ADB:Mursinna, Christian Ludwig

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Artikel „Mursinna, Christian Ludwig“ von Ernst Gurlt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 81–84, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mursinna,_Christian_Ludwig&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 12:24 Uhr UTC)
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Mursinna: Christian Ludwig M., preußischer Generalchirurgus und Professor der Chirurgie zu Berlin, gehört zu denjenigen bedeutenden Chirurgen, die, aus der Barbierstube hervorgegangen, sich zu einer angesehenen Stellung in der Wissenschaft emporgeschwungen haben. Zur Zeichnung seines Lebenslaufes benutzen wir eine im Jahre 1811 bei Gelegenheit der Feier seines 50jährigen Dienstjubiläums im Druck erschienene Autobiographie. Er war am 17. Decbr. 1744 zu Stolp in Hinterpommern als Sohn eines Tuchmachers geboren, besuchte nur bis zu seinem 12. Lebensjahre die dortige lateinische Schule, mußte dann widerwillig bei seinem Vater in die Lehre treten, wurde jedoch bereits nach einem Jahre, auf seine Bitten, von dem Magistrat der Stadt einem Bader in Stolp, und, da er von diesem sehr tyrannisirt wurde, darauf einem Stadtchirurgus in Colberg in die Lehre gegeben. Seine Lehrzeit in Colberg von 1758 an fiel in die Zeit der drei durch die Russen bewirkten Belagerungen der Festung, von denen die im Jahre 1760 die schrecklichste war und mit der Uebergabe derselben endigte. M., der am Ende der Belagerung freigesprochen worden war, war ohne Gehalt in den preußischen und russischen Feldlazarethen bis zum Frieden thätig und wurde am 5. März 1761 von dem Generalchirurgus Theden zum wirklichen Lazarethchirurgus ernannt. In demselben Jahr war er noch [82] in den Feldlazarethen zu Stettin und Berlin unter Cothenius und Theden und bei der Belagerung von Schweidnitz unter Schmucker in Thätigkeit, lag dann selbst 3 Monate lang krank im Lazareth zu Breslau, während welcher Zeit er fleißig alle medicinischen Bücher, deren er habhaft werden konnte, namentlich Heister und Platner, studirte. Hier war es auch, wo er nach seiner Genesung die ersten anatomischen Studien machte, unter Leitung des als Embryologen später so berühmt gewordenen Dr. Caspar Friedrich Wolf, der von Cothenius beauftragt worden war, den Lazarethchirurgen die Anatomie vorzutragen und die praktischen Uebungen in derselben zu leiten. Nach erfolgtem Frieden 1763 und mit der Aufhebung der Lazarethe wurden die meisten Chirurgen und auch M. entlassen. Um sein Leben in Berlin zu fristen, verkaufte er seine Hefte über Anatomie an begüterte Chirurgen, lehrte die Osteologie für Geld, mußte am Ende aber doch wieder zur Barbierstube seine Zuflucht nehmen, besuchte indessen auch Vorlesungen über Physiologie, Physik, Chirurgie etc. 1764 wurde er, wie früher in Breslau, Famulus bei Dr. Wolf und hörte zwei Jahre lang dessen Vorlesungen über Physiologie, Logik etc., wurde 1765 zum Compagniechirurgus bei einem Regiment in Berlin, 1767 in Potsdam ernannt, wo er, zusammen mit dem nachherigen Professor Voitus eifrig studirte und die Lücken in seiner Erziehung auszufüllen suchte. 1772 wurde er zum Pensionärchirurgus ernannt, kam nach Berlin und hatte daselbst Gelegenheit seine Studien fortzusetzen, wurde 1775 „vorstehender Wundarzt“ in der Charité, wo er ein Jahr lang unter Muzelius und Henckel innerliche und äußerliche Kranke behandelte und auch Geburtshülfe trieb und, wie er selbst sagt, seine praktischen Kenntnisse als Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer begründete. 1776 wurde er zum Regimentschirurgus bei einem Regimente zu Bielefeld in Westfalen ernannt, machte 1778 den bairischen Erbfolgekrieg mit, in welchem er vielfach Ruhr- und Typhuskranke zu behandeln hatte. Seine dabei und bei einer bösartigen Ruhrepidemie in Westfalen, namentlich in Herford, gemachten Erfahrungen veröffentlichte er in seiner ersten Schrift „Beobachtungen über die Ruhr und die Faulfieber“, Berlin 1780; 2. Aufl 1782. Auch gab er um dieselbe Zeit seine „Medicinisch-chirurgischen Beobachtungen, nebst einigen Anmerkungen darüber“, zwei Sammlungen. Berlin 1782, 1783; 2. Aufl. 1796 heraus, bald darauf auch seine „Abhandlung von den Krankheiten der Schwangern, Säuglinge, Gebärenden, Wöchnerinnen und Nothlager“, 2 Thle., Berlin 1784. 1786; 2. Aufl. 1792. Im October 1786 wurde er zu einem Regiment in Berlin versetzt, 1787, nach dem Tode seines Freundes Voitus zum wirklichen Generalchirurgus und einige Monate darauf zum Professor der Chirurgie ernannt, welche Stellung er mit einer Rede „Schilderung eines Wundarztes in einer bei seiner Einführung ins Lehramt auf dem öffentlichen Hörsaal gehaltenen Rede“. Berlin 1787, antrat. Einige Jahre später schrieb er zur Abwehr „Berichtigung des Sendschreibens des Herrn Hofrath Hagen in Berlin an den Herrn Hofrath Stark zu Jena, über zwei schwere Geburtsfälle. Zur Erforschung der Wahrheit“, Berlin 1791. Nach dem Feldzuge in Polen, den er 1795 mitmachte, publicirte er seine „Neue medicinisch-chirurgischen Beobachtungen“. Berlin 1796, in welchen alles Wichtige, was ihm in jenem Kriege vorkam, enthalten ist. Als nach dem 1797 erfolgten Tode des Generalchirurgus Theden dessen Stelle als Chef des preußischen Militärsanitätswesens Görcke zu Theil ward, fühlte sich M., der die gerechtesten Ansprüche auf diese Stellung zu haben glaubte, sehr zurückgesetzt und konnte es erst nach und nach verwinden. 1798 erhielt er von der Universität Jena das Doctordiplom und 1799 wurde ihm von der Wiener Josephsakademie der zweite Preis, in einer goldenen Medaille bestehend, für seine „Abhandlung über die Durchbohrung des Schädels“, Wien 1800, 4° zuerkannt und er zugleich zum Mitgliede der Akademie ernannt. [83] Im Jahre 1801 begann M. ein eigenes „Journal für Chirurgie, Arzneykunde und Geburtshülfe“ (5 Bde., 1801–1815) herauszugeben, welches durch die Kriegsereignisse von 1806 und 1807 eine Unterbrechung erfuhr, später aber wieder fortgesetzt wurde und eine sehr große Menge werthvoller Beiträge von M. selbst aus dem Gebiete der Chirurgie und Geburtshülfe enthält. Außerdem hatte er auch für andere Zeitschriften, wie Stark’s Archiv für die Geburtshülfe (Bd. V, 1793), Arnemann’s Magazin der Wundarzneikunst, Loder’s Magazin der Chirurgie, eine Anzahl von Aufsätzen über verwandte Gegenstände geliefert. In den Jahren 1804, 1809 und 1811 hielt er an dem Stiftungstage der medicinisch-chirurgischen Pepiniere, bei welcher er Professor war, die folgenden drei Festreden: „Rede über die Geschichte der preußischen Chirurgie im 18. Jahrhundert“, Berlin 1804, „Ueber die Vereinigung der Chirurgie mit der Medicin“, Berlin 1809 und „Rede über die alte und neue Chirurgie“. Im Jahr 1805 wurde M. mit der Hauptarmee unter dem Befehl des Herzogs von Braunschweig nach Westfalen geschickt und folgte 1806 dem Heere ins Feld, richtete in Halle und Erfurt Lazarethe ein und hatte nach der unglücklichen Schlacht bei Jena in Magdeburg eine große Zahl von Verwundeten, Preußen und Franzosen, zu behandeln. Nach Berlin zurückgekehrt, nahm er sich der französischen Lazarethe an, übernahm auch zugleich sein Lehramt wieder, sowie die Direction in der Charité, in welcher 600 französische Kranke lagen. Bald nachher richtete er auch ein Lazareth für die preußischen Kranken und Verwundeten ein und wirkte mit allen Kräften sowohl in den Lazarethen, wie in der Stadt und auch als Lehrer. 1809 wurde er bei der bedeutenden Verringerung der Armee mit Pension in den Ruhestand versetzt, jedoch mit Beibehaltung seiner Aemter als Professor der Chirurgie und als dirigirender Wundarzt in der Charité, wurde 1810 Mitglied der wissenschaftlichen Deputation für die Medicinalangelegenheiten und in demselben Jahr bei der an Stelle des 1809 aufgehobenen Collegium medico-chirurgicum neu errichteten Lehranstalt, der medicinisch-chirurgischen Militärakademie wieder in volle Thätigkeit versetzt. Im J. 1811 wurde sein 50jähriges Dienstjubiläum auf das Glänzendste gefeiert. An dem ruhmvollen Befreiungskampf von 1813–14 Theil zu nehmen hinderte ihn sein hohes Alter, aber nichtsdestoweniger leistete er dem Vaterlande durch seine Behandlung der nach Berlin gebrachten verwundeten Krieger die ersprießlichsten Dienste und wirkte auch weiter noch rastlos, mit voller Geisteskraft und unermüdlicher Thätigkeit als Lehrer, bis ihn 1818 Altersschwäche nöthigte, seine Stelle als dirigirender Wundarzt in der Charité niederzulegen und 1820 auch seine Vorlesungen einzustellen. Er starb am 18. Mai 1823, im Alter von 89 Jahren. – M. war ein Mann, der, bei einer sehr dauerhaften Gesundheit, sich bis ins hohe Alter eine gewisse jugendliche Munterkeit erhalten hatte. Dabei besaß er Energie des Charakters und war von unwandelbarer Rechtlich- und Ehrenhaftigkeit. Bei seiner bis in ein hohes Alter ungeschwächten Geistes- und Körperkraft war er weit über die gewöhnliche Grenze einer derartigen Thätigkeit hinaus ein geschickter und tüchtiger Operateur und Accoucheur. Besonders glücklich war er in seinen Staaroperationen gewesen, die er in 40 Jahren durch Extraction 908mal verrichtet hat, von welchen Operationen nur 41 völlig verunglückt sind. Während er auch ein eifriger und anregender Lehrer war, bekämpfte er den zu Anfang dieses Jahrhunderts durch die Angriffe Röschlaub’s gegen die Chirurgen sich breit machenden Brownianismus, den er, eben so wie Loder in derber Weise, aber mit Ruhe und Würde abfertigte. Er gehört zu derjenigen Classe der im vorigen Jahrhundert nicht seltenen Chirurgen, welche ohne gelehrte Vorbildung von Hause aus, als Autodidacten sich einen geachteten Namen in der Wissenschaft zu machen verstanden, indem ihr gesunder Menschenverstand und die [84] nüchterne Beobachtung, verbunden mit nicht gewöhnlicher operativer Geschicklichkeit, Thätigkeit und Energie sie zu den tüchtigsten Chirurgen ihrer Zeit machten.

Vgl. Ch. L. Mursinna, der Jubelgreis. Ein Andenken des 5. März 1811 für seine Freunde und Verehrer, Berlin. – Neuer Nekrolog der Deutschen, Jahrg. 1823. II, S. 443.