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Artikel „Mutian“ von Ludwig Geiger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 108–109, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mutianus_Rufus,_Conradus&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 14:18 Uhr UTC)
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Mutian: eig. Mut, mit seinem vollen Namen Conrad Mutianus Rufus – letzteres wegen seines rothen Haares – hervorragender deutscher Humanist, geb. in Homberg am 15. Octbr. 1471, † in Gotha am 30. März 1526. Er besuchte die Schule des Hegius in Deventer, wo er ein Mitschüler des Erasmus war, bezog 1486 die Universität Erfurt, wo er 1492 Magister wurde und wenigstens kurze Zeit lehrte. 1495 ging er, wie es scheint, über Mainz nach Italien, erwarb in Bologna den Doctorgrad der Rechte, weilte längere Zeit in Mailand, Mantua, Florenz, Rom, wurde mit hervorragenden Humanisten und hohen Würdenträgern bekannt, und machte sich mit den humanistischen Studien immer mehr vertraut. 1502 kehrte er in die Heimath zurück, war ganz kurze Zeit in der Kanzlei des Landgrafen von Hessen beschäftigt und lebte seit 1503 als Canonicus in Gotha. Unter seinen Mitcanonikern hatte er keinen Verkehr; nahe stand ihm nur sein Geistesverwandter Heinrich Urban (s. d.). Klosterverwalter in dem benachbarten Georgenthal und Georg Spalatin (s. d.), seit 1505 Lehrer daselbst. Den hauptsächlichsten Einfluß gewann M. aber dadurch, daß dem „Mutianischen Bund“ eine große Anzahl junger Leute beitrat, die auf der Universität Erfurt studirten: Eoban Hesse, Peter Eberbach, Herbord v. d. Marthen, Crotus Rubianus, Euricius Cordus, Justus Jonas. Dieser mutianische Bund ähnelt den übrigen litterarischen Gesellschaften der Humanistenzeit dadurch, daß er ein anerkanntes Haupt hatte, wie etwa die rheinische den Celtes, die Straßburger den Erasmus, daß er durch gemeinsame humanistische Bestrebungen geeint war, aber er unterschied sich dadurch, daß keine gemeinschaftlichen Arbeiten von ihm unternommen wurden. M. selbst war kein Schriftsteller und kein öffentlicher Lehrer. Er ist außer in jener früher erwähnten Erfurter Periode niemals als Lehrer aufgetreten und hat keine zum Druck bestimmte Zeile geschrieben. Seine Wirksamkeit bestand darin, daß er durch persönliches Beispiel und mündliche Ermahnungen und durch einen mit Fleiß und Liebe gepflegten Briefwechsel die jungen Leute an sich fesselte und in ihrer geistigen und sittlichen Entwickelung förderte. Er bekleidete in Deutschland ein unbestrittenes litterarisches Censoramt, selbst die geistig Höchstgestellten wendeten sich an ihn, um sein Urtheil und seine Billigung zu erlangen. Aber er verlangte auch Unterwerfung unter sein Urtheil, ärgerte sich über die Reizbarkeit mancher Poeten und wünschte Eintracht und Friedfertigkeit unter denselben. M. war ein eigenartiger Philosoph, in der Schule der Neuplatoniker gebildet. Der Geist ist ihm das eigentliche Wesen der Dinge. Er vergeistigt daher die christlichen Dogmen, hält die Auferstehung nur für eine geistige, weist den Ceremonien nur geringen Werth zu. So tritt er z. B. gegen diejenigen auf, welche dem „Verschlingen der Hostie“ sonderliche Bedeutung zuschreiben: bringt erst nach zehn Jahren seines Canonicats zögernd sein erstes Meßopfer dar; polemisirt heftig gegen das Fasten, dessen Beweggrund er in der Habsucht der Geistlichen findet, gegen das Gebetplappern und den Reliquiendienst. Er bekämpft die Priester, die am Ueberwiegen der Ceremonieen, an der Entartung des Kirchendienstes schuld seien; er ist entrüstet über die Pfründenjägerei; er wüthet gegen der Priester Unmäßigkeit, Unsittlichkeit, gegen den Wucher, den sie mit den Bauern treiben; er greift Rom an „als die Höhle aller Verbrechen“. Diese freisinnigen Ansichten, die sich manchmal zu pantheistischen steigern – gelegentlich fehlt es nicht an Aeußerungen völligen Unglaubens, abergläubische Anschauungen dagegen kommen so gut wie gar nicht vor – sollen jedoch nur von „Philosophen“ getheilt werden; die Menge müsse „durch Religion [109] und Gesetz getäuscht werden“. Den Philosophen gestattet er ferner gewisse Besonderheiten in der Moral. Selber ist er sittlich und ziemlich mäßig, obwohl in seinen Ausdrücken derb und cynisch; seinen Getreuen aber erlaubt er „gute Trünke“ und drückt ein Auge zu bei ihren sittlichen Vergehen. M. ist ein bedeutender Gelehrter, ein tüchtiger Jurist, ein kenntnißreicher Theologe, vor allem ein ausgezeichneter Humanist. Er ist kein Poet, er schätzt die Poesie zu hoch, um ohne Veranlassung und ohne Begabung Verse zu schmieren. Er kennt die drei von den Humanisten gepflegten Sprachen des Alterthums; verachtet aber, da er deutschnational gesinnt ist, das Deutsche nicht, obwohl er sich desselben nicht bedient. Die griechische Litteratur verehrt er besonders hoch: „sie ist so göttlich, daß kein Lob an sie heranreicht“. Er ist ein vertrauter Kenner des römischen Alterthums; dessen Autoren citirt er mit Vorliebe; er verlangt aber weder von anderen noch erstrebt er für sich sklavische Nachahmung der classischen Autoren, sondern wünscht eine proprietas sermonis, und lehrt eine Vermeidung von Barbarismen. Die Vertreter der Barbarei und Anhänger der Scholastik haßt er aufs Gründlichste. In Folge dieser Gesinnung betheiligt er sich mit seiner ganzen Schar sehr lebhaft am Reuchlin’schen Streite, ermuntert die jungen Freunde, dem bewährten Alten sich anzuschließen, wird eine Zeit lang, nach der Verurtheilung Reuchlin’s durch den Kaiser an seiner Ueberzeugung irre – denn er war eben hier wie anderwärts ein Halber – ermannt sich aber wieder und tritt eifrig für die Sache des Gefährdeten ein. Im Mutianischen Kreise ist die berühmte Satire der „Dunkelmännerbriefe“ entstanden, M. hat wahrscheinlich von ihrem Entstehen gewußt, aber sich nicht an derselben betheiligt. An der Reformation dagegen nahm er keinen Antheil. Schon von dem Reuchlin’schen Kampfplatze hatte er sich in den letzten Jahren zurückgezogen, in Bezug auf Luther, den er anfänglich wie fast alle Humanisten sehr verehrt hatte, erklärte er schon 1520, daß er keinem Urheber von Schmähung, Zwist und Streit beitrete und betonte später ganz rückhaltlos, daß er von den „wüthenden Lutheranern“ nichts wissen wolle. Seine letzten Jahre waren durch diese Streitigkeiten, die ihn sehr betrübten, durch seine Armuth, die immer drückender wurde, durch die Bauernunruhen, die sein bißchen Eigenthum und sein Leben bedrohten, verwirrt und traurig. Viele seiner Genossen waren gestorben oder zerstreut; der Tod des im Leben Vielgepriesenen wurde nur von Wenigen beklagt. Die „glückselige Ruhe“, die zu besitzen er sich früher stolz vermessen hatte, fand er erst im Tode wieder. Die Nachwelt hat ihm, der außer stilistisch vortrefflichen und inhaltlich werthvollen Briefen nichts geschrieben hat, wegen seines großen Einflusses auf die Jugend unter den Führern des deutschen Humanismus neben Reuchlin und Erasmus mit Recht die dritte Stelle eingeräumt. Mutian’s Briefe finden sich hauptsächlich in einem Codex der Frankfurter Stadtbibliothek. Daraus; zuerst, ausgewählt und verkürzt abgedruckt bei Tentzel, Supplementum historiae Gothanae. Jena 1701. – Erste vollständige Ausgabe sowohl aus dem genannten Codex, als aus vielen anderen Quellen: Der Briefwechsel des M. R. (im Ganzen 665 Nummern, meist wörtlicher Abdruck, nur wenige Regesten) von C. Krause, Kassel 1885. Eine andere Ausgabe von Gillert in Barmen für die Quellenschriften der Provinz Sachsen ist angekündigt aber nicht erschienen. –

Biogr. über M. in der Einleitung Krause’s, ferner Kampschulte, Universität Erfurt; Strauß, Ulrich v. Hutten; Geiger, Reuchlin; vgl. ferner die Zusammenstellung bei Krause S. 1 A. 1.