so unterzog er sich denn dem Examen und trat am Landgericht Au bei München in Praxis. „Mit meinen Gedanken war ich aber nicht im Landgericht Au, sondern – im schönen Griechenland!“ Bald begann ihn „der bairische Himmel zu drücken“; durch das Anwachsen der Reaction unter dem Ministerium Wallerstein war jungen Leuten von freierer Gesinnung ein Vorwärtskommen im Staatsdienst fast abgeschnitten, dagegen schien die Berufung des Prinzen Otto auf Griechenlands Thron den Landsleuten des Basileus günstige Aussichten zu bieten. Rasch entschlossen setzte der junge Mann, als ihm seiner ausgezeichneten Qualification wegen eine Anstellung als „Regentschaftssecretär“ mit einem Gehalt von 600 Gulden zugesichert wurde, im Mai 1834 die Uebersiedlung ins Werk. Als er in Nauplia angekommen war, eröffnete ihm sein Chef, der geheime Secretär Stademann, „der unter den Bajuvaren der höflichste, weil er ein geborner Berliner war“, daß es vorerst für ihn keine Arbeit gebe. Der „Regentschaftssecretär“ war über diesen Bescheid nicht unglücklich und benutzte die Muße zu Streifzügen ins Hellenenland. Die Erlebnisse sind geschildert in den „Bildern aus Griechenland“ (1841). Die Schlendertage fanden aber bald ein Ende, es stellte sich nur all zu viel Actenarbeit ein, auch als Dragoman des Grafen Armansperg mußte sich der junge Beamte verwenden lassen, aber es wurde ihm immer klarer, daß in Griechenland auf eine glückliche Zukunft nicht zu rechnen sei. Es kam auch zu Reibungen mit den Vorgesetzten, und als ihm endlich eine Richterstelle in dem verfallenen Städtchen Chalkis, also eine Beförderung von höchst zweifelhaftem Werth, angeboten wurde, bat er um seine Entlassung. Im Mai 1836 langte er wieder in der Heimath an. Er bewahrte übrigens den Hellenen ein freundliches Andenken. Als Fallmerayer 1847 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung die anatolischen Reisebilder [136] erscheinen ließ, worin über Griechenland und die Griechen ein bitteres Verdict gefällt war, vertheidigte St. im nämlichen Blatt, Ton und Stil Fallmerayer’s nachahmend, sowol die tapferen Sieger von Verga und Tschesme, als die vom Fragmentisten verspotteten „Phantasten und Ideologen“, die westeuropäischen Philhellenen. Noch in stark vorgerücktem Lebensalter konnte St. dem inneren Drange, die Akropolis und Akademos Hain nochmals zu schauen, nicht widerstehen; er folgte 1884 zunächst einer Einladung des österreichischen Consuls Freiherrn v. Warsberg auf die Insel Scheria, und besuchte dann jene Stätten, wo er vor einem halben Jahrhundert mit eigener Hand ein ὀφένι gesetzt und der schönen Irene, der Tochter seines Hauswirths, den Hof gemacht hatte. Nach der Heimkehr gab er die alten Bilder (auszugsweise) und neue Reisebriefe vereinigt heraus, und zu seiner Freude wurden die meisten Stücke ins Neugriechische übertragen und in Hellas mit warmen Lobsprüchen bedacht. Es ist zu beklagen, daß St. nach seiner ersten Rückkehr ins Vaterland nicht in die akademische Laufbahn eintrat, sondern den Beruf eines Rechtsanwalts wählte; er selbst beklagte dies später als „Mißgriff“. Ohne Zweifel wäre St. ein hervorragender Linguist geworden; freilich wäre damit vermuthlich der deutschen Litteratur ein liebenswürdiger Erzähler verloren gegangen. Als Rechtsanwalt brachte er es nicht zu erheblicher Geltung; um so eifriger widmete er die Mußestunden den von ihm bevorzugten Sprach- und Geschichtsstudien, sowie litterarischer Arbeit; war er doch „vom felsenfesten Glauben beseelt, daß er nur ein schönes Buch zu schreiben brauche, um seinem Leben einen andern Schwung zu geben“. 1841 erschienen die oben erwähnten „Bilder aus Griechenland“, „die jedoch nicht viel Glück erlebten und bald vergessen wurden“. Im nämlichen Jahre brachte das Morgenblatt die erste Novelle von St. „Der Staatsdienstadspirant“, die „das leere geistlose Leben eines gewöhnlichen kgl. bairischen Landgerichtspraktikanten in heiterer Ironie zu schildern sucht“. Auch allerlei Reisebilder aus Baiern und Tirol wurden in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht; solche „alpine Leckereien“ mußten ihm „die trockne, aber fast nahrhaftere Hausmannskost des bairischen Landrechts“ erträglicher machen. Bald darauf lud ein Karlsruher Verleger unsern Humoristen ein, für ein geplantes Werk: „Deutschland im neunzehnten Jahrhundert“, die Grafschaft Tirol mit Vorarlberg zu beschreiben. Dadurch bot sich erwünschte Gelegenheit zu längerem Aufenthalt in dem schönen Lande, dessen Berge und Burgen ihn schon lange lockten. Er verlebte viel frohe Tage in Meran mit dem feinsinnigen Joseph Lentner, in Klausen mit dem wahlverwandten Freunde von Geschichte, Sage und Dichtung, Franz Zingerle, in Paiersberg mit dem aufgeklärten Dr. Streiter. St. hatte an Art und Sitte des urwüchsigen Volkes aufrichtiges Wohlgefallen, freilich auch ein scharfes Auge für die geistige Unfreiheit und andere Schwächen der Tiroler; das Bergland ward ihm heimathlicher Boden, an dem sein Herz allzeit mit treuer Liebe hing, mochte auch sein Mund wol einmal das Gegentheil versichern. Die Frucht der ersten Wanderungen und Studien waren die für jenes Sammelwerk bestimmten „Drei Sommer in Tirol“, ein in seiner Art unübertroffenes Werk, reich an Witz und Humor, voll Farbenpracht und Waldesduft. Mit historischen Erinnerungen, die sich auf gewissenhafteste Forschung stützen, wechseln Erörterungen sprachlicher Natur, farbige Landschaftsbilder, naturwahre Beiträge zur Kenntniß des Lebens und Charakters der Bauernschaft. Das Buch wurde jedoch, zumal in Tirol selbst, nicht so freundlich aufgenommen, wie es der Verfasser erwartet hatte. „Mit den fünf ungebundenen und zwei gebundenen Freiexemplaren, die ich 1846 an meine Freunde in Tirol gesandt, war der Lesebedarf des ganzen Landes gedeckt. Die jetzigen Tiroler kennen nur noch den Titel.“ Das ist natürlich stark übertrieben, aber thatsächlich wurden die Vorzüge der [137] Schilderungen Steub’s in Tirol weit weniger beachtet, als vereinzelte ironische Ausfälle; insbesondere der Clerus grollte dem Aufklärer, der über uralte Gepflogenheiten rücksichtslos seine Meinung sagte und sogar mit seinen Lobsprüchen nur dazu beitrug, Fremde ins Land zu locken und damit die glaubensfesten Landessöhne in Versuchung zu bringen. Noch heute ist in Tirol die Meinung über St. getheilt; während von den meisten seine Verdienste um Tirol willig anerkannt werden, erblicken noch manche in ihm einen Gegner, der nur, um die eigene Ueberlegenheit zu zeigen, das unschuldsvolle Volk der Alpen mit hämischem Spott herabgesetzt habe. Manche mochte überhaupt schon verdrießen, daß ein Fremder über Tirol und Tiroler urtheilte und schrieb. „Bekanntlich behaupten die Tiroler, Anno neun wenn auch nicht die Freiheit, so doch die vollkommene Unverständlichkeit errungen zu haben und vergönnen niemanden, sei es Freund oder Feind, den Genuß, etwas über sie zu denken oder zu äußern, da es doch nur mißverstanden, also falsch und unnütz sein könnte.“ Der häufig wiederholte Aufenthalt in Tirol brachte es mit sich, daß sich auch die sprachwissenschaftlichen Studien Steub’s vorzugsweise auf dieses Land erstreckten. 1843 erschien seine Schrift „Ueber die Urbewohner Rhätiens und ihren Zusammenhang mit den Etruskern“. Auf seinen Wanderungen in den räthischen Alpen waren ihm die vielen seltsamen Ortsnamen aufgefallen, und der Wunsch, die Räthsel aufzulösen, hatte ihn zu eingehendem Studium angeregt. Vor den Sünden des Dilettantismus war er ein für alle Mal bewahrt durch seine tüchtige philologische Bildung, auch in der italienischen Sprache besaß er große Fertigkeit, und so untersuchte er denn „mit seltenem Scharfsinn, mit Jahrzehnte hindurch fortgeführtem Sammelfleiß und mit souveräner Beherrschung correcter Methode“ (Dahn) eine Reihe der schwierigsten Ortsnamen. Auf das Ergebniß seiner Forschungen gestützt, behauptete er, daß die Urbewohner Rhätiens nicht, wie bisher angenommen war, dem keltischen, sondern dem tuskisch-rasenischen Stamme angehört hätten. Später modificirte er die Hypothese einigermaßen, und in seinem linguistischen Hauptwerk „Zur räthischen Ethnologie“ (1854) wird weniger das etruskische, als das romanische Element betont; er begründet auf die Thatsache, daß sich zahlreiche römische Namen aus seltsamer Verkleidung hervorziehen lassen, die Annahme, daß sich die Einwohner der ganzen Provinz Rhätien allmählich die Sprache der siegreichen Römer angeeignet und auch noch im Mittelalter beibehalten hätten, so das z. B. im Stubai noch im 14. und 15. Jahrhundert romanisch gesprochen worden wäre. Später traten die etymologischen Studien mehr in den Hintergrund, doch bot er noch in „Onomatologische Belustigungen aus Tirol“ (1879), „Zur Namens- und Landeskunde der deutschen Alpen“ (1885), „Zur Ethnologie der deutschen Alpen“ (1887) eine Reihe von Zusätzen und Berichtigungen. In Tirol fanden Steub’s Versuche anfangs wenig Beachtung. „Das Büchlein „Zur räthischen Ethnologie“ brauchte zwanzig Jahre, bis es den kurzen Weg von München bis zu den Gelehrten von Innsbruck zurückgelegt hatte.“ Heute wird jedoch das Verdienst Steub’s um Sammlung und Erklärung jener fremdartigen Reliquien, der undeutschen Ortsnamen zwischen Scharnitz und Salurn, von den tüchtigsten Forschern anerkannt. Der ausgezeichnetste Kenner der ladinischen Dialekte, J. Alton (Die ladinischen Idiome), H. Kiepert (Lehrbuch der alten Geographie) u. A. sprechen dankbar von Steub’s bahnbrechender Thätigkeit, während Theodor Gartner (Die Gredner Mundart) diese Schriften „weniger in sprachwissenschaftlicher als in historischer und ethnologischer Beziehung für Studien über Tirol von Belang“ erachtet. Die Fehde mit den Keltomanen setzte St. in der populären Abhandlung „Die oberdeutschen Familiennamen“ (1870) fort; Siegert, Prinzinger, M. Koch u. A., die das Baierland als einen gälischen Clan angesehen wissen wollten, hatten an [138] ihm einen scharfen Gegner. Dagegen war er unermüdlich bestrebt, insbesondere in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, deren Mitarbeiter er ein halbes Jahrhundert hindurch blieb, die Kenntniß bairischen Volksthums durch eigene Beiträge und eindringlichen Hinweis auf fremde Leistungen zu fördern; er darf zum Kreis jener verdienten Gelehrten gezählt werden, welche, der Anregung König Maximilian’s II. Folge leistend, Erforschung und Bearbeitung bairischer Landes-, Sprach-, Sagengeschichte etc. zur Lebensaufgabe machten, es sei an Schmeller, Panzer, Schönwerth, Leoprechting, Quitzmann u. A. erinnert. Im Auftrag des Königs durchwanderte Joseph Lentner das ganze Land, um für getreue ethnographische Schilderung Stoff zu sammeln; diese Materialien, in welchen gewissermaßen des Baierlandes Volksthum inventarisirt ist, bilden die Grundlage der trefflichen Abschnitte über altbairische Art und Sitte in der Bavaria. Als Lentner 1854 starb, gab St., „um Altbaiern bei seinen eigenen Bewohnern populärer zu machen“, die hinterlassenen Erzählungen des allzu früh geschiedenen Freundes heraus; „freilich“, setzt er hinzu, „wenn man ein Land poetisch verherrlichen will, soll man nicht nach Altbaiern gehen, denn ich glaube kaum, daß von den gebildeten Licatiern (Lechrainern) der Gegenwart nur ihrer drei die schöne, für sie geschriebene Geschichte vom „Ritter und Bauer“ gelesen haben.“ Diese nicht unberechtigte Klage über die Theilnahmslosigkeit der Baiern gegenüber den litterarischen Leistungen ihrer Landsleute, – überraschend bei einem Stamme, dem es sonst keineswegs an Stolz und Selbstbewußtsein fehlt, – kehrt fortan, besonders in den letzten Lebensjahren Steub’s, fast zum Ueberdruß des Lesers häufig wieder. Trotzdem fuhr er fort, den Memorabilien seines Stammes neue Blätter hinzuzufügen. Ebenbürtige Gegenstücke zu den „Drei Sommern in Tirol“ sind „Das bairische Hochland“ (1860) und die „Wanderungen im bairischen Gebirge“ (1862). Auch hier sind Landschaftsscenen, historische Schilderungen und dem Volksleben abgelauschte Züge zu einem reizvollen Ganzen vereinigt; der Erzähler, nichts weniger als ein Schönfärber, weiß ebenso den Eigenthümlichkeiten des Osterlandes zwischen Isar und Salzach, wie des Westerlandes zwischen Isar und Lech gerecht zu werden; „man hat bei seinem Buche den seltenen Vortheil, die Leute kennen zu lernen, nicht wie sie sein sollten, sondern wie sie sind“ (F. Dahn). Im allgemeinen läßt sich aber die Beobachtung machen, daß sich, während bei den meisten Menschen das Urtheil mit zunehmendem Lebensalter an Schärfe verliert, die Lebensanschauung Steub’s mehr und mehr verbitterte und sich dem eigentlichen Humor immer schärfere polemische Ironie beimischte; die einzelnen Züge seiner Charakterzeichnungen sind echt, aber nicht immer das Gesammtbild, weil es nur die Schatten zeigt. Dies gilt insbesondere von den „Altbairischen Culturbildern“ (1869); zumal in der historischen Studie über den Judenmord in Deggendorf von 1476 drängt sich störend die Tendenz hervor, zu zeigen, wie entsittlichend, wie verderblich der katholische Clerus einwirkte, sodaß die bairischen Verhältnisse von heute „ein Stück des versunkensten Mittelalters, ein spät nachhinkendes Fragment aus den großen Zeiten der Kirche“. In den Fußstapfen der Jungdeutschen bewegt sich der 1858 erschienene Roman „Deutsche Träume“. Der Dichter glaubte damit sein Bestes zu geben. „Es findet sich wol in der ganzen Litteratur der Deutschen kein Buch, das in allen seinen Theilen, im Großen und im Kleinen, so oft überlesen, so mühsam durchgebürstet, so vielfach nachgebessert worden ist, wie diese Deutschen Träume.“ Der Roman wurde von den Freunden des Dichters enthusiastisch begrüßt. „Nach meiner Empfindung“, schrieb Dr. Streiter, „steht der Roman Wilhelm Meister’s Lehrjahren und Soll und Haben an Naturtreue und lebendiger Kraft so weit voran, als allenfalls ein Bild Gallait’s den Münchner Meistern.“ Doch die erhoffte allgemeine Theilnahme blieb aus. Der [139] Roman hat unbestreitbar große Vorzüge; über die politischen, socialen und künstlerischen Bestrebungen des Zeitalter wird manches treffliche Wort gesagt, die Tendenzen sind edel und groß. Aber es ist auch viel Verworrenes, Schwankendes, Unhaltbares in dem Buche; es fehlt den Helden und Heldinnen die Individualität, und schon die Zeitgenossen hatten für die geschilderten vormärzlichen Zustände, obwol dieselben noch keineswegs überwunden waren, nicht mehr das starke Interesse, das ein Jahrzehnt früher wol entgegengebracht worden wäre. Dagegen zeigt sich St. in kleineren Erzählungen als Meister von feinster Eigenart. Schon die 1853 erschienenen „Novellen und Schilderungen“ enthalten köstliche Genrebilder, „Die Trompete in Es“, „Das Seefräulein“ etc. Durch lebenswahre Charakteristik, originelle Erfindung und frischen Ton zeichnen sich diese Erzählungen vor vielen berühmter gewordenen Dorfgeschichten aus; man könnte eine wunderliche Ironie darin erblicken, daß Berthold Auerbach einmal schreibt: „Ist es nicht traurig, daß man vielen gebildeten Deutschen erst sagen muß, wer Ludwig Steub ist?“ Eine zweite Sammlung (1881) enthält u. a. die schalkhafte Novelle „Die Rose der Sewi“. „Die Fabel“, schrieb Felix Dahn darüber an den Dichter (29. Januar 1879), „ist so wahr, so echt, ich möchte sagen, ‚so möglich‘, daß man sie den allermeisten Dorfgeschichten als Muster aufstellen sollte. Und die Sprache, die ganze Formgebung, hochdeutsch und mundartlich, ist ganz unübertrefflich anmuthvoll: es durchzieht sie wie ein discreter, nie aufdringlicher, nirgend gesuchter Humor, eine feine, aber gutartige Ironie, welche, wie das leise Geriesel wohllautreichen Bergquells, uns in lauter Wohlgefallen auflauschend zu folgen zwingt.“ Doch auch diesmal traf der erwartete „ungeheure Pumperer“, ein voller, ganzer Erfolg, nicht ein, und der Verdruß über diese Theilnahmslosigkeit ließ ihn mehr und mehr in selbstquälerischen Pessimismus versinken. St. lebte in behaglichen Verhältnissen; er war seit 1863 zum Notariat übergegangen und bezog daraus ein ausreichendes Einkommen. Er erfreute sich eines Familienglücks, wie es wenigen beschieden ist. Mit Auszeichnungen von oben wurde er zwar nicht überschüttet, – erst der 70. Geburtstag brachte ihm einen Orden niedrigster Classe, – aber er nahm in München eine hochgeachtete Stellung ein, auch in litterarischen Kreisen, und zwar ebenso bei den Einheimischen, wie bei den „Berufenen“. Trotzdem war er nicht zufrieden; dies verräth sich in seinen Schriften, in welchen der Sarkasmus über den angeborenen Humor die Oberhand gewinnt, und noch unverhüllter in den Briefen an die Freunde. Er hatte nicht mehr das alte unbefangene, nachsichtige Urtheil über fremde Leistungen; er empfand es als Demüthigung, wenn Andere glücklichen Erfolg erzielten; diese selbstquälerische Stimmung, wie sehr er sich gelegentlich selbst darüber lustig machte, ließ die alte Lebensfreude nicht mehr aufkommen. Die unbedeutendste Sache, z. B. einen ärgerlichen Zusammenstoß mit einem eingebildeten Bureaukraten in Kufstein, bauschte er vor sich und andren zu einer unerträglichen Beleidigung auf, zu einem evidenten „Beweis für den Undank der Tiroler“. Er pries in Feuilletons beredten Mundes die Anmuth eines abgelegenen Thales und war dann ungehalten, wenn der öffentlichen Einladung auch Wandervögel von zweifelhafter Art Folge leisteten und seine Wege kreuzten. Als in einem Wiener Blatte die Anspielung zu lesen war, daß seinerzeit die Tiroler Gelehrten Streiter und Weber durch die Sarkasmen eines Dritten gegen einander gehetzt worden wären, bezog St. den Vorwurf – vermuthlich mit Recht – auf sich, und leerte – was gewiß nicht nöthig oder nützlich war – eine ganze Rüstkammer, um den Kampf mit dem unbedeutenden Gegner aufzunehmen. Unter dem Titel „Ein Sängerkrieg in Tirol“ (1882) veröffentlichte er eine Menge Zeitungsartikel, Briefe und Tagebuchblätter, die in ermüdender Breite von den damals in Tirol ausgefochtenen litterarischen Fehden [140] handelten; auch die wärmsten Verehrer Steub’s nahmen das Buch mit Kopfschütteln auf. Als ein jüngerer Gelehrter, Th. v. Grienberger, gegen Steub’s Deutung romanischer Ortsnamen den nicht unberechtigten Vorwurf erhob, daß auf die Entwicklung der urkundlichen Formen zu wenig Rücksicht genommen sei, und dabei den Ton wissenschaftlicher Ueberlegenheit anschlug, zog St. gegen den „gelehrten Jungen“ mit grausamem Spott zu Felde; der Aufsatz „Ein neuer Gelehrter oder des bescheidenen und hochweisen Herrn Th. v. Grienberger Ansichten und Meinungen“ (1886) überschritt das Maß des Erlaubten, und man konnte sich nicht verwundern, daß mit einem Pamphlet „Steubiana“ in gleichem Tone erwidert wurde. Freundliche Lichtblicke waren die Aufführungen des „Seefräulein“ am Münchner Hoftheater. St. selbst hatte den Stoff seiner gleichnamigen Novelle zu einem munteren Lustspiel verarbeitet, und Georg Kremplsetzer hatte dasselbe mit artigen Liedern ausgestattet; am 5. Mai 1868 ging das Stück zum ersten Mal über die Bretter, und auch die ziemlich häufigen Wiederholungen fanden unverminderten Beifall. „Dies ist mein Leben“, – so schloß St. 1883 seine autobiographischen Mittheilungen, – „ein trübseliges Tableau eines mehr als vierzigjährigen Ringens, das fast nur Nieten, nie einen schönen beneidenswerthen Erfolg eintrug und die Verleger noch mehr verstimmte. Gleichwohl erwecken mir meine Schriften, wenn ich sie hin und wieder durch die Hand gehen lasse, nur freundliche Erinnerungen, denn ich habe sie, abgesehen von dem allerersten Versuche, alle aus ganzem Herzen, mit voller Kraft, in der angenehmsten Aufregung zu Stande gebracht.“ Diese Ursprünglichkeit des Schaffens verleiht denn auch den meisten Schöpfungen Steub’s eigenartigen Reiz und sichert ihnen dauernden Werth. St. erfreute sich ungestörter körperlicher und geistiger Rüstigkeit bis zu seiner zweiten Reise nach Griechenland; von dorther kam er merkwürdig gealtert zurück, und er konnte sich nicht mehr völlig erholen, nur der feurige Blick – er hatte die oculi truces des Tacitus! – blieb ungebrochen bis ans Ende. Ohne Todeskampf verschied er am 16. März 1888.
Steub: Ludwig St., Ethnograph und Reiseschriftsteller, ist geboren am 20. Februar 1812, wie er launig in seiner Autobiographie berichtet, „zu Aichach in Oberbaiern, einem freundlichen Städtchen in der Nähe des Stammschlosses Wittelsbach, mit vielen Brauereien und wenigstens Einer Schule“. Manche Erinnerungen aus der Jugendzeit sind ins erste Capitel des Romans „Deutsche Träume“ verwoben. Als der Vater, der in Aichach die Stelle eines Stiftungsadministrators bekleidet hatte, 1822 zur Finanzkammer in Augsburg versetzt wurde, kam der zehnjährige Knabe in die Schule im St. Annenkloster; 1823 zog die Familie nach München, und der Knabe trat in das „alte Gymnasium“, wo er u. a.- „Mein Leben“, in Nord u. Süd, Sept. 1883, S. 295. – F. Dahn, Ueber Ludwig Steub, im nämlichen Hefte, S. 326. – Der schriftliche Nachlaß Steub’s wurde von der Familie an die Bibliothek des k. k. Ferdinandeums in Innsbruck überlassen; derselbe enthält u. a. die gesammte Correspondenz mit Freunden und litterarischen Genossen, sowol die an ihn gerichteten Originalbriefe, als Concepte oder Abschriften seiner eigenen Briefe: eine reiche Fundgrube für Kenntniß des geistigen Lebens in Baiern und Tirol.