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Artikel „Robert I., der Friese, Graf von Flandern“ von Pieter Lodewijk Muller in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 717–720, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Robert_I._der_Friese&oldid=- (Version vom 6. Oktober 2024, 13:51 Uhr UTC)
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Robert I., der Friese, Graf von Flandern, † 1093, war der jüngere Sohn des Grafen Balduin V. (s. A. D. B. II, 7). Wie fast keines seiner Zeitgenossen ist seine Lebensgeschichte von der Ueberlieferung bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und dies gerade in den wichtigsten Momenten seines Lebens. Nur ein Theil der überlieferten Darstellung ist mit den Urkunden und den Nachrichten gut unterrichteter Zeitgenossen in Einklang zu bringen. Die Chroniken erzählen, daß der junge R., damit der ältere Bruder die ganze Erbschaft erhalte, vom Vater mit Schiffen und Mannschaften versehen wurde, damit er sich irgendwo überm Meer eine Herrschaft auf eigene Faust gründe. Er soll sich zuerst an der spanischen Nordküste versucht, dann nach Vikingerart das Mittelmeer durchstreift haben, um an der syrischen Küste gelandet, eine Wallfahrt nach Jerusalem zu unternehmen; zuletzt soll er sich einige Zeit an der Spitze der Waräger am Hofe in Constantinopel [718] aufgehalten haben. Doch nirgends war seines Bleibens, bis er, wie erzählt wird, um das J. 1063 nach Friesland kam, entweder als Feind oder mit freundlichen Absichten. Da war eben der Graf Florens (s. A. D. B. VII, 125) gefallen. R. hatte nichts Eiligeres zu thun, als die Wittwe, die Tochter des Herzogs Bernhard von Sachsen, Gertrud, zu heirathen und für den unmündigen Stiefsohn, Dietrich V., die Vormundschaft zu führen, bis ihn um das J. 1071 der Herzog Gottfried der Höckrige von Nieder-Lothringen sammt seinem Mündel aus dem Lande trieb, was dann in Zusammenhang mit Robert’s Kampfe um die Herrschaft in Flandern gebracht wird. Wir erwähnen nur die Hauptmomente; die Ueberlieferung ist von verschiedenen Historikern verschieden ausgemalt, je nachdem dieselben die Verbindung des überlieferten Thatbestands mit den spärlichen Nachrichten der Urkunden und Zeitgenossen zu Stande bringen wollten. Doch blieb Alles im höchsten Maße unklar und verworren. Erst im J. 1888 hat in einem Hecmundensia überschriebenen Aufsatz in den Bijdragen voor Vaderlandsche Geschiedenis en Oudheidkunde (3. Folge 4. Bd.) Kappeyne van de Copello schlagend nachgewiesen, wie von dieser Darstellung nur eine Thatsache gewiß ist, die Heirath Robert’s mit Gertrud, wie alles Uebrige theilweise unverbürgt, theilweise, und dieses gilt namentlich von Allem, was sich auf die friesischen (später holländischen) Länder bezieht, entschieden falsch ist. Von einem Aufenthalt Robert’s in Holland zwischen den Jahren 1063 und 71 kann seitdem keine Rede mehr sein. Nur dieses steht fest. R. hat die Wittwe des Florens, welche wahrscheinlich von dem Utrechter Bischof Wilhelm aus dessen Gebiet vertrieben wurde, und sich nach Flandern oder auf die benachbarten Inseln, das westliche Seeland, geflüchtet hatte, um diese Zeit geheirathet und dann unter fortwährendem öfter siegreichem Widerstand der Einwohner jene Inseln, welche zu dem vermuthlich ihm vom Vater zugewiesenen Reichsflandern gehörten, besetzt, sich daselbst aufgehalten und daher in Flandern den Beinamen „der Friese“ erhalten. Natürlich kam er so in ein feindliches Verhältniß zum Utrechter Bischof und zu der denselben schützenden Reichsregierung. Dagegen sind seine Beziehungen zu seinem 1067 dem Vater in Flandern nachfolgenden Bruder friedliche gewesen. Er hielt sich öfters in Flandern auf und als Balduin 1070 starb, ward er von demselben zum Vormund seiner Söhne ernannt, von denen der ältere Arnulf Flandern, der jüngere Balduin den von seiner Mutter Richilde dem Vater zugebrachten Hennegau erhalten sollte. Vielleicht auch galt es nur allein die Vormundschaft in Flandern. Wie dem auch sei, R. hatte sich mit Richilde auseinanderzusetzen. Diese aber wies alle Annäherungsversuche ab, zwang R., nach seinen Inseln zu flüchten und zog seine sonstigen Lehen ein, während sie seine Anhänger blutig verfolgte. Sie baute dabei auf die Unterstützung ihres Lehnsherrn, des Königs Philipp von Frankreich, dessen Gunst sie sich versichert haben soll. Allein ihr Regiment erregte allgemeinen Unwillen in den deutsch redenden Theilen des Landes, der Adel erhob sich und rief R. ins Land, der sich bald aller jener Gegenden bemächtigte und in das französisch redende Flandern, das Richilde treu blieb, eindrang. Da eilte König Philipp mit einem mächtigen Heere herbei. Beim Berge Cassel wurde am 20. Februar 1071 eine gewaltige Schlacht geliefert, deren Verlauf verschieden geschildert ist. Es war der erste Kampf um die Selbständigkeit Flanderns gegen die Wälschen. Zugleich ein Sieg. Zwar wurde R. vom Grafen von Boulogne gefangen, jedoch auch Richilde, welche sich persönlich am Kampfe betheiligte, erlitt dies Schicksal, und der unglückliche junge Graf Arnulf, der immer treu zur Mutter gehalten, fiel, entweder in oder nach der Schlacht, durch mörderische Hand. König Philipp hatte die Flucht ergriffen und alle Lust verloren, sich weiter am Kampfe zu betheiligen. Nicht allein gab er R. gegen Richilde frei, sondern er belehnte ihn in [719] eigener Person mit der Grafschaft, als Nachfolger seines Neffen und besiegelte die Versöhnung durch seine Vermählung mit Robert’s Stieftochter Bertha, des Grafen Florens Tochter. Als Frankreich sie im Stich gelassen, wandte sich Richilde ihrem zweiten Lehnsherrn, König Heinrich IV., zu, der eben im Frühjahr 1071 nach Lüttich kam. Der versprach ihr seinen Schutz, wenn sie zuließe, daß die Grafschaft Hennegau dem Lütticher Bischof übertragen werde, von welchem sie Balduin, der rechtmäßige Erbe, wieder als Lehen erhielt. Herzog Gottfried der Höckrige wurde mit der Führung des Kampfes gegen R. betraut. Jedoch statt gegen Flandern wandte dieser seine Waffen gegen die Friesen, wahrscheinlich durch einen Aufstand der Anhänger des vertriebenen Grafengeschlechts veranlaßt, welche auf Anstiften des Abtes Stephan von Egmond sich gegen die Regierung des Utrechter Bischofs erhoben zu haben scheinen. In wie weit R. dabei betheiligt war, ist nicht zu ersehen; jedenfalls fand, als der Aufstand blutig niedergekämpft worden war, Abt Stephan nicht allein Schutz, sondern die freundlichste Aufnahme bei ihm, denn er erzwang nicht lange nachher seine Wahl zum Abt des Genter Bavoklosters. Der ganze Vorgang ist aber auch nach den Untersuchungen Kappeyne’s noch keineswegs ganz aufgeklärt. Jedenfalls kam Herzog Gottfried von jetzt an mehrmals nach den friesischen Gegenden, wo er fünf Jahre später durch die meuchelmörderische Hand eines Mitglieds des Hofgesindes Robert’s den Tod fand. R. dagegen hatte zwar im nächsten Jahre einen heftigen Angriff in dem Hennegau von Richilde und ihren Bundesgenossen zu bestehen, jedoch denselben in der Schlacht bei Brocqueroy kräftig zurückgewiesen. Dagegen hatte er von Norden her Ruhe. Noch im nämlichen Jahre machte er seinen Frieden mit König Heinrich; gegen Abtretung aller Ansprüche auf den Hennegau erhielt er die Belehnung mit Reichs-Flandern; die westseeländischen Inseln hat er dann vielleicht seinem Stiefsohn überwiesen, wenigsten erscheinen dieselben von jetzt an im Besitze der holländischen Grafen. Die sonstigen Länder aber, welche Dietrich beanspruchte, kamen erst im J. 1076, als Gottfried und Wilhelm von Utrecht beide gestorben waren, in dessen Hand. Von jenem Jahre 1072 an verblieb R. im friedlichen Besitz Flanderns. Freilich hat der junge Balduin den Oheim erst im J. 1085 als Grafen anerkannt, doch kam es nicht mehr zum offnen Kampfe. Robert’s Regiment soll gerecht aber streng gewesen sein, das Spolienrecht soll er mit großer Härte geübt haben, was in einer Zeit, wo die Geistlichkeit entschieden an Macht zunahm, auffällt. Doch wird er keineswegs als ein rauher Krieger, sondern als ein in den Wissenschaften erfahrener Fürst geschildert. Ob er noch als Graf eine zweite Pilgerfahrt zum heiligen Grabe unternommen, oder ob der Kreuzzug seines Sohnes Robert II. zu dieser Erzählung Veranlassung gegeben hat, ist ungewiß. Vielleicht auch empfanden die Chronikschreiber das Bedürfniß, der abenteuerlichen Jugend ein ebenso abenteuerliches Alter entgegenzustellen. Nicht weniger erscheint es ungewiß, ob sein 1093 erfolgter Tod die Folge einer Verletzung war, die er sich im Kampfe für seinen französischen Lehnsherrn gegen Graf Thebald von Champagne durch einen Sturz vom Pferde zugezogen hatte. So bleibt das ganze thatenreiche Leben immer in Dunkel gehüllt, welche Mühe sich auch die Forschung gibt, Klarheit zu bringen. Doch bei der Dürftigkeit der Quellen wird weder die vlämische noch die holländische Geschichte jener Zeit, an welcher R. gewiß, wenn auch nicht in dem Maße wie früher allgemein angenommen war, betheiligt gewesen ist, wol je zur vollkommenen Klarheit gebracht werden können.

Vgl. außer dem genannten Aufsatz Kappeyne’s Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit II. – Warnkönig, Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte I. – Kluit, Historia critica comitatus Hollandiae, Excursus V, wo man die ältere [720] Litteratur und die Quellen besprochen findet, und zugleich einen freilich nicht gelungenen Versuch, dieselben mit einander in Einklang zu bringen.