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Artikel „Nasemann, Otto“ von Gustav Emil Lothholz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 582–588, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nasemann,_Otto&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 03:54 Uhr UTC)
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Band 52 (1906), S. 582–588 (Quelle).
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Nasemann: Johann Friedrich Otto N. ist in Cochstedt im Kreise Aschersleben geboren am 21. Januar 1821, † als Gymnasialdirector in Halle a. S. am 31. März 1895. Der Vater Nasemann’s hatte sich dem Studium der Jurisprudenz gewidmet, war aber der Fahne seines Herzogs Friedrich Wilhelm gefolgt und hatte als freiwilliger Husar bei Waterloo mitgekämpft. Nach der Rückkehr aus dem Kriege war er Landwirth geworden, hatte sich mit Sidonie Winkler, einer Pfarrerstochter, verheirathet; war aber bei ungünstigen sonstigen [583] Verhältnissen in der Bewirthschaftung seines Gutes nicht glücklich gewesen, verfiel auch bald nach Otto’s Geburt in eine langwierige Krankheit, welche die Ueberführung in eine Halberstädter Heilanstalt nöthig machte, wo er, als Otto 3 Jahre alt war, starb. Der Vater, eine vornehme Natur, hatte es wol nicht recht verstanden, seine untergebenen Leute in Zucht und Ordnung zu halten; er hatte den ungebildeten Leuten zu viel Vertrauen geschenkt. Auch der Sohn hatte vielleicht ein zu großes Vertrauen zu seinen Mitarbeitern; die schwärmerische Liebe zum Vaterlande war ihm mit dem Vater gemein. Die treffliche Mutter hatte mit der Erziehung der Kinder gewiß ihre Noth, hatte sich aber durch ihr liebenswürdiges Wesen so viel Liebe unter ihren Landsleuten erworben, daß alle, die sie näher kannten, ihr das schwere Loos, das sie betroffen, erträglich zu machen suchten. So wurde Otto, dessen munteres und offenes Wesen überall beliebt war, in das Haus des Pfarrers Buttstedt aufgenommen und dort bei aller Strenge doch liebevoll und sorgsam erzogen und für die Aufnahme in ein Gymnasium vorbereitet. Ostern 1837 trat N., 16 Jahre alt, in die Obersecunda des Halleschen Pädagogiums ein, das damals unter der Leitung H. Niemeyer’s (s. A. D. B. XXIII, 682[WS 1] [von Nasemann]), des jüngsten Sohnes des Kanzlers N., stand. Vortreffliche Lehrer waren an der Anstalt thätig: Friedrich August Eckstein, Moritz Seyffert, der vortreffliche Geograph H. A. Daniel und später der tüchtige Philolog R. Unger.

Im J. 1840 verließ N., wohl vorbereitet zu akademischen Studien, das Pädagogium, um sich historischen und philologischen Studien auf der Hallischen Universität hinzugeben; vor Anderen zogen ihn die Vorlesungen Max Duncker’s (über die segensreiche Wirksamkeit M. Duncker’s in Halle vgl. die treffliche Schrift R. Haym’s: „Das Leben Max Duncker’s. Mit Max Duncker’s Bildniß.“ Berlin 1891), seines späteren Freundes, an; auch war er Mitglied des pädagogischen Seminars, das H. Niemeyer leitete. Als lebensfroher Student trat er in das Corps der Marchia und bewährte auch hier seinen ihm angeborenen Sinn für ehrenhaftes Wesen. Sehr wichtig wurde für ihn ein anderer Kreis von Bekannten: Albert Ritschl, der später berühmte Göttinger Professor der Theologie, Friedrich Hinrichs, der spätere Mühlhäuser Gymnasialdirector C. W. Osterwald, der als Mensch und Gelehrter ausgezeichnete Prof. R. Haym; der treffliche Robert Franz und später der überaus tüchtige Philolog Heinrich Keil. Eine enge Freundschaft verband N. mit dem bekannten Philologen und Pädagogen Fr. Aug. Eckstein u. A. Als N. in Berlin seine Studien beendet hatte, wurde er von H. Niemeyer, der seine pädagogische Befähigung kannte, als Lehrer an das Pädagogium gezogen (1845). Schon Ostern 1849 ging er als Collaborator an die lateinische Hauptschule über, die damals von dem berühmten Eckstein geleitet wurde. Aus einer Aeußerung, die er seinem Freunde Ritschl in einem Briefe that: Die Jungen hängen an mir – vielleicht weil sie einen vor sich haben, der die Marotte hat, nicht bloß Lehrer, sondern auch Nasemann zu sein“ (S. 3). Die finanziell schwache Lage Nasemann’s hatte ihn gezwungen, sein kärgliches Gehalt durch Nebenverdienste in Privatunterricht und Lesen von Correcturen aufzubessern, so daß ihm zu umsichtiger Vorbereitung zur Staatsprüfung die Zeit fehlte; In dieser für ihn so trüben Epoche seines Lebens traf ihn die Kunde von der Erhebung der Herzogthümer Schleswig-Holstein gegen die dänischen Ansprüche. Die unglückliche Schlacht bei Idstedt war geschlagen, sein geliebter Lehrer Duncker hatte in zündender Rede alle Patrioten an ihre Ehrenpflicht, dem bedrängten Bruderstamme beizustehen, erinnert. Da faßte der für deutsches Wesen so begeisterte N., wie einst sein Vater, den Entschluß, an dem Kampfe sich zu betheiligen. Mit Beginn der großen Sommerferien ging er nach Kiel ab. Er wurde dem [584] 6. Jägercorps zugetheilt und in der 4. Compagnie als Oberjäger eingestellt. Als solcher hatte er, der in Preußen Landwehrlieutenant gewesen war, zunächst in Rendsburg Rekruten einzuexerciren. Von hier aus bat er seinen Director Niemeyer, seinen Urlaub über die Ferien hinaus zu verlängern; da ihm dieser nicht gewährt wurde, brach er die Brücke hinter sich ab und blieb in Schleswig; er blieb auch, als die preußische Regierung bei einer Mobilmachung gegen Oesterreich alle auswärts dienenden Wehrpflichtigen zur Rückkehr zu den preußischen Fahnen aufforderte, widrigenfalls sie als Deserteurs angesehen werden sollten. „Ich gehe,“ so schrieb er an Duncker mit Beziehung auf die Mahnung seines Directors, „trotzdem und alledem nicht nach Preußen zurück. Was soll ich im Lande der Blamage? Zumal da ich meine Stellung einmal aufgegeben und nun doch kein Krieg wird. Die Hallenser können es nur aufgeben, mich je in ihren Dreckmauern wiederzusehen.“ Er rückte ins Feld und kam ins Feuer bei Groß-Wittensee (S. 4). Bald darauf wurde er infolge seiner tapferen Haltung zum Officier befördert und mit der Führung eines Zuges betraut, mit welchem er am zweiten Weihnachtsfeiertage einen Recognoscirungsvorstoß der Dänen von Osterby gegen Damendorf bei dem Bauernhofe Dam zurückwarf. In der Sylvesternacht aber wurde er bei Möllhorst mit seinem Zuge von neuem in ein Vorpostengefecht verwickelt; er sah, wie der dänische Officier auf ihn zielte, wollte aber des guten Beispiels wegen sich nicht mehr decken – da traf ihn der Schuß und zerschmetterte ihm das linke Knie. Zwei Tage darauf wurde ihm im Rendsburger Lazareth das Bein abgenommen. Der Armeebefehl des commandirenden Generals v. d. Horst rühmte das ausgezeichnete brave Benehmen Nasemann’s; aber das konnte ihn über seinen Verlust wenig trösten, zumal die Sache, für die er gekämpft hatte, auch verloren war; denn die Schleswig-Holsteinsche Landesversammlung wurde am 11. Januar 1851 infolge österreichischer und preußischer Intervention zur Abdankung gezwungen, die Armee aufgelöst und Schleswig von den Dänen besetzt.

Die Verwundung des Patrioten N. machte natürlich auf die hallischen Freunde einen sehr schmerzlichen Eindruck, und sie thaten alles, um seine Lage erträglich zu gestalten. Die Frau Prof. Duncker insbesondere ließ es sich angelegen sein, den verwundeten Freund aufzurichten. Die Heilung der Wunde ging nur langsam von Statten, und am Anfang März mußte der Kranke in das akademische Krankenhaus in Kiel überführt werden. Hier auch war die Stimmung bei dem langsamen Fortschreiten der Heilung der Wunde eine sehr gedrückte, zumal aus der Vergangenheit ihn manch anderer Schuh drückte. Die letzten Worte waren von seinem gütigen Director Niemeyer nicht ganz richtig aufgefaßt worden. Er hatte dem jungen Freunde quittirte Rechnungen zugeschickt in der Meinung, daß das Drücken des Schuhes dadurch beseitigt würde; aber er hatte sich da sehr geirrt, denn in Geldsachen war N. sehr feinfühlig. „Wenn Sie nebst den Herren X, Y, Z geglaubt haben, mir durch das Quittirenlassen der Rechnungen einen Gefallen zu thun, so irren Sie sich. Es ist mir diese – ich kann das Wort nicht zurückhalten – unberufene Einmischung in meine Angelegenheiten eine schmerzliche. Warum haben Sie die Papiere herausgegeben? Ich habe gesorgt und gebangt für mein Leben, weil ich nicht gern sterben mochte, ohne meinen Gläubigern gerecht zu werden; ich habe deshalb nach Halle und nach Arbeit mich zurückgesehnt. Auf diese Weise ist mir das abgeschnitten … Wenn das Bettelstolz ist, so mag das sein; aber ich habe ihn einmal“ (S. 6). Vor allem lag nun den hallischen Freunden daran, zu bewirken, daß, da er bei der Mobilmachung Preußens gegen Oesterreich der Aufforderung, zu den preußischen Fahnen zurückzukehren, nicht Folge gegeben [585] hatte und demnach als Deserteur angesehen wurde, N. wieder nach Preußen zurückkehren durfte. Durch Vermittlung seiner Freunde wurde am 25. Juni 1851 durch die Civilbehörde seine Begnadigung von Sr. Majestät und die Erlaubniß strafloser Rückkehr ausgesprochen. Es nahm auch die Heilung seiner Wunde einen günstigen Verlauf, sodaß er mit Sehnsucht an die Rückkehr nach Halle dachte. Im Mai 1852 vollendete er seine Inauguraldissertation: „De rerum inter Ottones et Byzantinos actarum ratione“, und bald darauf bestand er mit bestem Erfolge seine Staatsprüfung. Bei der damaligen reichlichen Fülle von Lehramtscandidaten empfahl ihn Freund Duncker dem Oberburggrafen von Brünneck als Erzieher für seinen Sohn Wilhelm. In diesem vornehmen Hause gewann der geistvolle patriotische Mann gar bald eine ihm zusagende Stellung. Die Gleichheit der politischen und militärischen Anschauung, die er mit dem Hausherrn theilte und die Liebenswürdigkeit des jungen Gelehrten gewannen ihm die Herzen aller Familienglieder. Auch nach dem Ablaufe der zweijährigen Lehrzeit in dem Brünneck’schen Hause blieb er im Verkehr mit der Familie; insbesondere hatte er sich das Mahnwort des lebenserfahrenen Grafen eingeprägt, daß Geld zwar Dreck sei, aber Dreck kein Geld!

Im Sommer 1854 wurde ihm infolge eines Gesuchs an Minister v. Raumer die Erlaubniß zum öffentlichen Unterricht wieder zugesprochen, und durch Vermittlung des Geh. Oberregierungsraths Wiese erhielt er eine Anstellung an dem Gymnasium in Königsberg in der Neumark, das damals unter der Leitung des sinnreichen Herausgebers der Lieder des Horatius, K. W. Nauck, stand. Hier übernahm er den Geschichtesunterricht in Prima und Tertia und freute sich, daß er wieder in sein ihm so zusagendes Fahrwasser und in den Verkehr mit Schülern gekommen war. Nun konnte er auch, der Stimme seines Herzens folgend, sich mit der Tochter seines verehrten H. Niemeyer verloben und am 29. Mai 1855 verheirathen. Die Ehe war eine überaus glückliche, durch zwei Töchter gesegnete, zumal er seit 1858 als erster Oberlehrer an der Realschule der Francke’schen Stiftung wieder thätig sein konnte. Damals war Director der Francke’schen Stiftungen der berühmte Herausgeber des Strabo und anderer Schriften. Dr. Kramer, der einer religiös und politisch sehr positiv gerichteten Lebens- und Weltanschauung zugethan war, richtete an N. die Frage nach seinem Standpunkte. Die Beantwortung dieser Frage, die auf S. 9 in dem Programm des Dr. Riehm mitgetheilt ist, gibt von neuem den Beweis des trefflichen Charakters Nasemann’s. So sehr ihm daran lag, zu den alten Freunden in Halle zurückzukehren, so setzt er doch ganz unverhohlen auseinander, „daß die religiösen und politischen Anschauungen Kramer’s nicht die seinigen sind; er gehöre nicht der confessionellen Richtung an, habe auch nie an dem eigentlichen Rationalismus Befriedigung gefunden, weil es für seine Natur allezeit einer intensiveren gemüthlichen Betheiligung bedurfte; aber ich halte dafür, daß derselbe die Leute seiner Zeit für Ehrlichkeit und Redlichkeit, für uneigennützige Hingebung, für straffe Pflichterfüllung vielleicht mehr gefördert hat, als die heutige Richtung, die das Dogma betont“. N. fügte hinzu, daß es für einen, der sich mit der Geschichte Preußens etwas genauer abgegeben habe, nicht zweifelhaft sei, daß für den Staat nur Heil ist in der Dynastie, in dem Festhalten monarchischer Institutionen; „und für mich wird die Anhänglichkeit an das Haus des Königs noch durch ganz andere und tiefere Gründe bedingt als durch solche historisch-politische Abstractionen. Damit ist es aber keineswegs gegeben, daß ich alle Schritte der Diener Sr. Majestät für gerechtfertigt hielte, ja es wird dies durch eben jene Treue und Ergebenheit öfter verboten, oder daß ich mich zu den Partisanen der neuen preußischen [586] Zeitung zählen müßte. Wollte ich beispielsweise die Umwandlung in der Politik des Jahres 1850 gut heißen, so müßte ich mein eigenes in gerechter Sache vergossenes Blut verleugnen – und das sei ferne. Diese wenigen Züge“, so schließt er den für ihn sehr charakteristischen Brief, „werden genügen, um E. H. zu orientiren. Ich weiß nicht, ob, aber ich verberge mir nicht, daß es möglich ist, daß Sie darin Veranlassung finden könnten, mein Gesuch nicht zu gewähren. Ich kann deshalb meine Bewerbung nicht zurückziehen; ich stelle sie vielmehr wiederum Ihrer Entscheidung anheim, die ich ehren werde, wie sie auch ausfalle. Schließlich liegt es mir sehr am Herzen, E. H. zu bitten, falls etwas in der Form gefehlt sein sollte, dies nicht für unziemliche Ueberhebung zu halten, sondern es mit dem Ernste der Sache und mit dem Bestreben entschuldigen zu wollen, daß ich frank und gerade sein wollte“ (S. 10). Es war natürlich, daß nach diesem Beweis ehrenhaftester Gesinnung ihm das erwünschte Amt übertragen wurde. Director der Realschule war Dr. Ziemann, den N., da er kränklich war, als erster Oberlehrer oft monatelang vertreten mußte. Das Gehalt war in der damaligen Zeit kärglich, sodaß er durch Bearbeitung einiger Bände der Becker’schen Weltgeschichte, durch die Correctur von Duncker’s Geschichte des Alterthums, durch Betheiligung an philologischen und theologischen Zeitschriften (Beyschlag’s Monatshefte) und durch Aufnahme von Pensionären sich Nebeneinnahmen verschaffen mußte. Dadurch und durch sein arbeitsreiches Amt wurde seine Zeit so in Anspruch genommen, daß er zur Abfassung eines größeren Werkes keine Muße fand. In dieser arbeitsreichen Zeit machte ihm M. Duncker den Vorschlag, die Leitung einer in Frankfurt a. M. zu gründenden politischen Zeitung zu übernehmen. Er schlug das Anerbieten mit den Worten ab: „Ich bin nun wieder Lehrer und will es, so lange ich kann, bleiben: es ist doch einmal mein Beruf, auf der Jugend herumzuhämmern.“

Im Osterprogramm des Gymnasiums in Königsberg i. N. hatte N. 1855 eine Abhandlung „über die Römerzüge der beiden ersten Ottonen“ veröffentlicht. In den von seinem Freunde R. Haym begründeten preußischen Jahrbüchern brachte er eine Reihe von Aufsätzen, unter anderen über den Minister v. Schön (1860) und über Veit Ludwig v. Seckendorf (1862); manche Anzeige seiner Feder fand in dem litterarischen Centralblatt Aufnahme; in dem Osterprogramm der Realschule behandelte er „A. H. Francke und der Unterricht in den Realgegenständen“. Seine pädagogische Thätigkeit wurde dadurch anerkannt, daß er 1863 an die Stelle des nach Leipzig als Rector an die Thomasschule abgehenden Fr. A. Eckstein in die städtische Schulcommission berufen wurde. An die von der Stadt 1861 gegründete Vorbereitungsschule, die sich bald einer großen Anerkennung erfreute, wurde, als 1863 und 1864 die Errichtung der obersten Classen sich nöthig machte, besonders auf Nasemann’s Befürwortung der als tüchtiger Historiker bekannte Dr. Opel als Rector gewählt. Die Schule nahm so zu, daß man daran dachte, sie zu einem vollen Gymnasium auszugestalten. Zum Director des neuen Gymnasiums wurde N. gewählt, dessen pädagogische Tüchtigkeit in Halle allgemein bekannt war. N. war nicht gewillt, dem verdienstvollen Rector Opel, der darauf gerechnet hatte, Director des Gymnasiums zu werden, in den Weg zu treten, und richtete am 16. December 1867 ein Schreiben an den Magistrat, in welchem er dringend bat, mit Rücksicht auf seine persönlichen Verhältnisse wie auch im Interesse der emporblühenden Schule, die einen mit den classischen Sprachen mehr vertrauten Mann an der Spitze haben müsse, von seiner Wahl abzusehen. Was er an pädagogischer Erfahrung und an Lehrgeschick etwa besitze, könne er der Anstalt auch als einfacher Lehrer darbringen. Wenn daher [587] der Magistrat geneigt wäre, ihm eine Lehrerstelle mit 800 Thlr. zu verleihen, so würde er mit Freuden unter der Leitung des Herrn Rector Opel in die Anstalt eintreten und darum bitten, bei eventueller Einrichtung von Oberlehrerstellen mit berücksichtigt zu werden, da er bereits 10 Jahre in diesem Range an einer höheren Schule unterrichtet habe. Doch die maßgebenden Persönlichkeiten, der Oberbürgermeister v. Voß, der um hallisches Schulwesen verdiente Landrath v. Bassewitz u. A. hielten die Wahl aufrecht. Der Oberbürgermeister v. Voß erklärte in seiner Einführungsrede: „Man hätte ihn erwählt: als einen Mann, der für das, was er für recht gehalten, mannhaft die höchsten Güter des Lebens eingesetzt habe, als einen guten Hirten, der jeden einzelnen der ihm anvertrauten Zöglinge, den begabten und strebsamen wie den schwachen und leichtfertigen mit gleicher Liebe auf seinem Herzen tragen und, so viel an ihm ist, darüber machen werde, daß keiner ihm verloren gehe, auch nicht einer, der auch für dies Amt wiederum sein Herzblut freudig einsetzen werde.“ N. nahm die Wahl an und wurde auch trotz der Gegenpetition von Seiten des Lehrercollegiums bestätigt und am 23. April 1868, gelegentlich der feierlichen Eröffnung des Gymnasiums und der Einweihung des neuen Gebäudes, vom Schulrath Dr. G. Heiland in sein Amt eingeführt. Das Vertrauen, was man bei seiner Wahl in ihn setzte, hat er vollständig gerechtfertigt; mit seinem Lehrercollegium hat er trotz einiger widerstrebenden Elemente in freundlicher Beziehung gestanden, ihre Interessen nach jeder Richtung hin zu fördern gesucht; insbesondere war ihm der Schulrath Unger, ein tüchtiger Philolog, der in Friedland in M. seine Stelle aufgegeben hatte und an dem städtischen Gymnasium als Oberlehrer eingetreten war, ein treuer Freund und Gehülfe. Das Vertrauen zu seiner charaktervollen Persönlichkeit hat wesentlich zu dem schnellen Emporblühen der neuen Anstalt beigetragen. Seit dem Eingehen des alten Lutherischen Gymnasiums war die Anstalt die erste höhere Schule in Halle. Ein Curatorium, das die Interessen der Anstalt wahrzunehmen hatte (v. Bassewitz, Fubel u. A.) wurde eingesetzt; mit der Zeit änderte sich die Zusammensetzung des Curatoriums und auch der Director N. nahm eine andere Stellung zu ihm ein. Taktvoll hat N. seines Amtes gewaltet und die Liebe seiner Schüler durch sein freundliches Auftreten in reichem Maaße erworben. Der Verfasser seiner Biographie erzählt treffliche Züge aus seiner Verwaltung und seiner pädagogischen Thätigkeit (S. 16 flg.); insbesondere wird sein Unterricht in der Geschichte und seine Behandlung des Horatius gerühmt. R. Haym sagt: „Nasemann’s Regiment sei ‚gut constitutionell‘ gewesen, aber es hätte vielleicht ein wenig monarchischer sein sollen“; sein Biograph nennt sein Regiment vielmehr patriarchalisch (S. 18). Mehrere geistvolle Abhandlungen und Recensionen hat er neben seinem Amte, das seine ganze Kraft in Anspruch nahm (S. 26) veröffentlicht. Nachdem sein Freund Unger seine Stellung aufgegeben hatte, reichte auch N. sein Abschiedsgesuch ein (am 10. August 1888), und am 30. März 1889 entließ er zum letzten Male die Abiturienten und nahm Abschied von seiner geliebten Schule in einer geistvollen Rede. Vielen seiner Schüler ist er ein rechter Wegweiser geworden in patriotischer und religiöser Beziehung; mit Dankbarkeit werden seine Schüler gern des treuen Lehrers gedenken. In seiner Mußezeit beschäftigte er sich mit schriftstellerischen Arbeiten, gab Unterricht in französischer und englischer Litteraturgeschichte, wurde von Freunden und alten Schülern gern besucht. Ein Influenzaanfall hatte ihn Ende März 1895 kurze Zeit aufs Krankenlager geworfen, und schon war er wieder auf dem Wege der Genesung, als ein Schlaganfall am 31. März seinem arbeitsreichen Leben ein Ziel setzte. Am 3. April wurde er unter großer Betheiligung alter Schüler und guter hallischer Freunde bestattet. Sein Andenken [588] wird in der Geschichte der Anstalt und in der Geschichte der Pädagogik unvergessen sein. Er hat die große Freude gehabt, von der theologischen Facultät der Göttinger Hochschule zum Dr. theol. honoris causa gewählt zu werden.

Benutzt ist das treffliche Programm des Gymnasialoberlehrers Dr. G. Riem, Otto Nasemann, der erste Director des Stadtgymnasiums zu Halle a. S. 1898 und eigene Bekanntschaft mit dem ausgezeichneten Manne.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 628, ein Zahlendreher