Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Steiger, Jakob Robert“ von Gerold Meyer von Knonau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 580–582, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Steiger,_Jakob_Robert&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 05:36 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Steiger, Crescentius
Nächster>>>
Steiger, Isaac
Band 35 (1893), S. 580–582 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Jakob Robert Steiger in der Wikipedia
Jakob Robert Steiger in Wikidata
GND-Nummer 118570617
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|35|580|582|Steiger, Jakob Robert|Gerold Meyer von Knonau|ADB:Steiger, Jakob Robert}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118570617}}    

Steiger: Jakob Robert St., geboren am 7. Juni 1801 zu Büron, Kanton Luzern, † am 5. April 1862 zu Luzern, Arzt und Politiker. Auf dem kleinen Heimwesen der armen Eltern, im Dörfchen Geuensee bei Büron, aufgewachsen und nach der Dorfschule auf der Lateinschule in Sursee vorgebildet, vollendete S. seine Vorbereitung zur Universität in Luzern, wo er schon als Mitglied des studentischen Zofingervereins seinen patriotischen Idealen nachzuleben suchte. Von Genf siedelte er mit den knappsten Mitteln nach Freiburg im Breisgau, hernach nach Paris über, wo er seine medicinischen Studien abschloß. Als mit großer Auszeichnung geprüfter Arzt ließ er sich in Büron nieder; dagegen zerschlug sich wegen der ausgeprägt liberalen Gesinnung des zwar von dem Protector Eduard Pfyffer (s. A. D. B. XXV, 722–724) warm empfohlenen Candidaten die Hoffnung auf Anstellung als Professor der Philosophie in Luzern. Nach der Julirevolution dagegen betheiligte sich nunmehr St. als Mitglied des Verfassungsrathes auf das eifrigste an der Neugestaltung des Kantons, und er wurde als eines der sieben neu bestellten Mitglieder des Regierungsrathes, unter fünfzehn, 1831 erwählt; bis 1838 blieb St. Mitglied [581] der Behörde, trat dann aber zurück, um sich wieder der ärztlichen Praxis zu widmen, welche er jetzt mit bedeutendem Erfolge in Luzern, als seinem Wohnsitze, betrieb. In wichtigen Fragen hatte St. auch als Vertreter seines Kantons an der Tagsatzung bei eidgenössischen Dingen, wegen der Bundesrevision, der Flüchtlingsangelegenheiten u. a. m. mitgehandelt. Durch den Umschwung von 1841 wurde St. in die Reihe der Oppositionellen gerückt, und er erhob sich nun gewissermaßen zum Widerpart des gleichfalls der Landschaft entstammenden Bauernvorfechters der confessionell ausgeprägten Demokratie, des Bauern Joseph Leu (s. A. D. B. XVIII, 469–472). Als nach dem Mißlingen des gegen die Berufung der Jesuiten ins Werk gesetzten Veto-Sturmes die Waffenergreifung vom 8. December 1844 durch die Regierung niedergeworfen worden war, befand sich St., obschon er nicht zu den Bewaffneten gezählt hatte, unter den ohne weitere Förmlichkeit Verhafteten. Nach einer Haft von sechs Wochen, gegen Erlegung einer ansehnlichen Caution freigelassen, verließ er den Kanton Luzern.

Seit dieser Zeit war St. vollends das geistige Haupt der regierungsfeindlichen Partei, und der Gedanke, mit größeren Anstrengungen als das erste Mal durch die Kraft der Flüchtlinge und der mit ihnen gesinnungsverwandten Angehörigen der angrenzenden Kantone in einem Freischaarenzuge das in Luzern herrschende System zu stürzen, gewann bis in das Frühjahr 1845 völlige Reife. St. war eines der einflußreichsten Mitglieder des die Vorbereitungen treffenden Flüchtlings-Comités. So kam es zu dem abermals den Landfrieden brechenden Einmarsch über die Luzerner Grenzen am 31. März, der bis zum 1. April gänzlich scheiterte. Unter den Tausenden eingebrachter Gefangener befand sich auch St., der auf der Flucht an der Nordgrenze gegen den Kanton Aargau ergriffen worden war. In dem gesundheitswidrigen Gefängniß des Kesselthurmes, eines festen Stückes der Ringmauer, wurde St. untergebracht. Vor Gericht vertheidigte er sich selbst, wurde aber von Kasimir Pfyffer (s. A. D. B. XXV, 717–721) unterstützt. Er gab seine Theilnahme am Landfriedensbruche zu, stellte aber in Abrede, Führer gewesen zu sein und ein Commando bekleidet zu haben; die Ergreifung der Waffen erklärte er als Nothwehr dagegen, daß die herrschende Partei die Verfassung gebrochen habe. Criminalgericht und Obergericht sprachen das Urtheil auf Tod durch Pulver und Blei aus. St. seinerseits wandte sich mit einem Begnadigungsgesuch, das in sehr zahlreichen Bittschriften mit Tausenden von Unterschriften, sowie in eigenen Eingaben, auch von Seiten zweier schweizerischer Bischöfe, Zustimmung fand, an den Großen Rath, mit dem Anerbieten, die Eidgenossenschaft oder, falls es gefordert werden sollte, den europäischen Continent zu verlassen. Einzelne besonnene Stimmen, welche betonten, daß nach diesem Anerbieten St. das Ehrenwort abgenommen und er an der Kantonsgrenze freigelassen werde, fanden bei den maßgebenden Persönlichkeiten kein Gehör. Wohl aber übertrug der Große Rath am 19. Mai auf Siegwart-Müller’s (s. A. D. B. XXXIV, 209) Antrag dem Regierungsrathe die Aufgabe, zu untersuchen, ob und wie St. ohne Vollziehung des Todesurtheils für den Kanton unschädlich gemacht werden könne. Unterhandlungen wurden mit auswärtigen Staaten hierüber angeknüpft, und Sardinien erklärte sich bereit, St. auf Ehrenwort in eine Stadt zu interniren. Aber in der Nacht vom 19. zum 20. Juni, die durch ihr gewitterhaftes Dunkel sich dafür eignete, entfloh St. aus dem Kerker nach Zürich. Ein auf Betrieb eines radical gesinnten Caféwirths in Zürich entstandenes geheimes Rettungscomité hatte die drei Landjäger gewonnen, welche unter großen Schwierigkeiten die Befreiung des sorgfältig bewachten Gefangenen herbeiführten. Steiger’s Schicksal, in Bild und Schrift, im Liede vielfach gefeiert, war ein Gegenstand, der weit über die Grenzen der Schweiz hinaus die Aufmerksamkeit in leidenschaftliche Spannung versetzt hatte. [582] Die Wendung galt als ein Sieg der radicalen Sache überhaupt. Daß St. selbst an der genau einen Monat nach seiner Flucht, in der Nacht vom 19. zum 20. Juli, durchgeführten Ermordung Leu’s so wenig als ein anderer der Parteiführer der unterlegenen Opposition, einen irgendwie unmittelbaren Antheil hatte, wurde in unbefangenen Kreisen auch der Gegnerschaft bald anerkannt. Dagegen war es unedel, wie er dadurch an Leu für dessen anfänglich sehr schonungslose Aeußerungen, zunächst nach der Niederlage vom 1. April, jetzt nachträglich sich rächte, daß er ganz wesentlich an der geflissentlichen Verbreitung der durchsichtigen Fabel vom Selbstmorde des Getödteten sich betheiligte.

In Winterthur wählte St. seinen Aufenthalt; eine zürcherische und eine bernerische Gemeinde schenkten dem heimathlosen Flüchtling ihr Bürgerrecht. Nach dem Fall Luzerns im Sonderbundskriege kehrte der Verbannte, der als Arzt ein zürcherisches Bataillon begleitet hatte, zurück und zeigte sich zuerst am 27. November 1847 in einer tumultuarischen Volksversammlung am Theaterplatze den ihn jubelnd begrüßenden Parteigenossen; als Wortführer forderte er sogleich Ausweisung der Jesuiten und eine allgemeine Amnestie der politischen Vergehen. Bei der Constitution des am 11. December neu gewählten Großen Rathes wurde St. zum Präsident ernannt; in dem neu bestellten, einstweilen provisorischen Regierungsrathe trat er gleichfalls, als Schultheiß, an die Spitze. Ganz besonders auf seine Anregung hin erfolgte 1848 zum Behufe der Deckung der Kriegskosten die Aufhebung der Klöster St. Urban und Rathhausen. Dann betheiligte er sich auch als Gesandter an die Tagsatzung an der Berathung der neuen Bundesverfassung, und 1848 wurde er bei dem Zusammentritt der ersten Bundesversammlung, nach der Wahl des Bundesrathes, Präsident des Nationalrathes. 1849 stieg er ein erstes Mal auf den Stuhl des Luzerner Schultheißen in definitiver Besetzung. Allein später wandte er sich wieder, unter Niederlegung der staatlichen Aemter, dem ärztlichen Berufe zu, wenn er auch als Publicist in Zeitungsartikeln und Broschüren politisch zu kämpfen fortfuhr. Als vieljähriger Redacteur des „Eidgenossen“, des ersten im Kanton Luzern begründeten Blattes seiner Partei, blickte er auf eine lange Bahn publicistischer Polemik zurück. Ein hervorragender politischer Gegner Steiger’s, Segesser (s. A. D. B. XXXVIII, 595), legte über ihn das persönliche Urtheil ab: „Ein heller, vielseitig gebildeter Kopf und tüchtiger Arbeiter, hatte er in seinem Wesen etwas Ungestümes; er haßte gründlich und machte kein Hehl daraus. Zwar liebte er es, zuweilen den Gemüthlichen, Versöhnlichen, Gemäßigten zu spielen, aber in einer Weise, daß die Schalkheit offen zu Tage trat, die einen charakteristischen Zug seines Charakters ausmachte. Nicht immer berechnete er die Folgen: ich bin überzeugt, daß er nicht immer den Schaden anrichten wollte, den er anrichtete“. Ein Nekrolog führte das Wort eines zum Sonderbunde stehenden Urschweizers über St. an: „Er ist en radikale Ma, aber sust en brave Ma“.

Die Bedeutung Steiger’s als Mediciner, besonders aber auch als Botaniker – 1860 erschien seine „Flora des Kantons Luzern, der Rigi und des Pilatus“ – hebt ein Aufsatz von Meyer in den Verhandlungen der schweizerischen naturforschenden Gesellschaft bei ihrer Versammlung zu Luzern 1862 (deren designirter Präsident St. gewesen war) hervor, S. 250–256.

Wegen der Litteratur für Steiger’s politische Thätigkeit in der Höhezeit seiner öffentlichen Bedeutung vgl. A. D. B. XXI, 561, XXXIV, 212.