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Artikel „Noack, Ludwig“ von K. Grün. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 745–748, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Noack,_Ludwig&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 13:35 Uhr UTC)
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Band 23 (1886), S. 745–748 (Quelle).
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Noack: Ludwig N. wurde geboren als ältester Sohn des Oberconsistorialregistrators Noack am 4. October 1819 zu Bessungen bei Darmstadt; besuchte das hauptstädtische Gymnasium und verließ dasselbe am 13. April 1837 mit dem Zeugniß der Reife. Schon am 26. April wurde er auf der Landesuniversität Gießen als Studiosus der Theologie und Philologie immatriculirt. Fleißig, wie all sein Leben lang, verband er die theologischen Studien mit den Arbeiten im philologischen Seminar unter Professor Osann. Sein Abgangszeugniß mit den glänzendsten Testirungen datirt vom 11. Januar 1840. Am 22. Mai desselben Jahres wurde er in das hessische Predigerseminar zu Friedberg aufgenommen; am 2. November 1841 figurirte er in der Liste der Pfarramtscandidaten und am 3. Mai 1842 wurde er als Pfarrgehülfe und Religionslehrer am Gymnasium und an der Communalschule zu Worms in der hessischen Pfalz angestellt.

Es sei hier gleich die orientierende Bemerkung verstattet, daß der kritisch veranlagte junge Mann in die unpassende Laufbahn verschlagen worden war. In die Theologie gewissermaßen hineingeboren und erzogen, hat er sich nie dauernd von ihr zu trennen vermocht und ist nach allen philosophischen Leistungen stets wieder in die Bibelkritik zurückgefallen. Die Theologie aber ist eine Wissenschaft sui generis; die Freiheit innerhalb derselben hängt mehr als bei anderen Disciplinen von Zeitströmungen und Machtverhältnissen ab, und in Hessen-Darmstadt herrschten zur Zeit der Staatsrath v. Linde und Herr v. Dalwigk, damals gerade Kreisrath zu Worms! Diese beiden Herren haben dem redlich strebenden, stets uneigennützigen N. ein wahres Märtyrerleben bereitet. Herr v. Linde, als Kanzler der Universität Gießen, eröffnete den Feldzug am 5. Januar 1844. Ein angebliches Gesuch Noack’s um Anstellung in der philosophischen Facultät [746] zur Veranlassung nehmend, richtete er an N. die peinliche Frage: ob er der Verfasser der beiden „Schmähartikel“ in der „Mannheimer Abendzeitung“ und den „Constitutionellen Jahrbüchern“ sei, betreffend die Gießener Universität (später als Broschüre unter dem Titel: „Der Gießener Studienplan und Herr Professor C. A. F. Fritzsche“, Mannheim 1844, Heidelberg, Groos, erschienen). Dieser anticipirte Zeugnißzwang, n. b., gegen den Zeugen selbst, wurde von N. mit dem Bemerken abgewehrt, er habe sich um keine Stelle beworben. Aber Herr v. Linde, den doch jetzt die Sache gar nichts mehr anging, verlangte schleunigst abermals Aufklärung über die „Schmähartikel“. N. darauf: er habe nie Schmähartikel geschrieben. Man sagt, daß es hierauf dem zu größeren Dingen berufenen Herrn v. Dalwigk gelungen sei, unter der Maske des Schmeichlers dem harmlosen N. das Geständniß der Autorschaft entlockt zu haben. Am 23. April wurde N. seines Dienstes in Worms entbunden und am 10. Mai ihm die Beibringung eines Heimathscheins behufs Ertheilung einer Aufenthaltskarte polizeilich auferlegt, nachdem er die Erlaubniß zur Ertheilung von Privatunterricht in Sprachen, Litteratur und Geschichte erwirkt hatte! Und doch bezeugte ihm ein hohes Oberconsistorium zu Darmstadt, daß er nach vorzüglich bestandener Prüfung die Stellen eines Hülfspredigers und Religionslehrers zur Zufriedenheit bekleidet habe. Und doch ließ im folgenden Jahre der Erbgroßherzog (später Ludwig III.) für die Uebersendung des ersten größeren Werkes von N., „Mythologie und Offenbarung“ (Darmstadt, Leske, 1845) bestens danken. Der Unkundige fragt unwillkürlich: Wer regierte denn eigentlich im Großherzogthum? Mitten in den aufregenden Wirren des Jahres 1844 hatte N. noch Zeit gefunden, am 16. December zu Freiburg i. Br. das Diplom eines Doctors der Philosophie zu erwerben.

Im Januar 1847 schlug ihm der Minister die Bitte um eine Privatdocentur ab; dagegen berief ihn die linksrheinische Schulverwaltung Ende März desselben Jahres als provisorischen Lehrer an die höhere Bürgerschule zu Oppenheim, gestattete ihm sogar die Ertheilung des Religionsunterrichts. Auch die „Jahrbücher für speculative Philosophie“ (a. u. d. T. „Jahrbücher für Wissenschaft und Leben“, Darmstadt, Leske, 1846–48) wurden vom nunmehrigen Großherzog Ludwig III. freundlich aufgenommen. Das Jahr 1848 ging an einem so regen Kopfe und warmen Herzen, wie N. sie besaß, nicht spurlos vorüber. In einem gedruckten Aufruf stellte er seine Candidatur zum Reichstage in Worms auf. Darin fand sich nichts Ueberstürztes, keine leere Phraseologie, welche so vielfach die Zeitungen und Hausmauern unsicher machte; der Verfasser wies vielmehr alles „müssige Raisonniren und Schwadroniren“ zurück und skizzirte einen positiven Aufbau des deutschen Reiches. Das genügte damals linksrheinisch nicht; dagegen wurde N. im folgenden Jahre zum Repetenten der Philosophie zu Gießen mit einer Besoldung von 400 Gulden ernannt. Am 10. October 1855 erfolgte auch die Ernennung zum außerordentlichen Professor, freilich ohne Gehaltserhöhung! Da hieß es arbeiten, die ganze Spannkraft des Mannes einzusetzen, um sich über Wasser zu halten. Eine erste kinderlose Ehe war durch den Tod der älteren Gattin 1851 aufgelöst worden, 1855 ging N. eine zweite Ehe ein, die mit drei Söhnen gesegnet wurde. Am 7. December 1857 besteuerte man ihn mit 10 Procent des kleinen Gehalts für die Wittwencasse und legte ihm 320 Gulden Einzahlung auf! Und am 22. Juli 1859 noch schlug man ihm eine Gehaltserhöhung ab!

Hätte er sich nur einmal resolut von der Theologie und Bibelkritik emancipirt, und wäre er bei der Philosophie geblieben! Aber nachdem er sich in „Mythologie und Offenbarung“ und in der kleinen Schrift: „Der Religionsbegriff Hegels“ (beides Darmstadt, 1845, Leske) mit der Hegel’schen Religionsphilosophie [747] auseinandergesetzt hatte, lockte es ihn jetzt, von dem identischen Unterschiede zwischen „Vorstellung“ und „Begriff“ hinweg zur Erforschung der empirischen Wirklichkeit der Religionsstiftung, und er schrieb: „Die Bedeutung des Urchristenthums und sein Verhältniß zum Christenthum der Gegenwart“ (Darmstadt, Leske, 1846). Dann sehen wir ihn, wie zur Vorbereitung auf seine Repetentenstelle, die „Jahrbücher für speculative Philosophie“ oder „für Wissenschaft und Leben“, zwei Jahre lang, 1846–48 (Darmstadt, Leske), herausgeben. Mitten hinein, 1847, stellte er jedoch eine dickleibige „Theologische Encyklopädie“ (Darmstadt, Leske) und verstieg sich im Revolutionsjahre 1848 zu einer angeblichen „Kirchenzeitung“ (Stuttgart, Expedition, Hofbuchdruckerei zum Guttenberg in Commission, October bis December 1848, 1849 ganz). Er fuhr wieder mit vollen theologischen Segeln: „Das Mysterium des Christenthums“ (Leipzig, Brockhaus, 1850; „Das Princip der evangelischen Kirche und die Aufgabe der speculativen Theologie“ (Lübeck, Dittmer, 1852); „Der Genius des Christenthums oder Christus in der Weltgeschichte“ , 1. Genius des Urchristenthums, 2. der Katholicismus, 3. das Christenthum seit der Reformation (Bremen, Geisler, 1852); „Christenthum und Humanismus oder das religiöse Bewußtsein Jesu“ (Rudolstadt, Fröbel, 1853). Eine wahre Erlösung von der ewigen Religionsphilosophie bildete das sich auf neuzeitlich geschichtlichem Boden bewegende Werk: „Die Freidenker in der Religion oder die Repräsentanten der religiösen Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland“ (Bern, 1853 bis 1855). Gleichzeitig erschien „Die Geschichte der Philosophie in gedrängter Uebersicht“ (Weimar, 1853, Landesindustriecomptoir). Aber im selben Jahre ereignete sich auch ein dreifacher Rückfall in die Theologie: „Die christliche Mystik in Mittelalter und Neuzeit“ (Königsberg 1858, Bornträger); „Die Theologie als Religionsphilosophie“ (Lübeck 1853, Dittmer); „Die biblische Theologie“ (Halle, Pfeffer, 1853). Bei dieser unerhörten Fruchtbarkeit darf man jedoch keineswegs an Buchmacherei oder Fabrikarbeit denken. N. arbeitete, trotz des materiellen Zwanges, nur nach innerem Bedürfniß der Gedankenäußerung. Im J. 1854 winkt uns, gleichzeitig mit der außerordentlichen Professur, wieder die lautere Philosophie: „Propädeutik der Philosophie“ (Weimar, Landesindustriecomptoir). Indessen drei Jahre später stoßen wir auf den „Ursprung des Christenthums“ (Leipzig, Fleischer, 1859), und während im selben Jahre die Zeitschrift „Psyche“ zur „Kenntniß des menschlichen Seelen- und Geisteslebens“ (Leipzig, O. Wigand, 1857–62) ihren Anfang nimmt, ja, während sich N. im J. 1857 hochverdient machte durch die erste vollständige Edition des Colloquium heptaplomeres (de arcanis) von Jean Bodin (1530–97), fährt im J. 1859 „Die christliche Dogmengeschichte“ (Erlangen, Enke) dazwischen. Eine vollständige Katharsis scheint mit dem Jahre 1859 einzutreten, welches selbst noch die treffliche Schrift: „Schelling und die Philosophie der Romantik“ (Berlin, Mittler & Sohn.) bringt. Es folgten: „Heinrich Pestalozzi, der Held als Menschenbildner und Volkserzieher“ Leipzig 1861, O. Wigand); im selben Jahre das noch immer beachtenswerthe „Immanuel Kants Auferstehung aus dem Grabe“ (Leipzig, O. Wigand); „Joh. Gottl. Fichte zum 100jährigen Geburtstag“ (Leipzig, 1862, O. Wigand). Sehr mit Unrecht hat man behauptet, die Schrift über Kant sei rein negativer Natur; sie führt bloß den Nachweis, daß Kant, trotz der hyperidealen Forderungen, beständig der Wirklichkeit und Erfahrung Rechnung getragen. Mit Fichte, nicht dem Philosophen, sondern dem Patrioten und Pädagogen, hätte wol etwas glimpflicher verfahren werden können.

Die Theologie ließ ihn nicht los, und sie war es, die ihm neue Unannehmlichkeiten zuzog. Am 29. April 1862 beantragte das hessische Oberconsistorium beim Ministerium des Innern „zum mindesten eine ernstliche Verwarnung“ [748] an N. wegen des Artikels: „Die Auferstehung des Gekreuzigten im Lichte heutiger Wissenschaft“ („Psyche“, Bd. IV., S. 133 f.). Am 13. Mai wurde die Universität zum Bericht aufgefordert. Unter dem 8. November berichtete der gesammte Senat ans Ministerium: er trete der theologischen Facultät bei, der Aufsatz gehöre der bibelkritischen Untersuchung an, welche frei sein müsse. Aber „die frivole und spöttische Sprache“ sei „unverträglich mit dem Ernst und der Würde der biblischen Wissenschaft“. Grundes genug zu einer „ernsten Verwarnung“. Unterdessen wucherte Noack’s religionsphilosophische, bisweilen hochpoetische, ihm aber stets verderbliche Anschauung fröhlich weiter. 1868 erschien: „Von Eden nach Golgatha“ (Leipzig. O. Wigand); es folgten: „Tharraquah und Sunamith, das hohe Lied, geschichtlich und landschaftlich“ (Leipzig, 1869, Fues); „Die Pharaonen im Nillande“ (Leipzig, Brockhaus, 1870); „Aus der Jordanwiege nach Golgatha“; 4 Bücher „Ueber das Evangelium und die Evangelien“ (Mannheim und Straßburg, Schneider, 1870–71). Noch am 16. April 1870 wurde ihm die Ernennung zum ordentlichen Professor abgeschlagen; der allgewaltige Dalwigk erklärte ihm persönlich: so lange er am Ruder stehe, könne er auf keine Berufung rechnen. Doch gewährte man ihm in Gnaden zur selben Zeit das Amt eines Gehülfen bei der Universitätsbibliothek; er zählte 51 Jahre! – mit 400 Gulden Gehalt. Am 3. Mai 1872 wurde das Gehalt des außerordentlichen Professors von 400 auf 550 Gulden erhöht. Endlich, am 24. Juni 1873, machte man ihn zum ersten Bibliothekar und gab ihm gleichzeitig den Titel eines Profesor ord. honor. Auch die zweite Gattin, die treue Mitkämpferin und Mitdulderin, starb im J. 1875; zwei Jahre später vermählte sich N. mit der Vorsteherin seines Haushalts und erhielt an ihr eine aufopfernde Pflegerin in leider bald hülfsbedürftigem Alter. Am 10. October 1882 erhob sich sein Gehalt auf 4000 Mark. Als Bibliothekar war er nun freilich ganz an seinem Platz, da er gründliche Bücherkenntniß mit dem gründlichsten Fleiße verband und täglich wenigstens 6–7 Stunden den Büchern widmete, ohne indeß auch hierfür den wohlverdienten Dank zu ernten. Bei alledem brachte er es noch fertig, den „Scotus Erigena“ für Kirchmann’s „Philosophische Bibliothek“ (1876) zu bearbeiten, und sein thatenreiches Autorleben zu schließen mit der Riesenarbeit: „Historisch-biographisches Handwörterbuch zur Geschichte der Philosophie“ (Leipzig, Koschny, 1877–79), woran nichts falsch ist, als das Wort „Hand“, da das Werk das unhandlichste dickleibigste Lexikon mit 963 Seiten ist!

Im Frühjahr 1885 schienen ihm seine Kräfte zur öffentlichen Thätigkeit erschöpft zu sein. Er hatte sich längst überarbeitet; sein Gehör hatte gelitten und seine Augen drohten im Bibliothekdienst zu erlöschen. Er suchte daher um Pensionirung nach, die ihm auch mit 9/10 des Gehalts vom 16. August d. J. an gewährt wurde. Leider kam er nicht in den Genuß der ersehnten und wolverdienten Ruhe; denn schon im Juni d. J. erkrankte er an der Gürtelrose, der sich eine Lungenentzündung zugesellte, und am 15. Juni segnete er das Zeitliche, schmerzlos und von lieblichen Bildern der Zukunft umgaukelt. Seine Gedanken schwebten um Heidelberg, wo er mit seiner Gattin der Ruhe zu genießen dachte. Ein edler Mensch und Menschenfreund wurde am 17. Juni 1885 zu Gießen hinausgetragen, von seinen Angehörigen beweint, von allen Unparteiischen betrauert.

K. Grün.