ADB:Schlözer, Christian von
August Ludwig Schlözer’s (s. o.) in Göttingen geboren. Ueber seinen Lebenslauf sind wir fast ganz auf die wenigen Notizen angewiesen, welche er in die Lebensbeschreibung seines Vaters verflochten hat; zu der Selbstbiographie, deren Abfassung nach einer eingestreuten Bemerkung gleichfalls in seiner Absicht lag, scheint er nach der dem Andenken des Vaters gewidmeten Arbeit nicht mehr gelangt zu sein. Hienach hat Chr. v. S. zunächst das Gymnasium in Eisleben und dann, im elterlichen Hause weilend, die Universität in Göttingen besucht. Die Studienrichtung auf der Universität war, der geistigen Atmosphäre Göttingen’s und dem Einfluß des Vaters entsprechend, die historisch-politische. Gatterer und Heyne werden unter den Docenten genannt; von Spittler heißt es ausdrücklich, daß dessen sämmtliche Vorlesungen besucht worden seien. Im J. 1795 lieferte Chr. v. S. die Preisschrift für die philosophische Facultät („Commentatio de jure suffragii in societate aequali“), im J. 1796 ward er zum Doctor der Rechte promovirt. (Die Dissertation handelte „de bonorum confiscatione“.) Wie [601] erfolgreich sich aber der Jüngling demnach auch in seines Vater Fußtapfen bewegte und wie sehr er auch mit Bewunderung zu diesem aufblickte, so war sein Verhältniß zu dem, wie alle Berichte bezeugen, gegen seine Kinder despotischen Vater doch ein sehr unerfreuliches. Wie Chr. v. S. behauptet, ließ ihm die unerträglich willkürliche und launenhafte Behandlung, welche er von Seiten seines Vaters erfuhr, schon in der Mitte seines 22. Lebensjahres keine andere Wahl, als die, auf alle fernere Unterstützung verzichtend, bloß auf eigene Kraft beschränkt, sich in der Fremde eine Stellung zu schaffen.
Schlözer: Christian v. S., Professor der politischen Wissenschaften in Moskau und Bonn, ward am 1. December 1774 als der älteste SohnEr lenkte seine Schritte in jenes Land, in welchem auch sein Vater seine öffentliche Laufbahn begonnen hatte, nämlich nach Rußland, und ward bei seinem Unternehmen, wie er sich selbst ausdrückt, durch das Glück auf eine ganz unerhörte Weise begünstigt. Nach fünf Jahren finden wir ihn schon als Professor an der Universität und dem adeligen Institut zu Moskau. Ueber seine Stellung daselbst und die mit dieser zusammenhängenden schriftstellerischen Bestrebungen klärt sein in der Biographie des Vaters abgedruckter Brief deutlich auf, welcher zugleich beweist, daß das Verhältniß zwischen Vater und Sohn trotz der äußeren Zerwürfnisse ein in der Gesinnung inniges geblieben war; es ist das Bild eines für seine Aufgabe begeisterten Lehrers und Forschers, welches uns in diesem Briefe entgegentritt. Ein Compendium über politische Wissenschaften („Primae lineae scientiarum politicarum“, Mosquae 1802), welches er wegen der Abweichungen von des Vaters System dessen nachsichtiger Beurtheilung empfahl, war das erste selbständige Werk. Daran schloß sich ein Tabellenwerk über die Geschichte Englands („Erläuterung der Geschichte der britischen Inseln durch Zeittafeln und historisch-geographische Karten“, 2 Bde. Riga 1805, 1807) und dann jenes Compendium der politischen Oekonomie („Anfangsgründe der Staatswirthschaft oder der Lehre von dem Nazionalreichthume“, 2 Bde. Riga 1805, 1807), welches noch Rau als das beste Lehrbuch des Faches bezeichnet hat. Von da an hat Chr. v. S. durch das volle akademische Vierteljahrhundert russischer Professoren in angesehener Weise in Rußland gewirkt; er wurde durch Orden und Titel (Hofrath und Staatsrath) und in anderer Weise mehrfach ausgezeichnet.
Im J. 1805 machte er die erste Reise nach Deutschland und verweilte zum Besuche seiner Eltern in Göttingen; im J. 1810, nach dem Tode seines Vaters, kam er zum zweiten Male dahin. Während dieses zweiten Aufenthaltes hatte er verschiedene Aufgaben im Interesse seiner Familie zu lösen. Zunächst erforderten die bedrohten Vermögensverhältnisse seiner älteren Schwester, der verwittweten Freifrau v. Rodde (s. A. D. B. XXIX, 1) sein persönliches Eingreifen in Lübeck und Kassel. Sodann harrte seiner in Göttingen eine von seinem verstorbenen Vater übertragene Aufgabe, nämlich die einleitende Arbeit zur Biographie des letzteren. Drei Monate hielt er sich in Göttingen auf, um den chaotischen Schriftennachlaß seines Vaters zu ordnen. Nach Moskau zurückgekehrt setzte er die Sichtung fort und von da an blieb die Biographie des Vaters die durch viele Störungen gehemmte Hauptarbeit von mehr als einem Decennium. Nach der Schlacht von Borodino (October 1812) zog sich Chr. v. S. bei der allgemeinen Flucht aus Moskau nach Wologda zurück, konnte aber dahin nur einen Theil seiner Habe retten, so daß z. B. manche Briefsammlungen seines Vaters dem Moskauer Brande zum Opfer fielen. Dann folgten mehrere Jahre der Noth und Trauer, um seine eigenen Worte zu gebrauchen; wol zehn Mal sah er sich seit Moskaus Zerstörung genöthigt, seine Wohnung zu verändern, oft selbst ohne den Raum, um die geretteten Papiere auszulegen und neu zu ordnen. So gelangte die Arbeit erst im J. 1827 zum Abschluß und ward von dem nunmehr nach Deutschland zurückgekehrten Verfasser auf deutschem Boden veröffentlicht [602] („August Ludwig v. Schlözer’s öffentliches und Privatleben aus Originalurkunden“, 2 Bde. 1828). Die Vorrede ist in Breslau im März 1827 von Chr. v. S. als russischem Staatsrath und Professor emeritus der Universität Moskau gezeichnet, das Werk selbst Minister Altenstein gewidmet. Um jene Zeit herum wird sich Chr. v. Schlözer’s Uebertritt in den preußischen Staatsdienst vollzogen haben. Im Sommersemester 1828 finden wir ihn schon als Extraordinarius an der Universität in Bonn, wo er nach den Vorlesungsverzeichnissen durch drei Jahre neben Butte eine reiche Lehrthätigkeit entfaltet hat. Encyklopädie, Theorie der Geschichte und Statistik, Diplomatie, Volkswirthschaft und Landwirthschaft wurden angekündigt; im J. 1831 setzte aber der Tod seiner Wirksamkeit im deutschen Universitätswesen ein frühes Ziel.
Werfen wir zum Schluß einen Blick auf Chr. v. Schlözer’s litterarische Wirksamkeit im Ganzen, so ist es klar, daß sein eigenthümlicher Lebensgang wol manche Anregungen bringen mochte, welche dem gewöhnlichen deutschen Gelehrtenleben fehlen, daß in demselben aber andererseits auch mächtige Hindernisse gegeben waren, um in der deutschen Litteratur zur Wirksamkeit und Geltung zu gelangen. So ruft Chr. v. S. in der Vorrede zur Biographie des Vaters selbst die Nachsicht der Leser aus dem Grunde an, weil er während des in der russischen Hauptstadt zugebrachten Menschenalters sich genöthigt gesehen habe, seiner Muttersprache fast ganz zu entsagen und sich bei seinen schriftlichen Aufsätzen sowol wie bei seinen mündlichen Vorträgen bald dieser, bald jener erlernten Sprache zu bedienen. Durch eine Reihe von Jahren erscheint demnach auch die Mehrzahl seiner Druckschriften in französischer Sprache und ist hierdurch wie durch das Erscheinen in russischen Verlagsorten der deutschen Litteratur entrückt. Es sind dies: „Tables de matières contenues dans la science du droit des gens de l’Europe. A l’usage de ses auditeurs“. Dorpat 1804. „Principes élémentaires du droit naturel“. Dorpat 1804. Edition II 1807. „Principes élémentaires du droit Romain“. Moskau 1807. „Prospectus d’un institut d’éducation“. Moskau 1808. „Ebauche d’une histoire de la Sibérie“. Moskau 1809. „Deux tables chronologiques sur l’histoire universelle d’après la méthode d’Auguste L. de Schlözer“. Dorpat 1810. Und wie sprachlich so mußte sich die litterarische Thätigkeit dieser Zeit, den vielseitigen Vortragspflichten entsprechend, auch stofflich in verschiedenartigen Gebieten bewegen. Man denke Geschichte, Volkswirthschaft einerseits, Naturrecht, Völkerrecht und – Römisches Recht andererseits! In deutscher Sprache erschien außer den zwei oben genannten Stücken zunächst nur noch eine Sammlung von kleinen Schriften: „Kleine Schriften aus dem Fache der Rechtsgelehrsamkeit, Geschichte und Politik“ I. Theil 1807, offenbar mit der Zeit seiner ersten Heimreise nach Göttingen zusammenfallend. Erst nach einem langen Intervall, nach seiner endgültigen Heimkehr aus Rußland, trat er, wie wir gesehen, in die deutsche Litteratur mit der Lebensbeschreibung seines Vaters wieder ein, und im Zusammenhange mit seiner neuen akademischen Wirksamkeit scheint er auch mit Lebhaftigkeit die schriftstellerische Thätigkeit in deutscher Sprache zu didaktischen Zwecken aufgenommen zu haben. Zunächst wurde der „Grundriß“ einer Theorie der Statistik und der ethnographischen Geschichte aus dem Französischen übersetzt. Sodann folgte ein „Versuch der näheren Bestimmung der allgemeinen Grundsätze des natürlichen Preises der Güter, insonderheit der edlen Metalle (Platina)“ 1829; weiteren angekündigten Plänen scheint der Tod ein Ende bereitet zu haben. Die Bedeutung Chr. v. Schlözer’s in der deutschen volkswirthschaftlichen Litteratur ist aber trotzdem eine unbestreitbare; sie hat in Roscher’s Geschichte der Nationalökonomik ehrende Würdigung von berufenster Seite erfahren.
- [603] Vgl.: Die oben citirte Lebensbeschreibung A. L. v. Schlözer’s. – Vorlesungsverzeichnisse der Universität Bonn. – Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland XIV), S. 795–798. München 1874.