Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Seidel, Philipp Ludwig“ von Siegmund Günther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 304–306, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Seidel,_Philipp_Ludwig&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 18:01 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Seidel, Bruno
Band 54 (1908), S. 304–306 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Philipp Ludwig von Seidel in der Wikipedia
Philipp Ludwig von Seidel in Wikidata
GND-Nummer 117463655
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|54|304|306|Seidel, Philipp Ludwig|Siegmund Günther|ADB:Seidel, Philipp Ludwig}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=117463655}}    

Seidel: Philipp Ludwig S., Mathematiker und Astronom, geboren am 24. October 1821 zu Zweibrücken, † am 13. August 1896 zu München. Sohn eines bairischen Beamten, besuchte S. die Schulen der verschiedenen Städte, in welche sein Vater nach und nach versetzt wurde, und erwarb schließlich am Gymnasium in Hof das Reifezeugniß. Dieser Umstand war bedeutungsvoll für seine Zukunft, denn während es in jener Zeit um den exaktwissenschaftlichen Unterricht in Baiern noch vielfach nicht besonders bestellt war, besaß die erwähnte Anstalt in dem Professor Schnuerlein, einem Schüler von Gauß, eine Lehrkraft ersten Ranges, und S. hat wiederholt mit Anerkennung davon gesprochen, daß er der öffentlichen und privaten Unterweisung jenes Mannes sehr viel zu danken gehabt habe. Drei Semester weilte der junge Mann in Berlin, wo er zumal unter Encke die schwierigsten Probleme der astronomischen Rechnung kennen lernte; 1842 begab er sich nach Königsberg i. Pr., um die damals in höchster Blüthe stehende mathematisch-physikalische Schule dieser Universität – Bessel, Jacobi, Fr. Neumann – auf sich wirken zu lassen, und von 1843–1844 verbrachte er sein letztes Studienjahr in München, wo er u. a. auch eine Preisfrage erfolgreich löste. Von hohem Interesse sind insbesondere seine durch Prof. Lindemann an die Oeffentlichkeit gebrachten Briefe aus der Königsberger Periode, welche uns einen trefflichen Einblick in die Eigenart des dortigen Wissenschafts- und Lehrbetriebes gewähren. Weit weniger war in München zu holen, aber Bessel’s glänzende Empfehlung hatte den Studierenden bei dem berühmten dort lebenden Akademiker Steinheil eingeführt, der sich freute, einen so viel versprechenden Jüngling an seinen astronomischen und physikalischen Arbeiten Theil nehmen lassen zu können. Unter dieser Leitung wurde S. der ausgezeichnete [305] Kenner der theoretischen und praktischen Optik, als welchen ihn die Gelehrtenwelt sehr bald schätzen lernte.

Im J. 1846 promovirte er auf Grund einer Dissertation „Ueber die beste Form der Spiegel von Teleskopen“, während die sogenannte Quaestio inauguralis sich mit dem Wesen photometrischer Messungen beschäftigte. Noch im gleichen Jahre erfolgte die Habilitation, die sich auf eine Schrift analytischen Charakters stützte („Ueber die Konvergenz und Divergenz der Kettenbrüche“). Die akademische Wirksamkeit des jungen Dozenten zog, so wenig vorgebildet auch die große Mehrzahl der Hörer war, doch bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich; 1851 wurde er außerordentlicher, 1855 ordentlicher Professor. Leider trat seiner Lehrthätigkeit schon früh ein schlimmes Augenleiden in den Weg, welches ihm namentlich den Gebrauch der Tafel sehr erschwerte und ihn nöthigte, von 1870 an seine Vorlesungen mehr und mehr einzuschränken. Während seines letzten Jahrzehnts war es in vollständige Blindheit übergegangen. Gepflegt von einer treuen Schwester und, nach deren Tode, von einer früheren Bekannten seines Hauses, lebte S., der niemals eine Familie zu gründen sich entschließen konnte, in fast vollständiger Zurückgezogenheit. Alle Ehren, die einem Mann der Wissenschaft zugänglich sind, waren ihm zu Theil geworden, und der bairischen Akademie, innerhalb deren er eine einflußreiche Stellung inne hatte, gehörte er mehr denn vier Decennien an. Seit 1867 war er Mitglied der Commission für die europäische Gradmessung. Daß S. nicht eine Schule zu bilden veranlagt war, geht schon aus dem Gesagten zur Genüge hervor. Aber auch wenn seine Gesundheit eine dauerhaftere gewesen wäre, würde S. kein Schulhaupt geworden sein, denn eine so ausgeprägte Individualität vermochte ihrem ganzen Wesen nach nur auf Einzelne, nicht aber auf weite Kreise zu wirken. So hat er auch nicht eigentlich neue Methoden geschaffen oder auszubilden gesucht, sondern es ging sein ganzes Streben dahin, Aufgaben, die ihn wegen ihrer Schwierigkeit fesselten, nach allen Seiten zu behandeln und vorhandenen Theorien neue Seiten abzugewinnen. So waren auch seine seminaristischen Uebungen in erster Linie dazu geeignet, angehende Mathematiker zur Selbstarbeit anzuregen und sie mit dem Sinne für Strenge und Eleganz zu erfüllen. Unter seinen gelehrten Leistungen sind gar viele, die scheinbar ein weit abseits von der Heerstraße liegendes Thema zum Gegenstande haben und trotzdem die Wissenschaft in der entschiedensten Weise befruchteten. Man kann die litterarischen Arbeiten in vier Gruppen theilen, je nachdem sie sich auf Lichtmessung, auf Dioptrik, auf Wahrscheinlichkeitsrechnung und auf – algebraische wie höhere – Analysis beziehen.

Mit Hülfe des von Steinheil erfundenen Sternphotometers hat S. eine ausgedehnte, durch höchste Exaktheit ausgezeichnete Reihe von Messungen himmlischer Objecte ausgeführt und dabei auch die theoretischen Grundlagen der Photometrie kritischer Würdigung unterzogen. Vor allem prüfte er die Abschwächung, welche das Licht der Gestirne beim Durchgange durch die irdische Lufthülle erleidet. Seine 1852 und 1859 in den „Abhandlungen“ der Münchener Akademie veröffentlichten Ergebnisse haben bleibenden Werth, allein leider hatten diese feinen Beobachtungen das Sehorgan des Beobachters unheilvoll beeinflußt und sind als eine Hauptursache des späteren Leidens anzusehen.

Die Beziehungen zu Steinheil waren die Ursache, daß sich S. daran machte, die Formeln für den Weg eines Lichtstrahles beim Passiren eines Systemes von Glaslinsen in ihrer vollsten Allgemeinheit zu entwickeln. [306] Vor allem sind hier Aufsätze in den „Astronomischen Nachrichten“, sowie in den „Sitzungsberichten“ und „Abhandlungen“ der heimischen Akademie namhaft zu machen. In dieser letzteren gab er auch (1857) die in solcher Vollendung noch nicht gelieferte Theorie der Brennlinien und Brennflächen. Mit als einer der ersten unterwarf er ferner (Sitzungsber., 1867) das photographische Objectiv seinem durchdringenden Kalkul.

Eine äußere Veranlassung, sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematischer Statistik eingehender zu beschäftigen, brachte für S. das berühmt gewordene Unternehmen seines Freundes und Collegen Pettenkofer, die als Seuchenherd verschriene bairische Hauptstadt zu einer gesunden Stadt zu machen. Eine umfassende Bearbeitung gewaltigen Zahlenmateriales verhalf zu der mathematisch unanfechtbaren Erkenntniß, daß in der That die Schwankungen des Grundwasserstandes mit dem epidemischen Auftreten von Typhus und Cholera ursächlich zusammenhängen. Die einschlägige, in der „Zeitschrift für Biologie“ (1869) abgedruckte Studie mußte das größte Aufsehen erregen. Seit 1868 mit einem Lehrauftrage für Methode der kleinsten Quadrate an der technischen Hochschule betraut, studirte S. auch dieses Verfahren mit gewohnter Gründlichkeit und zeigte, wie man ein überbestimmtes Gleichungssystem verhältnißmäßig bequem auflösen kann (Abhandlungen, 1874). Hierher ist wegen der Untersuchungen über die Fehler auch die „Theorie der Waage“ (Abhandlungen, 1867) zu rechnen.

Den sehr zahlreichen analytischen Errungenschaften Seidel’s gerecht zu werden, ist an diesem Orte nicht möglich. Hervorgehoben sei nur, daß alle jene neueren Bemühungen, die Gültigkeit einer Entwicklung in unendliche Gebilde – Reihen, Producte, Kettenbrüche – zu ermitteln, in ihm einen Vorläufer haben. Seine Convergenzbestimmung bei continuirlichen Brüchen, ziemlich gleichzeitig auch von M. Stern gefunden, hat Bürgerrecht in der höheren Algebra erlangt. Und eine kleine Schrift seiner Jugendzeit („Ueber neue Eigenschaften der Reihe, welche discontinuirliche Functionen darstellen“, München 1848) hat dem nachmals zu fundamentaler Bedeutung gelangten Begriffe der „bedingten Convergenz“ die Bahn gebrochen. Man darf mit Zuversicht annehmen, daß genaueres Studium dieser feinsinnigen Geisteserzeugnisse in ihnen noch gar manchen Keim aufdecken wird, aus dem sich folgenreiche Neuerungen herleiten lassen.

F. Lindemann, Gedächtnißrede auf Ph. L. v. Seidel, gehalten in der öffentl. Sitzung der kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften am 27. März 1897, München 1897. – A. v. Braunmühl, Ph. L. v. Seidel, Biograph. Jahrbuch, 1897, S. 415 ff.