ADB:Schnabel, Johann Gottfried

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Artikel „Schnabel, Johann Gottfried“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 32 (1891), S. 76–79, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schnabel,_Johann_Gottfried&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 00:19 Uhr UTC)
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Schnabel: Johann Gottfried S., pseudonym Gisander, Schriftsteller, geboren in Sachsen um 1690[1], erwarb sich, wir wissen nicht wie und wo, zum Theil sicherlich in Leipzig, eine reiche Litteratenbildung und Weltkenntniß, gelangte in den Kreis des Prinzen Eugen, nahm (als Chronist?) 1708–1712 an den Brabanter Feldzügen theil und errichtete auf Grund von Tagebüchern und ungeschriebenen Erinnerungen seinem Helden 1736 ein überschwängliches biographisches Denkmal. Er heirathete spätestens 1720; ein Sohn machte 1737 blutjung den türkischen Krieg mit und sandte Berichte an den Vater, der 1731 in Stolberg festen Fuß als Journalist gefaßt hatte und bis 1738 die „Stolbergische Sammlung Neuer und Merckwürdiger Welt-Geschichte“ herausgab, im Auftrag des regierenden Grafenhauses, aber ohne klingende Unterstützung. Er hob das Blatt, so daß es bald zweimal wöchentlich erscheinen konnte, und schlug sich mit den Seinen, „zuweilen etwas kümmerlich“, durch. Unter die politischen Neuigkeiten mengte er gereimte Sinngedichte auf Berühmtheiten der Tagespolitik, den „Gideon“ Prinz Eugen nicht zu vergessen. 1734 veröffentlichte er als Beilage zur Darstellung der polnischen Händel ein „Kleines [77] Gregoriusspiel“, das einigen Volksfiguren frische Worte leiht und Sachsens August über den verhöhnten „Stenzel“ und seine Franzosen erhebt. Der arme Officiosus, dessen Feder auch die Festlichkeiten des Duodezfürsten submiß verherrlichen mußte, strebte aus der bloßen kleinstädtischen Kannegießerei heraus. Neben der Staatengeschichte und den unerläßlichen vermischten Anekdoten verfolgte er u. a. die Schicksale der Salzburger Emigranten. 1737 wurde ihm, dem Redacteur, Büchercommissar und Lotteriecollecteur, der Titel eines gräflichen Hofagenten zutheil, aber schon im nächsten Jahre machte Regierungswechsel der „Sammlung“ den Garaus und die neue Erlaucht überging bei der Austheilung von Trauerkleidern unter die Hofbeamten den vielgeprüften Litteraten, dessen Lebensende wie seine Frühzeit unserer Kenntniß entzogen ist. Er ließ sich vielleicht in Halberstadt nieder. Gestorben ist er nach 1750; 1812 spricht Jemand von ihm als persönlicher Bekannter und macht die ganz unsichere Angabe, S. sei erst Ende der siebziger Jahre in Stolberg verschieden. Hier kann von 1742 bis 1782 ein Johann Heinrich S. als Gelegenheitsreimer und Kirchner nachgewiesen werden.

S. nimmt den hervorragendsten Platz unter den älteren deutschen Nachahmern von Defoe’s Weltbuch, dem Robinson, ein. Sein Hauptwerk, die „Insel Felsenburg“, ist aber viel mehr als eine Robinsonade. Sie hat es weder mit Einem Manne zu thun, noch verliert sie sich in die Gattung der voyages imaginaires oder haftet an einzelnen Ländern, Provinzen, Berufen. Sie geht weder in halbgelehrter Ethnographie noch in platter Erotik und wirren Abenteuern auf. Sie steht über der Masse der bloßen Unterhaltungsschriften, von welcher die Vorrede zum sächsischen Robinson (4. Aufl. 1759) kurzweg und triftig erklärt: „Das Wort Robinson hat seit einiger Zeit bey uns Teutschen eben die Bedeutung angenommen, die sonsten das französische Wort Aventurier hat, welches einen Menschen anzeiget, der in der Welt allerhand außerordentlichen Glücks- und Unglücksfällen unterworfen gewesen“. Aber alle angedeuteten Elemente sind doch in dem vierbändigen Werke vorhanden, das unter einem höchst weitschweifigen Titel „Wunderliche Fata einiger Seefahrer“ … – „par commission dem Drucke übergeben von Gisandern“ 1731–43 ans Licht trat und eines der beliebtesten Werke des Jahrhunderts wurde. Auch Goethe erwähnt als selbstverständlich, daß die Insel Felsenburg in seiner Knabenlectüre nicht fehlte. Sie fand grobe Nachahmungen, wie in einem Studentenroman von 1748 (vgl. meine „Komödien vom Studentenleben“ 1885, S. 35). 1788 f. druckte C. K. André eine „sittlich unterhaltende“ Bearbeitung, 1823 gab K. Lappe seiner kurzen Redaction den Nebentitel einer „Robinsonade“. Das schönste Stück verpflanzte Arnim 1809 in seinen „Wintergarten“, das Ganze modernisirte leichthin Tieck 1828, und Oehlenschläger verwerthete es freier in seinen „Inseln der Südsee“ 1826. Die begeisterten Urtheile, z. B. Hettner’s, sind aber zu sehr von den ersten Partien bestochen, wie auch Heinrich Voß 1808 allzu enthusiastisch an Lotte Schiller schreibt: er habe die ehrliche Insel Felsenburg wieder gelesen; „welch eine Gemüthlichkeit, Wahrheit und Treuherzigkeit in diesem Buche. Der Verfasser ist ein echt romantisches Genie gewesen, kein astromantisches (wie Z. Werner). Die Idee, ein gebildetes Völkchen in paradiesischer Unschuld darzustellen ist lieblich und ungemein glücklich ausgeführt“ … Eine Kluft scheidet die frühere von der späteren Hälfte, und wiederum steht der erste hoch über dem zweiten Theil (1732), der dritte (1736) um einige Grade über dem letzten. Allerdings erfüllt wahrhafte idyllisch-patriarchalische Stimmung die Exposition und was zunächst darauf folgt: wie nach dem Schiffbruch und weiter nach dem Tode des teuflischen Buhlers Lemelie der biederherzige Sachse Albertus Julius allein mit der jungen schwangeren Wittwe Concordia auf der einsamen Insel [78] wohnt und keusche Liebe das verschlagene Menschenpaar erfaßt, bis Concordia das lösende Wort spricht, als sie die Klagen des herumstreifenden Mannes belauscht. Ein schlichtes Meisterstück ist ihre Hochzeit. Köstlich wird die Thierwelt anthropomorphisch aufgefaßt: der Affenwittwer, die heldenhafte Aeffin, der Affe mit dem durchteufelten Gemüth; woran H. Voß, der doch Grimm’s Märchen verachtete, seine helle Freude hatte. Wie das Alterthum sich eine Atlantis, wie Morus eine Utopia ersann, so sprach Andreä von einem Christeneiland, und 1732 schilderte Prevost im ersten Theile des „Cleveland“ die idyllische Inselrepublik flüchtiger Hugenotten. S. aber kannte auch die Geschichten spanischer Conquistadoren, aus denen noch Heine die Verklärung dieser sentimentalisch sehnenden Inselpoesie, sein tiefergreifendes „Bimini“, schöpfte. Schnabel’s Insel ist ein schönes Paradies, wo eine neue Menschheit nun heranwächst. Von einem reinen Paar geht ein reines Geschlecht aus, fern von Europa im Weltmeer, ohne verderblichen Luxus, denn dies „Kanaan“ stillt das Bedürfniß der Colonisten, ohne träge Erschlaffung, denn Albert Julius hält pädagogisch auf Thätigkeit. Ein Staat mit patriarchalisch-absoluter, dann christlich-parlamentarischer Verfassung ist hier errichtet. Die kleine Colonie steigt durch Zuzug und Kindersegen auf 300 Köpfe. Hochbetagt stirbt 1715 die Altmutter, über 100 Jahre zählt bei seinem Abscheiden der Altvater. Zwei gerettete Bibeln legen den Grund zu einem neuen pietistischen Urchristenthum der Liebe und des guten Handelns, ohne dogmatische Belastung, während später die große Thätigkeit für Mission und Bibelvertheilung auf Hallenser Anregung hindeutet. Lessing mag, trotz aller Verachtung des Romans, seine Geschichte von der Inselgemeinde und ihrem lutherischen Katechismus aus S. gewonnen haben (Axiomata 1778).

Nachdem eine echte Robinsonade, die sammt vielen Schätzen bei den Gebeinen vorgefundene Autobiographie eines Spaniers – man denke an Salas-y-Gomez – den ersten Theil abgeschlossen hat, bietet der zweite ein wirres Conglomerat von Lebensgeschichten der Zuzügler, freilich mit der Tendenz eines größtmöglichen Gegensatzes zwischen dem verrotteten Europa und dieser Friedensinsel, aber doch in seiner realistischen und culturgeschichtlich bedeutsamen Musterung aller Stände mit einem bedenklichen Behagen an niedrigen Abenteuern und Buhlereien, so daß man von solchen Rekruten dem Christenstaat wenig Gewinn versprechen kann. Im dritten Theil finden wir breite Religionsverhandlungen und öde Phantastik, neue Einzelbilder und störende Episoden, wie die Geschichte einer marokkanischen Prinzeß Mirzamanda. Der vierte ist eine böse, „raptim“ beendete Sudelei, die, abgesehen von ihrer Abenteuerlichkeit und Frivolität, den früheren Zustand dadurch zerstört, daß die friedsamen Felsenburger, Männer und Amazonen, einen Krieg mit den Portugiesen ausfechten.

Die Sprache muthet, besonders im ersten Theil, oft durch ein ungeschminktes Naturell und altfränkische Traulichkeit an. Der Verfasser entschuldigt in der Vorrede zum Schlußband seinen Stilus, für dessen künstlerische Durchbildung er allerdings wenig gethan hat und in jener Zeit, bei so kargen Verhältnissen und so bedrängter Muße seiner Lohnschreiberei, wenig thun konnte. Dem Werke fehlt die Einheitlichkeit, die dem Urheber gebrach. Hat doch „Gisander, welcher die Felsenburgische Geschichte gesammlet hat“ 1750 einen Schmöker „Der aus dem Mond gefallene und nachhero zur Sonne des Glücks gestiegene Printz“ … zum Plaisir für Staats- und Kriegsverständige und andere curieuse Leser auf den Markt geworfen und schon vor dem letzten Theile der Insel Felsenburg anonym ein Schandbuch, wie damals viele herauskamen und hohen wie niedern Pöbel vergnügten, ausgehn lassen, den durch Immermann sprichwörtlich gewordenen Roman „Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Cavalier“ … 1738. Dieses, wie fast alle sogenannten „Erotica“, recht langweilige Werk häuft Abenteuer [79] auf Abenteuer, Brief auf Brief, um besonders die Buhlereien eines Herrn v. Elbenstein in Italien theils auszumalen, theils anzudeuten, denn in den verfänglichsten Situationen soll der Leser durch Abbrechen gekitzelt werden. Ein nüchterner Abschnitt behandelt die Merkwürdigkeiten Venedigs (S. 145 ff.). Der weitere Verlauf spielt sich in Deutschland ab und lehrt an Elbenstein und Sohn, daß Gott den Menschen sinken, doch nicht ertrinken lasse. Lasciven Novellen und galanten Gedichten sollen Bußlieder aus dem Stegreif entgegnen; im Titel hängt das beliebte Schild der Warnung vor dem Laster aus. Das Ganze ist ruschelig im Modestil hingeschrieben und gehört inhaltlich wie formal zu den Nachläufern des 17. Jahrhunderts, da doch der Verfasser alles Zeug gehabt hätte, nur auf neuer, eigener Bahn auszuschreiten. Es ist ihm schlecht gegangen. Im traurigen Litteratenthum, das früher Christian Reuter hinabzog, im Mangel an Luft und an künstlerischem Gewissen ist auch dieses reiche Talent verkommen.

H. Voß schrieb 1808: ein Mann, „der uns ein solches Nationalwerk geschrieben, wird nun unter die verschollenen Schriftsteller gezählt, oder ist vielmehr verschollen“. Auf eine Anfrage im Allgemeinen Anzeiger der Deutschen wurde 1812 „ein Kammersecretär Schnabel in Stolberg am Harz“ als Verfasser genannt und diese Notiz hier und da wiederholt, meist ignorirt; Weller verzeichnete „Gisander“ als Pseudonym für „Ludwig Schnabel“; die eigentliche Enthüllung ist A. Stern zu danken.

Hettner, Robinson und die Robinsonaden, 1854 (Litteraturgeschichte III, 323). – Adolf Stern, Historisches Taschenbuch, 5. Folge X, 317. – Strauch, Deutsche Rundschau, September 1888, S. 379 und Zeitschrift für Geschichte und Politik 1888, S. 537.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 76. Z. 15 v. u.: S. Kleemann, Blätter für Handel, Gewerbe und sociales Leben (Beiblatt zur Magdeburgischen Zeitung 1891 Nr. 46), weist nach, daß Schnabel als Sohn des Pfarrers Joh. Georg Schnabel am 7. November 1692 in Sandersdorf bei Bitterfeld geboren wurde und 1694 die Eltern verlor. Am 4. August 1724 schwor der „Hofbalbier“ den Bürgereid in Stolberg. Für seine Jugendgeschichte wird die „Insel Felsenburg“ II, 176 ff. ausgebeutet. 1725–1731 wurden ihm vier Kinder geboren. Er heißt auch „Gräfl. Kammerdiener“. Sein Todesort sei vielleicht Helmstedt. [Bd. 36, S. 791]