ADB:Scharnweber, Christian Friedrich

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Artikel „Scharnweber, Christian Friedrich“ von Friedrich Meusel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 595–598, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Scharnweber,_Christian_Friedrich&oldid=- (Version vom 1. Dezember 2024, 04:11 Uhr UTC)
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Scharnweber *): Christian Friedrich Sch., der hervorragendste Mitarbeiter Hardenberg’s an der Agrarreform, war lange Zeit vergessen und ist erst von der neueren Forschung wieder entdeckt worden. Er wurde am 10. Februar 1770 in Weende bei Göttingen geboren, kaum eine Meile von dem Stammschloß der Hardenberge. Sein Vater war Pächter des dortigen Klosterguts und zugleich Einnehmer des Göttingischen Quartiers; als solcher ließ er sich schlimme Unterschlagungen zu schulden kommen, indem er einen großen Theil der Gefälle in seine verunglückten gewerblichen Unternehmungen steckte. Er verarmte völlig und starb später als Schatzrath in Hannover. So wuchs der Sohn ohne Gymnasialunterricht und Universitätsbildung auf; er wurde Copist und Privatsecretär bei einem adligen Herrn in Hannover, soll dann schwedische, später preußische Kriegsdienste genommen haben und Soldat in dem damaligen Regimente Kunheim gewesen sein; nach Anderen hat er sich schon damals dem Landbau gewidmet. Nach diesen etwas unregelmäßigen Anfängen wurde Sch. wieder Privatsecretär im Hause des Geh. Raths v. Tandel, wo Hardenberg ihn kennen und schätzen lernte; er nahm ihn mit nach Ansbach. Hier wurde Sch. wie so mancher andere Beamte (Altenstein, Nagler, Schuckmann u. s. w.) von Hardenberg politisch erzogen und zum Geh. expedirenden Secretär ernannt; seine politischen Ansichten decken sich völlig mit denen des späteren Staatskanzlers, an dem er mit warmer persönlicher Verehrung hing. Als das fränkische Departement des Generaldirectoriums Ende 1798 geschaffen wurde, nahm ihn Hardenberg mit Nagler und einigen Anderen nach Berlin, wo er bei der Bearbeitung der Finanz- und Lehenssachen beschäftigt wurde. Eine weit größere Wirksamkeit konnte der inzwischen zum Kriegsrath Ernannte entfalten, als Hardenberg 1810 Staatskanzler geworden war. Schon in der Zeit vom März bis Juni dss. Js., als Hardenberg bei dem Streit zwischen Wittgenstein und dem Ministerium eine Art Nebenregierung zu bilden begann, hat Sch. eine bedeutende Rolle gespielt und seinem Chef aufs treueste zur Seite gestanden; er war es, der Hardenberg den Befehl des Königs überbrachte, sich über Wittgenstein’s Plan und den Conflict Altenstein-Wittgenstein zu äußern: „Die Sache betrifft die Abänderung des ganzen Wirthschaftsplans und einen Streit, der darüber zwischen den Wirthschafts-Inspectoren entstanden ist … Da die Bestellung vor der Thür ist, so ergibt sich daraus die Eile und Dringlichkeit und es würde großer Nachtheil entstehen, wenn der Freund [Sch. selbst] Eure Excellenz nicht träfe“, heißt es in einem anonymen Schreiben Sch.’s an den in Grohnde weilenden Hardenberg vom 29. März 1810. Bei der Krisis in den folgenden Monaten hat sich Sch. auch nach Altenstein’s Zeugniß „mit großer Vorsicht und Mäßigung benommen“; er scheint Hardenberg, [596] dessen engster Vertrauensmann er wurde, vor allem in diesen Kämpfen ganz nahe getreten zu sein. Dabei blieb Sch. frei von persönlichem Ehrgeiz. Hardenberg hatte im Juni 1810 die Absicht, ihn zum General-Intendanten für Domänen und Forsten zu ernennen; Sch. bat jedoch inständig, davon Abstand zu nehmen, und verbat sich auch eine finanzielle Aufbesserung, da er üble Nachrede seiner Feinde (Altenstein, Nagler, Beyme) befürchtete. Er blieb eine Art „Immediat-Bevollmächtigter“ Hardenberg’s und leitete (seit 1802) die Verwaltung von dessen Gütern; das Gut Lichtenberg bei Berlin bewirthschaftete er selbst; es war sein größter Wunsch, ohne förmliche Anstellung zu bleiben, um sich ganz der Landwirthschaft widmen zu können.

Trotzdem hat Sch., der sich 1812 verheirathete, seinem Chef, in dem er schon damals „den großen Mann“ sah, „in dessen Hände die Vorsehung das Schicksal eines zerrütteten Staates legte“, auch bei der nun wieder aufgenommenen Reorganisationsgesetzgebung treu zur Seite gestanden. „Es ist mein Stolz, und er wird es stets seyn“, so schreibt er einmal an Hardenberg, „daß meine Ansichten in diesen Beziehungen mit Ihren reiferen Ideen und Grundsätzen beinahe immer zusammentrafen“. Er wurde zwar nicht[1] zum Mitglied der Immediat-Commission ernannt, die unter Hardenberg’s Vorsitz und wesentlicher Mitarbeit Friedrich v. Raumer’s die Pläne zur wirthschaftlichen Regeneration des Staates entwarf, hat aber auf ausdrücklichen Wunsch des Kanzlers in wichtigen Fragen sein Urtheil abgegeben; als dann Raumer, den seine Feinde spöttisch den „kleinen Staatskanzler“ nannten, 1811 sich wieder ganz der Wissenschaft zuwandte und eine Professur in Breslau übernahm, ist Sch. sein eigentlicher Nachfolger geworden. Er fungirte als Regierungscommissar während der Convocirten-Versammlung von 1811 und muß als der Schöpfer der Agrarreform dieses Jahres, zumal des Regulirungs-Edictes betrachtet werden; mit Recht hat ihn Cavaignac „l’agent le plus laborieux, le plus compétent, et le plus actif de la réforme agraire“ und Knapp in allen bäuerlichen Angelegenheiten das „andere Ich“ des Staatskanzlers genannt. Zutreffend hatte Sch. erkannt, daß durch die Verordnung vom 9. October 1807 der Bauernschutz beseitigt war und die unerblichen Bauern sich in größter Gefahr befanden, zu Tagelöhnern herabgedrückt oder weggejagt zu werden; diese Gefahr wurde durch das Edict vom 14. September 1811, das Sch. nach eingehender Berathung mit den Convocirten entwarf und das in seiner – nicht wie Ernst v. Meier meint, in Raumer’s – Fassung mit nur wenigen Abänderungen Gesetz geworden ist, unmöglich gemacht. So ist es verständlich, daß die Reactionäre gerade Sch. mit besonderem Hasse verfolgten; während Marwitz Raumer nie anders als den „Potsdamschen Junker“ nennt, hat er Sch. den „Günstling Hardenberg’s“, den „ganz gemeinen Schreihals“, den „verrückten Scharnweber“ genannt, ein Epitheton, das sich bis heute in den feudalen Kreisen fortgepflanzt hat, und wozu auch ein ungerechtes, dem Marwitz’schen sehr ähnliches Urtheil Stein’s in dessen Selbstbiographie mit den Anlaß gegeben haben mag.

Auch das Landculturedict, das unter dem gleichen Datum erlassen wurde und vor allem eine freiere Benutzung des Grund und Bodens bezweckte, ist im wesentlichen Scharnweber’s Werk.

Sehr viel weniger glücklich erwies sich seine Hand bei der Abfassung des Gendarmerie-Edicts vom 30. Juli 1812. Es war ein Versuch, Hardenberg’s fränkische Kreisverfassung, auf die das Vorbild der Convents-Commissare sichtbar eingewirkt hat, sowie die französisch-westfälische auf Preußen zu übertragen und die Wirksamkeit der Staatsgewalt mit Hülfe des Kreisdirectors, der den Landrath ersetzen sollte, ohne Zwischeninstanz auch auf das platte Land [597] auszudehnen. Zumal dieses Edict hat unter dem Landadel einen Sturm der Entrüstung entfacht. Marwitz z. B. verfaßte eine Parodie auf das Gendarmerie-Edict, das Hardenberg, den „Vesir“, als orientalischen Despoten verhöhnte; auch bei den Behörden erregte es vielfach Anstoß, der geistreiche Hippel gerieth mit seinem alten Freunde Sch. ganz auseinander. Doch ist dieses Edict niemals durchgeführt worden; es wurde schon 1814 suspendirt, 1820 beseitigt, indem nur der sich wirklich auf die Gendarmerie beziehende Theil maßgebend blieb.

Während des Befreiungskrieges war Sch. rastlos thätig, nicht nur im Interesse der Agrarreform, sondern auch bei den Vorarbeiten der „Verordnung in Betreff der Modificationen des Landsturm-Edicts“, wobei er mit Gneisenau in einen heftigen Conflict gerieth, der schließlich zu einer Forderung von Seite Scharnweber’s führte; doch wurde das Duell vom Könige verboten.

Die Declaration vom 29. Mai 1816, durch die das Gesetz vom September 1811 verkümmert werden sollte, indem die Regulirung auf die spannfähigen Bauernstellen alten Bestandes beschränkt wurde, hat Sch. nicht verhindern können; doch ist zu bemerken, daß selbst die bäuerlichen Vertreter bei der interimistischen Nationalrepräsentation voll Standesstolz sich gegen eine Regulirung der nicht spannfähigen Bauern ausgesprochen hatten. Auch wurden alle weitergehenden Bestrebungen, die auf eine völlige Aufhebung des Regulirungs-Edictes hinzielten, glücklich abgewehrt. Hardenberg’s Gunst blieb Sch. nach wie vor bewahrt. Er erhielt nach den Befreiungskriegen das Amt Golzow im Kreise Lebus, das er bald darauf wieder verkaufte, und wurde 1817, schon einige Jahre vorher zum „Staatsrath“ ernannt, in den neu errichteten Staatsrath berufen, dessen Abtheilung für innere Angelegenheiten er angehörte. Hier hat er vor allem bei der Berathung der Gemeinheitstheilungsordnung, die 1821 Gesetz wurde, mitgewirkt. Auch in dem Kampfe des Staatskanzlers gegen die Reaction, der seit dem Herbst des Jahres 1819 eine so verhängnißvolle Wendung nahm, hat Sch. treu an der Seite Hardenberg’s gestritten; als der Kronprinz im April 1820 seinen Feldzug gegen den Kanzler eröffnete, verfaßte Sch. eine umfassende Denkschrift, die eine Rechtfertigung der gesammten Verwaltung Hardenberg’s gibt. Bald darauf wurde der Unermüdliche von schwerer geistiger Umnachtung befallen; er starb 1822 im Irrenhaus zu Ebersbach.

Selbstlos und fleckenlos in seinem Privatcharakter, besaß Sch. eine erstaunliche Arbeitskraft; in fliegender Eile scheint seine gewandte Feder die zierlichen, gleichmäßigen Schriftzüge hingeworfen zu haben. Uebersprudelnd, von lebhaftem Temperament, ja überaus heftig, für alles Gute und Große sich enthusiastisch begeisternd, hatte er, bemerkt Hippel, „immer nur den Zweck vor Augen, der eben seine Phantasie erfüllte“. „In ganz systematischer Weise verbreiten sich seine zahlreichen Denkschriften … über alle Gebiete des Staatslebens; es fehlt zwar auch in diesen Arbeiten nicht an Erörterungen über Wesen und Aufgaben des Staats; was sie aber im Gegensatz zu andern so lehrreich macht, das ist die Klarheit und Folgerichtigkeit der Darstellung, der praktische Sinn und gesunde Menschenverstand, die umfassende Geschäftskenntniß.“ „Auch er“, so urtheilt Ernst v. Meier, „ist durch und durch liberal, namentlich auf dem wirthschaftlichen Gebiete; er hat für die Verhältnisse des grundbesitzenden Adels weder Verständniß noch Sympathie und hält eben deshalb nicht viel von Selbstverwaltung … Gegen die Repräsentativ-Verfassung, sofern sie sich auf Theilnahme der Repräsentanten an der Gesetzgebung beschränkt, hat er dagegen nicht viel einzuwenden.“

Selbst mancher Gegner unter seinen Zeitgenossen hat Sch. gewürdigt. [598] E. v. Bülow-Cummerow, der bekannte litterarische Vorkämpfer des Landadels, gibt zu, daß ihm „sehr großes Lob“ in Sachen der Agrarreform gebühre. „Ein Mann, dem der Himmel so viel Talent gab, aber den er auch so leidenschaftlich erschuf, und der stets ohne Rücksicht auf Person und Verhältniß seinen Gesichtspunkt verfolgt, muß viele Feinde haben, … der muß oft anstoßen und noch öfter verkannt werden. – Die Geschichte der Verwaltung des Kanzlers ist, ohne daß man den Staatsrath Scharnweber kennt, nicht zu verstehen; durch ihn ist die Linie zum öftersten angedeutet worden, auf welcher der Kanzler … gehen wollte.“ Mit Recht urtheilt Boyen, der ihm als Menschen nicht gerecht wird, daß Scharnweber’s Name einen Platz in der Culturgeschichte Preußens verdient.

E. v. Bülow-Cummerow, Die Verwaltung Hardenbergs (1821), S. 55 f. – Knapp, Bauernbefreiung I, S. 144, 164 f., 289 f.; II, 240 f., 248 ff. (Scharnweber’s Rede vom 23. Februar 1811), 287 ff. – Derselbe, Forschungen z. Brandenb. u. Preuß. Geschichte I, 580 ff. – Marwitz ed. Meusel (1908) I, 591, 675; II 1. cr. – Raumer, Lebenserinnerungen I, 129, 166. – Hippel, Friedrich Wilhelm III., S. 51 u. ö. – Treitschke, Deutsche Geschichte I, 379 f.; III, 106. – E. v. Meier, Reform der Verwaltungsorganisation (1881), S. 173, 429 f. – Derselbe, Französische Einflüsse II, 404 ff., 407 ff., 436 – Cavaignac, La Formation de la Prusse contemporaine II. 87. – Pertz, Gneisenau III, 684 ff. – Derselbe[2], Hannöversche Verfassungs-Geschichte I, 287 f. – Boyen, Erinnerungen II, 96 f. – Hartung, Hardenberg und Ansbach-Bayreuth, S. 81, 93, 142. – Mamroth, Preuß. Staatsbesteuerung I, 166 f. – Blumenthal, Der preußische Landsturm 1813, S. 74–127. – Arndt, Wanderungen (Ausgewählte Werke VIII), S. 132 f. – Preußische Gesetzsammlung. – Berliner Geh. Staats-Archiv. – Gutsarchiv in Neuhardenberg.[3]

[595] *) Zu Bd. LIII, S. 733.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 596. Z. 17 v. o.: Scharnweber war trotz Raumer (Lebenserinnerungen I, 124. 129), dem ich gefolgt bin, Mitglied der Immediatcommission. [Bd. 55, S. 901]
  2. S. 598. Z. 21 v. o.: Die Hannöverische Verfassungs-Geschichte gehört eine Zeile höher unter die Schriften von E. v. Meier. [Bd. 55, S. 901]
  3. Z. 25 v. u.: Zur Litteratur, die ich bei der Zerstreutheit des Materials möglichst vollständig anführe, sei noch nachgetragen: Bassewitz, Kurmark Brandenburg 1809/10 S. 141, 144, 379, 404, der gleichfalls wiederholt anerkennt, daß Sch. dem preußischen Staat „sehr nützliche Dienste“ geleistet habe. Pertz, Stein II, 488; VI, 2. Beilagen S. 165, 174. Bach, Hippel S. 138 ff. besonders 142, 150 ff., 218 ff. Varnhagen, Blätter aus der preuß. Geschichte I, 13, 292, 334; II, 97, wonach Sch. zuerst im April 1821 von Wahnsinn befallen wurde. Meinecke, Boyen I, 290 ff. Delbrück, Gneisenau I3 S. 324 f. Steffens, Hardenberg und die ständische Opposition 1810/11 (1907) S. 66 u. ö. [Bd. 55, S. 901 f.]