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Artikel „Overbeck, Johannes (Archäologe)“ von Hermann Thiersch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 852–854, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Overbeck,_Johannes&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 09:57 Uhr UTC)
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Overbeck *): Johannes O., Archäologe. Geboren am 27. März 1826 zu Antwerpen, bezog er 1845 die Universität Bonn, promovirte hier 1848 und habilitirte sich gleichfalls daselbst im März 1850. 1853 als Extraordinarius nach Leipzig berufen, war er von 1858 als Ordinarius dort bis zu seinem Tode am 8. November 1895 thätig. Seit 1874 war er Mitglied der Centraldirection des kaiserl. archäologischen Instituts in Berlin.

Overbeck’s wissenschaftliche Richtung ward für sein ganzes Leben bestimmt durch den Familienkreis, in dem er aufwuchs, und den Studienkreis, der diesen alsbald ablöste. Ein Sohn der alten Malerstadt und Neffe des gleichnamigen „Nazareners“, empfing seine nach Kunst verlangende Seele durch F. G. Welcker in Bonn ihre entscheidende Orientirung auf die Antike hin und zugleich ihre besondere Nuancirung ins Mythologische. Welcker ist Overbeck’s erste größere Schrift gewidmet, und Zeit seines Lebens ist er „Bonner“ geblieben, auch wenn er den größten Theil desselben, nach ganz kurzen Anfängen am Rhein, über vier Jahrzehnte lang einer anderen Hochschule angehörte. Seine Veranlagung entbehrte indessen jener originalen Kraft, Selbständigkeit und Tiefe, die allein einen wirklichen Führer auch auf archäologischem Gebiete ausmachen können. So steht O. dauernd im Gefolge der Größeren. Nach Welcker ist es Otfried Müller und später der nur wenig ältere Rivale und Zeitgenosse Heinrich Brunn, Welcker’s bedeutendster Schüler, in deren Bann O. unwillkürlich gerathen mußte. Besonders durch Brunn’s überragendes Genie ward er vielfach angespornt und stand viel mehr auf dessen Schultern, als ihm selbst bewußt geworden zu sein scheint. Neuen Grund zu legen, neue Pfade zu finden war weniger seine Sache, als das allerorts Gewonnene schulmäßig herzurichten, tradirbar aufzubauen. Dabei kam es ihm zu gute, daß er viel leichter und fließender sprach, auch rascher schrieb, als der die Probleme durchkämpfende, philosophisch weit tiefer, künstlerisch ungleich feiner veranlagte Brunn. Aber diesem Vortheil entsprach weder Gehalt noch Gestalt dessen, was O. gab, so vielgebraucht seine Hauptwerke auch gewesen sind.

Overbeck’s zahlreiche Schriften sind theils rein kunstgeschichtlicher, theils kunstmythologischer Art. Als die wichtigeren sind zu nennen: „Pompeji, dargestellt in seinen Gebäuden, Alterthümern und Kunstwerken“, 1. Aufl. 1855, 4. Aufl. 1884 (im Verein mit A. Mau ganz neu durchgearbeitet, aber durch dessen neuere selbständige Schriften jetzt antiquirt); „Geschichte der griechischen Plastik“, 1. Aufl. 1857, 4. gänzlich umgearbeitete Aufl. in 2 Bdn. 1893/94 (bei allen großen Mängeln immer noch die einzige illustrirte deutsche, ausführliche und vollständige Geschichte der griechischen Plastik); „Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen“, 1868 (nach Epochen und innerhalb dieser nach Kunstkreisen und Künstlern geordnet; immer noch durch kein neueres kritischer gesichtetes Buch ersetzt); „Gallerie heroischer Bildwerke der alten Kunst, Bd. 1: Die Bildwerke zum Thebischen und Troischen Heldenkreis“ (mit 32 Tafeln; Versuch einer Ergänzung der lückenhaften poetischen Tradition – Epos, Lyrik, Drama – durch die bildlichen Denkmäler), 1853; „Griechische Kunstmythologie, Bd. II bis IV (1.–5. Buch). Besonderer Theil: Zeus und Hera, Poseidon, Demeter und Kora, Apollon“; mit Atlas (in Riesenfolio, mit Unterstützung des königl. sächs. Cultusministerium). Alles weitere, auch der I. allgemeine, zusammenfassende Theil ist nicht mehr erschienen. – Außerdem von kleineren Arbeiten etwa 60 Aufsätze in verschiedenen archäologischen und philologischen Zeitschriften.

[853] Overbeck’s Wirken fällt schon in die Zeit, da durch die sich beständig mehrenden Reisen und Ausgrabungen die Menge der antiken Denkmäler ins Unübersehbare anzuwachsen drohte. Dieser „praktischen“, mit der Erde selbst ringenden Archäologie ist er stets fern geblieben, nur wenige Male hat er classischen Boden betreten, und sein Buch über Pompeji ist bekanntlich zuerst entstanden, ohne daß er jemals dort gewesen wäre. O. hat sich ausschließlich in der heimischen Luft des Katheders entwickelt. Diese Beschränkung mußte zu einer gewissen Unselbständigkeit und fühlbaren Einseitigkeit führen. Darum ist auch so wenig Licht und Luft in seinen Schriften, ganz anders als bei Brunn und noch mehr bei Furtwängler. Dieser Nachtheil konnte auch nicht ausgeglichen werden durch die zusammenfassende Weise der Verarbeitung, zu der O. genöthigt wurde durch die beständige Verpflichtung, die vielen alten und neuen Erscheinungen collegweise in großem Zusammenhange vorzuführen. Ueber einen etwas magazinartigen, nützlichen Fächerbau, ein beständiges Einreihen und Umordnen in lehrhafte Kategorien ist er dabei kaum hinausgekommen. Das Lernbedürfniß der studirenden Jugend stand ihm eben ganz im Vordergrund. All den aus solch schulmäßigem Docentenbedürfniß herausgewachsenen Schriften Overbeck’s fehlt trotz aller Neuauflagen eben eine Hauptgrundlage: hinreichende Autopsie der Originale und damit die rechte eigene Erfahrung. Wie stark er, in alten Vorurtheilen befangen, die Wichtigkeit der Denkmäler selbst unterschätzte, zeigen Leitsätze aus der Einleitung noch der letzten Auflage seiner „Griechischen Plastik“: „Die schriftlichen Nachrichten der Alten sind die Hauptquelle, die Monumente wesentlich nur als deren Ergänzung zu betrachten. – Die Grundlage bilden die schriftlichen Quellen. Diesen Umriß ergänzen wir aus den Monumenten.“

Die mangelnde eigene Kenntniß der Originale war O. indessen aufs eifrigste bemüht einigermaßen zu ersetzen durch den Ausbau der Abgußsammlung seines Leipziger Universitätsinstituts. Um dieses hat er sich auch sonst in hohem Maße verdient gemacht. Durch zahlreiche Zuwendungen dankbarer Schüler und begeisterter Kunstfreunde war die alte Gipssammlung schließlich in ihren Räumen (im Fridericianum, seit 1881 im Augusteum) so angewachsen, daß im neuen Collegiengebäude bedeutend mehr Platz dafür geschaffen werden mußte. Den Umzug dorthin im Herbst 1895 konnte O. theilweise selbst, wenngleich schon todtkrank, noch bewerkstelligen. Durch die Menge und Vielartigkeit der Monumente, die er in seinen Collegien, Uebungen und Führungen heranzog, verstand er es, seine Hörer, auch die weiterer Kreise zu fesseln; seine Hauptvorlesungen zählten über 100 Zuhörer, und auch auf die archäologische Schulung der sächsischen Gymnasiallehrer gewann er nachhaltigen Einfluß. Seine eigenste Gründung (auf Jahn’scher Grundlage) ist das archäologische Seminar der Universität mit seinen sechs, alle Jahre staatlich prämiirten Mitgliedern (1874). Aus dem Kreise dieser Schüler ist 1893 zu Overbeck’s 40jährigem Amtsjubiläum in Leipzig die „Festschrift für Overbeck“ hervorgegangen. Aber auch über den Rahmen seines Lehrfaches hinaus gehörte des „Professors“ Wohlwollen und bestes Streben der Leipziger Studentenschaft und ihrer Hochschule: O. begründete dort die akademische Lesehalle und die studentische Krankencasse.

Ein Verzeichniß von Overbeck’s sämmtlichen Schriften findet sich in den Berichten der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, 1895, S. 359–363, sein Bildniß (nach Photographie) im American Journal of Archaeology, 1896, S. 361. Seine Büste steht in der Bibliothek des archäologischen Seminars der Universität Leipzig.

[854] Archäologischer Anzeiger 1895, S. 195 (Conze). – Berichte der sächs. Gesellschaft der Wissenschaften 1895, S. 351–359 (Theodor Schreiber). – American Journal of Archaeology, 1896, S. 361–370 (Walter Miller). – Vgl. dazu Festschrift zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig (1909), S. 14–20: „Der Ausbau des archäologischen Instituts durch J. Overbeck“ (Fr. Studniczka).

[852] *) Zu Bd. LII, S. 742.