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Artikel „Sohncke, Leonhard“ von Siegmund Günther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 377–379, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sohncke,_Leonhard&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 06:13 Uhr UTC)
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Sohncke: Leonhard S., Physiker, geb. am 7. April 1842, † am 1. November 1897. Sein Vater (s. A. D. B. XXXIV, 546) war Professor der Mathematik an der Universität Halle a. S. und ein sehr fleißiger Schriftsteller; am bekanntesten hat ihn wohl seine deutsche Bearbeitung der „Geschichte der Geometrie“ von Chasles gemacht. Auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt herangebildet, studirte der Sohn von 1862 an hier und in Königsberg i. Pr. die mathematischen Wissenschaften, und zwar hatte er, da ihm der Vater schon während der Gymnasialzeit (1853) gestorben war, keine leichte Jugend, und seine Energie hatte, ehe er an seinem Ziele ankam, manche Hindernisse zu überwinden. Die Einwirkung Franz Neumann’s war für ihn, wie für so viele seiner Zeitgenossen, entscheidend, so daß er, nachdem er sich 1866 den Doctortitel erworben und bald nachher an seinem Studienorte eine Anstellung als Gymnasiallehrer gefunden hatte, sofort die ihn kennzeichnende Richtung seines ganzen Lebens einschlug. Seine Neigungen gehörten von nun an wesentlich der theoretischen Physik und der eng mit dieser zusammenhängenden Molekularphysik, ohne daß deswegen aber das Experiment bei seinen Arbeiten zu kurz gekommen wäre.

Das Leben Sohncke’s verlief äußerlich in den ruhigen Bahnen des deutschen Hochschulprofessors. Denn nicht sehr lange gehörte er seiner zweiten Heimath an, deren Universität ihn auch gleich 1866 als Privatdocenten aufgenommen [378] hatte, und wo er auch mit einer Cousine einen Bund für das Leben schloß. Seine Ehe war höchst glücklich und mit zwei Töchtern gesegnet. Schon 1871 wurde der berühmte G. A. Kirchhoff auf S. aufmerksam und vermittelte ihm die Berufung an die technische Hochschule in Karlsruhe, an der er von 1871 bis 1883 wirkte, um hierauf als Professor der Physik nach Jena überzusiedeln. Von hier aus endlich ging er 1886 in gleicher Eigenschaft an die Münchener technische Hochschule über, die ihn genau ein Jahrzehnt – am Todestage hätte er sein einundzwanzigstes Lehrsemester hier beginnen sollen – den ihrigen nennen durfte. Er war Lehrer von ganzem Herzen und widmete der Anstalt, in deren Dienst er stand, seine ganze Kraft selbst über die dem physischen Können gezogenen Grenzen hinaus. So war er denn auch als College wegen seiner Leistung und ebensosehr seines Charakters wegen sehr geschätzt, und eine Reihe tüchtiger junger Physiker ist aus seiner Münchener Schule hervorgegangen. Entschiedener Gegner des Gymnasialmonopols, brachte er im Vereine mit wenigen Gleichgesinnten in München die Bewegung zu Gunsten der Gleichberechtigung der Realschulbildung in Fluß, und wenn auch auf dem zuerst so spröden Boden Baierns namhafte Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht worden sind, so darf Sohncke’s Verdienst daran nicht gering eingeschätzt werden. Allen Bestrebungen, die auf Befreiung von veraltetem Zwange abzielten, widmete er Theilnahme und Unterstützung.

Die wissenschaftliche Lebensarbeit des rastlos thätigen Mannes ist durch unsere obigen Bemerkungen bereits einigermaßen charakterisirt. In seiner Anfangsperiode beschäftigte er sich noch, durch Bildungsgang und Schulerfahrung angeregt, wiederholt mit reiner Mathematik; seine Inauguraldissertation hatte es mit Problemen der Reihenlehre, und einige von ihm in „Grunert’s Archiv der Mathematik und Physik“ veröffentlichte Aufsätze hatten es mit der Inhaltsbestimmung von Körpern zu thun. Ein starker mathematischer Einschlag läßt sich, wie es ja leicht begreiflich ist, nirgendwo in seiner litterarischen Production vermissen. Vor allem aber kam ihm diese seine Vorbildung zu statten, als er in Karlsruhe an seine erste größere Schrift („Die Entwicklung einer Theorie der Krystallstruktur“, Karlsruhe 1876) herantrat. Schon als Knabe und Jüngling hatte er sich zur Mineralogie hingezogen gefühlt, und der Umgang mit Neumann konnte auf diese Neigung nur fördernd einwirken. Nunmehr stellte er sich die Aufgabe, aus einer regelmäßig angeordneten, dreidimensionalen Punktmenge alle überhaupt möglichen regelmäßigen Punktsysteme auszusondern. Durch Bravais und den Marburger Mineralogen Hessel, dessen Verdienste ohne Sohncke’s von historischer Gerechtigkeit Zeugniß ablegendes Eingreifen ganz in Vergessenheit gerathen wären, waren werthvolle Vorarbeiten geliefert worden, allein das Fundamentalproblem der Krystallographie endgültig zu lösen, war S. vorbehalten, der mit glücklicher Ueberschau des ganzen Arbeitsfeldes erkannt hatte, daß Camille Jordan’s 1869 formulirte Forderung, alle nur denkbaren unabhängigen Bewegungsgruppen aufzustellen, völlig auf das Nämliche hinauslief. So konnte eine kinematisch-analytische Auflösung gegeben werden, die an die Anschauung nicht so ungeheuer hohe Anforderungen stellte, wie es bei rein räumlicher Behandlung der Fall gewesen wäre. S. kam aber gerade auch dem Anschauungsvermögen durch einen sehr zweckmäßig ausgedachten Apparat zu Hülfe, der die einzelnen Möglichkeiten sinnenfällig darzustellen gestattete. In München, wo er zu dem Mineralogen Groth in besonders nahen Beziehungen stand, setzte er diese Studien unausgesetzt fort und dehnte sie auf die Krystallphysik überhaupt aus. Die Reusch’sche „Glimmerplattensäule“ wußte er in gleichem Sinne optisch zu verwerthen. Fernerstehenden eröffnete seine populäre Darstellung „Aus der [379] Molekularwelt“ einen Blick in die Gedankenkreise, welche die Betrachtung der einen Krystall zusammensetzenden „Bausteine“ hatte erstehen lassen.

Mit Optik und Elektricitätslehre beschäftigte er sich wiederholt. Zu ersterer war er namentlich in Jena, wo er mit dem berühmten Abbe vertraute Freundschaft schloß, in ein engeres Verhältniß zu treten veranlaßt worden. Seine Untersuchungen über Gittersysteme im Silberniederschlag und über Polarisation der Fluoreszenz zeichnen sich durch große Feinheit aus. Durch eine optische Methode bestimmte er die Dicke der Schicht, zu welcher ein sich auf Wasser ausbreitender Oeltropfen nach und nach wird. Auch für die Richtigkeit des in der Astronomie eine Rolle spielenden Doppler’schen Princips trat er in einer besonderen Abhandlung ein. Seine Stellung zur Elekricitätstheorie giebt die schöne Rede („Die Umwälzung unserer Anschauungen vom Wesen der Elektricität“) zu erkennen, welche er 1890 bei der Eröffnungsfeier der technischen Hochschule hielt.

Als S. den Ruf nach Karlsruhe annahm, wurde ihm auch die Einrichtung und Leitung des Netzes der badischen meteorologischen Stationen und nachmals der Prognosendienst übertragen. Seine Befriedigung hierüber war nur eine sehr bedingte, denn er erachtete mit Recht die Unterlagen für eine gute Wetterprognose noch nicht als genügend fest. Immerhin brachte ihn diese Pflicht in Berührung mit der Meteorologie, für die er gleichfalls hervorragend thätig gewesen ist. Außer einer gemeinverständlichen Schrift („Ueber Stürme und Sturmwarnungen“, Hamburg 1877) sind zu nennen seine Arbeiten über die Temperaturänderungen im feuchten aufsteigenden Luftstrome, über eine neue Ableitung der barometrischen Höhenformel, über den „grünen“ Strahl bei Sonnenuntergängen. Dem Münchener Verein für Luftschifffahrt stand er mehrere Jahre vor und organisirte verschiedene Aufstiege, deren Ergebnisse er, zusammen mit Professor Finsterwalder, für die Forschung bearbeitete. Der dankbare Verein hat einem seiner Ballone den Namen „Sohncke“ beigelegt. Vor allem jedoch dankt ihm die atmosphärische Physik die in einer besonderen Monographie (Jena 1885) niedergelegte Theorie der Gewitterelektricität, welche noch jetzt trotz scharfer Konkurrenz unter den Meteorologen sich hoher Anerkennung erfreut.

An gebildete Leser wenden sich Sohncke’s „Gemeinverständliche Vorträge aus der Physik“ (Jena 1892), in denen er sich als Meister der Kunst bethätigt, auch schwierige Dinge klar und einleuchtend abzuhandeln. Insonderheit sei aufmerksam gemacht auf die Schilderung der ostpreußischen Dünenwelt und auf die geistvolle Erörterung der Frage („Was dann“?), ob und wie die Naturlehre nach Aufzehrung aller irdischen Kohlenschätze einen Ersatz zu schaffen im Stande sei. Das in Aussicht genommene Werk über meteorologische Optik fertigzustellen, war dem schon schwer Erkrankten versagt.

Es versteht sich von selbst, daß einem solchen Manne auch äußere Ehren reichlich zu Theil wurden. Der bayerischen Akademie gehörte er schon seit 1887 an. Im J. 1892 wurde er von der technischen Hochschule als Delegirter zur Galilei-Feier der Universität Padua entsandt und von dieser zum Ehrendoctor ernannt.

Münchener Neueste Nachrichten vom 6. November 1897 (Nekrolog von Finsterwalder). – Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 4. December 1897 (Nekrolog von Günther). – Meteorologische Zeitschrift, 15. Jahrg., S. 81 ff. (Nekrolog von Erk).